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04 2008

Die vielen Gesichter des „Civis“

Ist BürgerInnenschaft übersetzbar?

Stefan Nowotny

I.

Der französische Linguist Emile Benveniste veröffentlichte 1970 einen Artikel mit dem Titel „Deux modèles linguistiques de la cité“[1]. Der Text diskutiert die Bedeutung des französischen Wortes cité, die ins Englische oder Deutsche einigermaßen schwierig zu übersetzen ist, scheint sie doch zwischen „city“ bzw. „Stadt“ einerseits und „citizenry“ bzw. „BürgerInnenschaft“ (im Sinne eines bestehenden politischen Gemeinwesens) andererseits zu oszillieren. Auffällig dabei ist von allem Anfang an, dass der französische Sprachgebrauch für die konkrete Stadt das Wort ville bevorzugt, während cité, soweit der Begriff auf empirische Gegebenheiten Anwendung findet, seit etwa dem Spätmittelalter historische Stadtzentren bezeichnet, seit Mitte des 19. Jahrhunderts jedoch vermehrt auf jene Vorstadtsiedlungen (cités de banlieue) bezogen wird, die von ArbeiterInnen sowie, im heutigen Frankreich, häufig von MigrantInnen und deren Nachkommen bewohnt werden. Wo sich die Übersetzung von cité mit „Stadt“ nahelegt, ist an den explizit politischen Sinn dieses Wortes zu denken – an jenen politischen Raum par excellence, der in der politischen Philosophie zumeist unter Verweis auf die griechische Polis zum Thema wird.

Sprachlich indessen scheint cité zunächst auf das lateinische Wort civitas zu verweisen, welches seinerseits ein abstraktes Nomen darstellt, das sich von civis ableitet und durch Hinzufügung des Suffix -tas gebildet wird. Um civitas – und in der Folge cité – zu verstehen, sollte es also ausreichen, die präzise Bedeutung von civis zu erfassen, das üblicherweise mit „citoyen“, „citizen“ bzw. „Bürger“ übersetzt wird. Genau an diesem Punkt jedoch werden die Dinge ein wenig komplizierter. Mit den Worten Benvenistes: „Die Übersetzung von civis durch ‚citoyen’ ist ein faktischer Irrtum, sie bildet einen jener konzeptuellen Anachronismen, die durch den Gebrauch festgeschrieben werden, von denen man am Ende keinerlei Bewusstsein mehr hat, und die die Interpretation eines ganzen Ensembles von Beziehungen blockieren.“[2]

Worin besteht das Problem einer Übersetzung von civis durch „citoyen“ („citizen“, „Bürger“)? Und welches „Ensemble von Beziehungen“ wird durch diese Übersetzung verdeckt? Zuerst gilt es zu sehen, dass die Übersetzung von civis durch „citoyen“ einen flagranten logischen Fehler enthält: Das Wort citoyen impliziert, wie Benveniste ausführt, „eine Bezugnahme auf eine cité“ bzw. deren vermeintliche lateinische Entsprechung civitas; es legt somit nahe, dass die civitas eine vorweg gegebene wirkliche oder symbolische Einheit bildet, in Bezug auf welche ein civis als civis verstanden werden kann. Eine solche Interpretation stellt indessen ganz offensichtlich die Dinge auf den Kopf, denn im Unterschied zum Französischen „bildet im Lateinischen civis den primären Terminus und civitas die Ableitung“[3]. Die Frage, die es also zu stellen gilt, ist vielmehr die folgende: Wie können wir einen civis denken, ohne eine Bezugnahme auf eine vorgelagerte politische Entität oder Institution welcher Art auch immer vorauszusetzen – mithin ohne eine Bezugnahme vorauszusetzen, die eine dem linguistischen Befund zuwiderlaufende Parallelisierung des abgeleiteten abstrakten Nomens civitas bzw. seiner Beziehung zum zugrunde liegenden Wort civis mit der Relation zwischen cité und citoyen gestatten würde?

Wir haben es hier mit mehr als bloß einem logischen Paradox zu tun. Tatsächlich verweist das Problem auf eine weithin ausgeblendete historische Bedeutung von civis, oder jedenfalls auf eine Bedeutung, die in Wörterbüchern gewöhnlich erst als zweiter oder dritter Eintrag Erwähnung findet. Nichtsdestoweniger streicht Benveniste hervor, dass sich ihr ein entscheidender Hinweis auf die primäre Bedeutung des Wortes entnehmen lässt: Im Lateinischen wird das Wort civis häufig gemeinsam mit einem Possessivpronomen verwendet, beispielsweise in Wendungen wie civis meus oder cives nostri. Erneut sehen wir uns gezwungen, die übliche Übersetzung mit „citoyen“ („citizen“, „Bürger“) grundlegend in Frage zu stellen. Denn was sollte „mein Bürger“, ausgesprochen von einer beliebigen Person, auch bedeuten? „Die Konstruktion mit dem Possessivum“, so lautet Benvenistes Schlussfolgerung, „enthüllt tatsächlich die wahre Bedeutung von civis, das einen Terminus von reziprokem Wert und keine objektive Designation bildet: Civis ist für mich derjenige, dessen civis ich bin.“[4]

Es ist keineswegs einfach, in modernen europäischen Sprachen einen „äquivalenten“ Ausdruck für diese Bedeutung zu finden. Benveniste zufolge wäre die beste Annäherung daran im Französischen der Term concitoyen, also „co-citizen“ oder „Mit-Bürger“, der allerdings, um civis tatsächlich zu entsprechen, im strengen Sinn einer wechselseitigen Beziehung zu verstehen wäre und nicht im Sinne irgendeiner Art von gemeinsamer Referenz oder Zugehörigkeit zu einer vorweg gegebenen civitas. Alles liegt also daran, im Zuge einer solchen Übersetzung den Akzent auf das „con-“, das „co-“, das „Mit-“ zu legen, von dem her sich erst die Bedeutungshorizonte der Wortkomponenten „-citoyen“, „-citizen“ bzw. „-Bürger“ erschließen lassen, und zwar als durchaus unselbständige, denn es gibt keine Bedeutung dieser Wörter, die sich abseits der durch das „con-“ angezeigten Relationalität angeben ließe. Es ist zudem nicht der unwichtigste Aspekt von Benvenistes Darstellung, dass sich dadurch auch die Bedeutung von Kategorien verschiebt, deren Funktion es nach üblicher Auffassung ist, einen civis zu „identifizieren“, im Sinne dessen, was etwa als „bürgerliche Identität“ verstanden wird: „Man ist civis eines anderen civis, bevor man civis einer bestimmten Stadt ist. In civis Romanus fügt das Adjektiv lediglich einen lokalisierenden Hinweis hinzu, nicht eine Statusdefinition.“[5]

Nun lässt sich auch genauer benennen, worin – über die rein linguistischen Ableitungsverhältnisse hinausweisend – das „ganze Ensemble von Beziehungen“ besteht, das durch die Übersetzung von civis mit „citoyen“ oder „Bürger“ verdeckt wird. Es handelt sich um nichts anderes als um die Beziehungen zwischen cives und folglich um eben jene Art von Beziehungen, die einen civis als civis konstituieren oder, um präzise zu sein sowie angesichts der Tatsache, dass wegen der grundlegenden Reziprozität dieser Art von Beziehungen ein einzelner civis gar nicht vorstellbar ist, die cives als cives konstituieren. Wenn vor diesem Hintergrund das abstrakte Nomen civitas als „Ensemble von cives[6] begriffen werden kann, so hätten wir konsequenterweise jegliches Verständnis des Wortes „Ensemble“ zu vermeiden, das den Sinn einer mit sich selbst identischen Totalität nahelegen würde; vielmehr wäre unvermeidlich von einer irreduziblen Pluralität von „concitoyens“ oder „Mit-BürgerInnen“ auszugehen, von einer Pluralität, die im Übrigen keineswegs durch die bloße Anzahl von cives bestimmt wäre, sondern durch genau jene Beziehungen und Wechselbeziehungen, die diese cives miteinander unterhalten. In gleicher Weise wäre auch das Adjektiv civilis zu überdenken und als strikt relationaler Term zu verstehen, der sich, wie Benveniste es formuliert, auf das bezieht, „was zwischen cives statthat“. Das linguistische Modell der lateinischen Wörter civis/civitas/civilis ließe sich mithin als ein Modell verstehen, das eine weitreichende Neuüberprüfung von Fragen der BürgerInnenschaft (im Spannungsfeld der Bedeutungen dieses Begriffs als Rechtsstatus einerseits sowie als irreduzible Pluralität von Mit-BürgerInnen andererseits), der „Stadt“ bzw. cité als eines politischen Raums oder auch etwa der sogenannten „Zivilgesellschaft“ anzuregen geeignet wäre; ein Modell, dass seinen Ausgang nicht von einem immer schon institutionalisierten politischen Raum nimmt, sondern von einer unhintergehbaren Relationalität.

Es sollte dabei jedoch nicht übersehen werden, dass dieses lateinische Modell im europäischen Kontext nur eines von zwei klassischen linguistischen Modellen in Bezug auf die aufgeworfenen Fragen darstellt: Ihm steht das griechische Modell gegenüber, das pólis als primären Term ansetzt, von dem polítēs („Bürger“) oder das Adjektiv politikós Derivate bilden. Der polítēs erscheint dabei, im Gegensatz zum civis, als „‚derjenige, der an der pólis teilhat’, derjenige, der die Pflichten und Rechte seiner Stellung [condition] auf sich nimmt“[7]. Diesem griechischen Modell entsprechend werden in modernen europäischen Sprachen „citoyen“ von „cité“, „citizen“ von „city“ oder aber das deutsche Wort „(Staats-)Bürger“ von „Burg“ abgeleitet.

Die im Deutschen anzutreffende doppelte Referenz auf „Burg“ einerseits und „Staat“ andererseits lässt sich im Übrigen nicht nur als merkwürdiges Amalgam aus vormodernen und modernen Referenzgrößen ausdeuten, das beispielsweise die Funktion übernehmen kann, den citoyen vom bourgeois, also den „Bürger“ als juridisch-politische Größe (und Angehörigen eines bestimmten Staates) vom „Bürger“ als soziale Figur (und Angehörigen einer bestimmten Klasse) abzugrenzen. „Burg“ wäre auch eine der möglichen Übersetzungen des griechischen Wortes pólis, das laut Benveniste zunächst, noch bevor eine „Politik“ ihren Namen von ihm ableiten sollte, „Festung“ oder „Zitadelle“ bedeutete: „Es handelt sich […] um einen alten indoeuropäischen Term, der im Griechischen – und nur im Griechischen – die Bedeutung von ‚Stadt’ [‚ville, cité’] und später ‚Staat’ angenommen hat.“[8] – Abgesehen einmal von der Frage, welche Elemente dieser alten Bedeutung von pólis sich in den linguistischen Formen moderner Sprachen konserviert haben mögen, kann zweifellos der Streit um die „Festung Europa“ als eines der jüngsten Beispiele für ihre diskursive Wiederbelebung gelten.

 
II.

Im März 1997 verlas der französische Philosoph Etienne Balibar anlässlich eines Treffens, das als Akt der Solidarisierung mit den Forderungen der „Sans-Papiers de Saint-Bernard“ organisiert worden war, einen kurzen Text. Die Sans-Papiers von Saint-Bernard waren eine Gruppe von ImmigrantInnen ohne Papiere, die 1996 in der Pariser Saint-Bernard-Kirche in den Hungerstreik getreten waren, um ihrer Forderung nach Legalisierung Nachdruck zu verleihen; im August desselben Jahres waren sie aus der Kirche verjagt und später, jedenfalls zum größten Teil, dazu gezwungen worden, das Land zu verlassen. Balibars Text mit dem Titel „Ce que nous devons aux ‚Sans-Papiers’“ („Was wir den ‚Sans-Papiers’ schulden“) beginnt mit der Erklärung: „Wir, französische BürgerInnen jeden Geschlechts, jeder Herkunft, jeden Berufs stehen zutiefst in der Schuld der ‚Sans-Papiers’, die die Frage nach dem Recht auf Aufenthalt kraftvoll gestellt haben, indem sie die ‚Klandestinität’, die ihnen zugeschrieben wurde, zurückwiesen.“[9]

Was ist es, das „wir“[10] den „Sans-Papiers“ schulden? – Balibar spricht von einer „dreifachen Demonstration“: Der erste Teil dieser dreifachen Demonstration besteht in der Tatsache, dass die Sans-Papiers von Saint-Bernard „die Barrieren der Kommunikation niedergerissen haben“, indem sie sich selbst Sichtbarkeit und Gehör verschafft haben, und zwar „für das, was sie sind: keine Phantasmen von Delinquenz und Invasion, sondern ArbeiterInnen, Familien, die zugleich von hier und von anderswo sind, mit ihren Partikularismen und der Universalität ihrer Lebensbedingung als moderne ProletariarInnen“[11]. Kurz: Es geht in dieser ersten Demonstration um die Erlangung von Sichtbarkeit, um das Insistieren auf dem Recht zu sprechen sowie um die Bestreitung der bestehenden Stereotype, die durch Medien und herrschende Migrationsdiskurse verbreitet werden. Dieser Kampf um Sichtbarkeit und das Recht zu sprechen berührt einige zentrale Themen des demokratischen Lebens. „Dies“, schreibt Balibar, „lässt uns besser verstehen, was eine Demokratie ist: eine Institution, die der kollektiven Debatte dient, deren Bedingungen aber niemals von oben gegeben sind. Es ist immer notwendig, dass die Beteiligten sich das Recht zu sprechen sowie Sichtbarkeit und Glaubwürdigkeit erobern und dabei das Risiko der Repression auf sich nehmen.“[12] Die Demokratie also, selbst wenn sie gewöhnlich als Staats- oder Regierungsform begriffen wird, kann nicht einfach mit der Realität des einen oder anderen Staates identifiziert werden, sondern sie bedarf konstituierender Praxen „von unten“.

Die zweite Demonstration, die wir Balibar zufolge den Sans-Papiers schulden, besteht darin, dass sie die Mechanismen des institutionellen Rassismus offengelegt haben sowie die politischen Praktiken, auf denen dieser aufbaut: das heißt all die „realpolitischen“ Programme, welche die Notwendigkeiten der Migrationskontrolle oder der Integration der legalen ImmigrantInnen hervorstreichen, all die Diskurse, welche die Gefahren von Unsicherheit, Massenarmut oder Identitätskonflikten heraufbeschwören, all die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen restriktiven Gesetzgebungen und diskriminierenden Ideologien, all die Kompromisse oder stillschweigenden Allianzen mit neofaschistischen politischen Kräften sowie all die politisch-ökonomischen Praktiken der Ausbeutung zugewanderter Arbeitskräfte – all das also, was in der Tat der Produktion jenes „Regimes der Illegalität“ zugearbeitet hat, das die Situation der Sans-Papiers bestimmt, ohne dass diesen auch nur ein Minimum an zivilen Rechten zugesichert worden wäre. Angesichts dieser politischen und institutionellen Rassismen erweist sich der Kampf der Sans-Papiers um Sichtbarkeit und das Recht zu sprechen als unmittelbarer Akt des Widerstands, der als eine Art von Wahrheitspolitik verstanden werden könnte, basierend auf den Erfahrungen, Interessen und (Selbst-)Organisationsformen jener, die einem solchen Regime der Illegalität unterworfen sind; eine Wahrheitspolitik, deren Funktion darin liegt, so Balibar, dass die Sans-Papiers „die Wahrheit über die Geschichte und die Bedingung des Menschen retablieren“ und „ihre Interessen der Vermittlung und Verhandlung anbieten“[13].

Die dritte Demonstration, die Balibar erwähnt, besteht schließlich darin, dass die Sans-Papiers von Saint-Bernard (gemeinsam mit anderen Gruppen von Sans-Papiers) „die BürgerInnenschaft unter uns neu geschaffen haben, insofern diese keine Institution und auch kein Status ist, sondern eine kollektive Praxis“[14]. Spätestens an diesem Punkt sehen wir uns ganz offensichtlich zurückverwiesen auf das lateinische linguistische Modell von civis/civitas, das ich oben vorgestellt habe: Genau dort, wo sich zeigt, wie Balibar sagt, „dass es nicht notwendig ist, der Nation anzugehören, um einen verantwortlichen Beitrag zum Leben der ‚cite’ zu leisten“, kommt eine „Neuerschaffung“ der BürgerInnenschaft in den Blick, die nicht auf irgendeiner Art von Zugehörigkeit zu einem politischen Organismus, wie etwa einem Staat, beruht, sondern auf kollektiven Praxen, die die schiere Idee der (Staats-)Bürgerschaft herausfordern, indem sie soziale Verbindungen diesseits jeglicher Institution hervorbringen. Und Balibar lässt keinen Zweifel daran, dass eine solche Neuerschaffung der BürgerInnenschaft nicht nur die unmittelbaren Interessen und Praktiken von Sans-Papiers betrifft – oder vielmehr, dass diese „unmittelbaren“ Interessen und Praktiken aufs Engste mit einer allgemeineren Frage unserer Zeit verknüpft sind: „[Die Sans-Papiers] haben […] dazu beitragen, der politischen Tätigkeit jene transnationale Dimension zu verleihen, deren wir so sehr bedürfen, um die Perspektiven der sozialen Veränderung und der Transformation von Zivilität im Zeitalter der Globalisierung zu öffnen.“[15]

 
III.

Warum montiere ich diese beiden kurzen Texte in dieser Form? – Sicherlich nicht, wie es die Benveniste’sche Rhetorik nahelegen könnte, um irgendeinem verschütteten Ursprung des Wortes civis nachzuspüren, auf dessen Basis eine „eigentliche“ Bedeutung der BürgerInnenschaft umrissen werden könnte, die sich dann wiederum auf gegenwärtige soziale Konflikte und politische Kämpfe ohne Umschweife „anwenden“ ließe. Auffällig ist vielmehr bereits an Benvenistes Text, dass sich hier ein Autor, dessen linguistisches Werk in hohem Maße von der Anstrengung geprägt ist, „wahre“ und „ursprüngliche“ Bedeutungen auf etymologischem Wege zu rekonstruieren, dazu genötigt findet, zwei linguistische Modelle zu diskutieren, die für den modernen Wort- und Begriffskomplex cité/citoyen/citoyenneté oder Stadt/BürgerIn/BürgerInnenschaft relevant bleiben. Und wenn es auch eine verschüttete Bedeutung des lateinischen Wortes civis ist, auf die Benveniste in dem zitierten Text primär den Fokus richtet, so kann diese Bedeutung – jedenfalls sofern es um eine Analyse moderner politischer Sprachen geht – doch keinesfalls als „ursprünglich“ gelten: Ihr steht nicht nur ein alternatives antikes Modell gegenüber, sondern vor allem auch die Geschichte einer Sprachentwicklung, in die zumindest die beiden genannten Modelle involviert sind und die eine eigene Reflexion herausfordert.

Gerade die Frage der Sprachentwicklung hat Benveniste in seinem Opus magnum Le vocabulaire des institutions indo-européennes an die Annahme gebunden, dass die Heterogenität sprachlicher Formen letztendlich bis zu ihrem Ausgangspunkt in „ein und demselben Original“[16] zurückverfolgt werden kann und zurückverfolgt werden muss. Diese „Originalizität“ der sprachlichen Formen ist es auch, die Benveniste linguistische Fragen mit solchen der „Institution“ (in einem „erweiterten Sinn“, der sich bis zu den Lebensformen, sozialen Beziehungen und Denkprozessen im Allgemeinen hin erstreckt[17]) zur Deckung zu bringen erlaubt. Die Kongruenz der beiden Ebenen, also der sprachlichen und der institutionellen Ebene, findet sich bei Benveniste in einer interessanten Formulierung schließlich auch ganz unmittelbar als Voraussetzung in Bezug auf die Frage der jeweiligen geschichtlichen Entwicklungen: „Wir haben uns zu zeigen bemüht, wie Vokabeln, die zunächst wenig differenziert waren, nach und nach spezialisierte Werte angenommen haben und somit Ensembles bilden, die eine tiefgreifende Entwicklung der Institutionen, das Auftauchen neuer Aktivitäten oder Konzeptionen zum Ausdruck bringen.“[18]

Das Wort, das ich hier mit „zum Ausdruck bringen“ übersetzt habe, lautet im französischen Text traduire (im Zitat in der Form „traduisant“). Es wäre wörtlich üblicherweise mit „übersetzen“ wiederzugeben. Doch auch die Übersetzung von Wörtern für „übersetzen“ ist nicht immer eindeutig, denn der französische Sprachgebrauch rückt die Bedeutung von traduire häufig in die Nähe von exprimer, „ausdrücken“ oder „zum Ausdruck bringen“. Und selbst wenn man traduire im angeführten Zitat mit „übersetzen“ wiedergeben wollte, so änderte dies doch wenig am Aussagegehalt von Benvenistes Satz, bliebe doch jede „Übersetzung“ der Entwicklung der Institutionen durch die Entwicklung der Sprache für Benveniste zurückgebunden an „wenig differenzierte“ Originale. Wie aber, wenn es nicht je ein Original gäbe, das einem bestimmten sprachlich-institutionellen „Ensemble“ zugrunde liegt, wie etwa im Falle von civis/civitas bzw. pólis/polítēs?[19] – Benvenistes Überlegungen schreiben sich an dieser Stelle (und dies ist umso merkwürdiger, als Benvenistes eigene Forschungen zur Frage der énonciation, der Äußerung bzw. des Aussageakts, ganz andere Wege beschritten haben) in eine Tradition ein, die letztlich sowohl das Problem des Ausdrucks als auch jenes der Übersetzung in einer fixierbaren Bedeutung verankern. Dieser Tradition zufolge ist es jederzeit eine vorgelagerte Bedeutung, die „zum Ausdruck gebracht“ oder „übersetzt“ wird. Die solcherart angesetzte Bedeutung steckt einen Bezirk ab, der von Ausdruck und Übersetzung nicht nur vorausgesetzt wird, sondern diesen auch äußerlich und in gewissem Maße unerreichbar bleibt.

Wir können dem zunächst den folgenden Satz Walter Benjamins entgegenhalten, dessen Überzeugung es war, dass der „Begriff der Übersetzung in der tiefsten Schicht der Sprachtheorie zu begründen“ sei: „Kontinua der Verwandlung, nicht abstrakte Gleichheits- und Ähnlichkeitsbezirke durchmisst die Übersetzung.“[20] Eine solche Perspektive lässt der Reduktion der Übersetzung auf die Wiedergabe vorgelagerter Bedeutungen keine Chance. Und Benjamin war nicht der Einzige, der sie eröffnet hat. Die Idee, dass nicht die Übersetzung in der Bedeutung, sondern vielmehr die Bedeutung in Praxen der Übersetzung gründe, hat innerhalb der linguistischen Wissenschaften vor allem Roman Jakobson in aller Klarheit formuliert: „Für uns als Sprachwissenschaftler wie als ganz gewöhnliche Wortbenutzer ist die Bedeutung jedes sprachlichen Zeichens seine Übersetzung in ein anderes, alternatives Zeichen […].“[21] Jakobsons Ansatz überführt gleichsam den Idealismus der Bedeutungen in eine Theorie des praktischen Sprachvermögens. Und weil das Vermögen der Übersetzung so etwas wie Bedeutungen allererst konstituiert, führt Jakobson auch nicht die Übersetzung zwischen verschiedenen bestehenden Sprachsystemen als erste Art der Übersetzung an, sondern das, was er als „innersprachliche Übersetzung oder Paraphrase“ bezeichnet: die „Wiedergabe sprachlicher Zeichen mittels anderer Zeichen derselben Sprache“[22].

Wir sollten indessen nicht voreilig die innersprachliche Übersetzung als „Grundlage“ der anderen beiden Arten von Übersetzung, die Jakobson nennt, ansehen, nämlich der zwischensprachlichen Übersetzung und der intersemiotischen Übersetzung (also der Übersetzung zwischen unterschiedlichen, z. B. wortsprachlichen und bildsprachlichen Zeichensystemen) – so als wäre alle Übersetzung zuletzt eine bloße Aktualisierung von wenn nicht gegebenen Bedeutungen, so doch einem vorweg bestehenden Zeichensystem.[23] Übersetzen ließe sich viel eher, um es formelhaft zu sagen, als Aktualisierung eines Vermögens verstehen, das zugleich eine Virtualisierung sprachlicher Formen bewirkt, die deren Bedeutungspotenzen ebenso öffnet wie ihre kontextuelle Konkretisierung. Ich spreche explizit von einer Öffnung – nicht etwa von einer „Realisierung“ – von Bedeutungspotenzen und kontextuellen Konkretisierungen, denn genau darauf verweist der Begriff des Virtuellen: Sicherlich ist jede Virtualisierung in sich eine Art der Aktualisierung, doch es geht in ihr nicht einfach um die Umsetzung vorgegebener Möglichkeiten, so als sei das Mögliche nichts anderes als „ein steriles Doppel des Wirklichen“[24], das der Küsse harrt, die es in die nicht weniger sterile Existenz rufen. Weder gibt es, in letzter Konsequenz, einen vorgefassten Pool von Bedeutungen noch auch einen vorgelagerten Pool von sprachlichen Formen (oder gar einen durch die sprachlichen Formen spukenden „Volksgeist“). Und ebenso wenig lässt sich die Vielheit sprachlicher qua übersetzerischer Aktualisierungen auf ein vorab definiertes Feld „möglicher“ kontextueller Konkretisierungen eingrenzen. Genau darum kann Benjamin sagen, dass die Frage der Übersetzung „in der tiefsten Schicht der Sprachtheorie“ zu begründen sei: Übersetzung „gibt“ keine ihr vorgelagerte Schicht „wieder“, sondern sie durchmisst virtuelle Kontinua. Strenggenommen lässt sich von einer „Virtualisierung“ auch nur in Bezug auf die vermeintliche Stabilität von sprachlichen Formen und Bedeutungen sprechen, die im Übersetzungsakt gleichsam destabilisiert werden. Doch diese Stabilität ist kein Erstes, sie ist das Produkt einer nachträglichen Stratifizierung, die unterschiedliche sprachliche Niveaus und Sprachen voneinander abzugrenzen erlaubt, um in den dergestalt „gewonnenen“ Schichten und Bezirken Gleichheiten oder Ähnlichkeiten verzeichnen zu können.

Diesen Zusammenhang hat, in anderen Begrifflichkeiten, vor allem Valentin Vološinov [Michail Bachtin] in seinem Buch Marxismus und Sprachphilosophie[25] aus dem Jahr 1930 an einer seiner alltäglichsten sprachpraktischen Manifestationen zur Geltung gebracht: dem Gespräch. Die Repliken in einem Gespräch sind, um Vološinovs [Bachtins] Ausführungen in die Terminologie Jakobsons zu übertragen, jederzeit auf die Fähigkeit zur Paraphrase angewiesen – und dasselbe lässt sich bereits für das Verstehen einer Rede sagen:

 „Auf diese Weise übersetzen wir jedes gesonderte Sinnelement einer Äußerung ebenso wie die Äußerung als Ganzes in einen anderen aktiv antwortenden Kontext. Jedes Verstehen ist dialogisch. Das Verstehen steht der Äußerung gegenüber wie eine Replik des Anderen im Dialog. Das Verstehen sucht für das Wort des Sprechenden ein Gegenwort. Nur das Verstehen des fremdsprachigen Wortes sucht in der eigenen Sprache das ‚gleiche’ Wort.“[26]

Es mag den Anschein haben, als nehme der letzte Satz des Zitats eine signifikante Einschränkung der Dialogizitätsthese vor, und zwar dort, wo es um Verstehens- und Übersetzungsprozesse aus einer „fremden Sprache“ geht. Doch dies ist nur auf den ersten Blick der Fall, denn Vološinov [Bachtin] ist sorgfältig genug, um das Wort „gleiche“ in Anführungszeichen zu setzen. Wie er in einer früheren Passage bereits ausgeführt hat, kann es eine solche Gleichheit strenggenommen gar nicht geben, und zwar weder als Gleichheit der Entsprechung im zwischensprachlichen Übersetzungsprozess noch auch als innersprachliche „Mit-sich-selbst-Gleichheit“ eines Wortes: „Eigentlich ist das Wort ein zweiseitiger Akt. Es wird in gleicher Weise dadurch bestimmt, von wem es ist, als auch, für wen es ist. Es ist, als Wort, genau das Produkt der Interaktion von Sprechendem und Zuhörendem.“[27] Dass das Verstehen des fremdsprachigen Wortes nach dem „gleichen“ Wort suchen mag, impliziert also letztlich eine bestimmte Überlagerung der sprachlichen Interaktion durch die Konstruktion in sich homogener Sprachen (z. B. Nationalsprachen) sowie standardisierter Differenzen, die Gleichheits- und Korrespondenzverhältnisse zu etablieren erlaubt.

Nicht von ungefähr erhebt Vološinovs [Bachtins] Sprachphilosophie den Anspruch, zugleich eine Ideologietheorie zu sein. Denn im Gegensatz zu der von Benveniste behaupteten direkten Korrespondenz zwischen Sprachentwicklung und Institutionenentwicklung ist „Ideologie“ hier der Name, der anzeigt, dass das Verhältnis zwischen Sprache und Institutionen ein grundsätzlich offenes ist, das dem Gespräch oder auch dem Streit anvertraut bleibt – dass es aber gleichzeitig überlagert wird durch die Suche nach einem „gleichen“ Wort (bestimmte Haltungen bezüglich der zwischensprachlichen Übersetzung geben hier ein Modell ab), welches das Unbekannte nicht nur in bekannte, wie auch immer „abstrakte Gleichheits- und Ähnlichkeitsbezirke“ (Benjamin) einzuordnen erlaubt, sondern dem vor allem auch der zweifelhafte Vorteil anhaftet, „mit sich selbst“ gleich zu sein und somit eine vermeintlich stabile Bedeutung zu garantieren.

Nach alldem lässt sich Benvenistes Rekonstruktion der beiden linguistischen Modelle, die am – jedenfalls europäischen – Beginn der Auseinandersetzungen um „BürgerInnenschaft“ stehen mögen, kaum noch als eine Erzählung über Ursprünge aufrechterhalten. Eher schon hätten wir zunächst von einem permanenten Prozess sprachlicher Kreuzungen[28] auszugehen, der nicht annähernd nur die Modelle civis/civitas einerseits sowie pólis/polítēs andererseits betrifft, sondern vielmehr an die irreduzible Dialogizität und Vielfalt des Wortes, der Äußerungen, der Verstehens- und Kontextualisierungsprozesse unauflöslich gebunden bleibt. Nichtsdestoweniger bleiben Benvenistes Analysen aufschlussreich, beziehen sie sich doch auf zentrale Momente der Auseinandersetzungen um BürgerInnenschaft, die der Virtualisierung der Sprachen des Politischen durch die Aktualisierung des übersetzerischen Vermögens offenstehen.

 
IV.

Damit ist sprachtheoretisch der Raum umrissen, in dem sich die Solidarisierungsrede Etienne Balibars mit den Sans-Papiers von Saint-Bernard verorten ließe. Balibar virtualisiert die Bedeutung des französischen Wortes citoyen, indem er sich selbst als Teil eines Gesprächs begreift. Der Beginn seiner Rede beschwört ein Verständnis der BürgerIn, das ganz dem griechischen Modell des Verhältnisses von pólis und polítēs verpflichtet scheint, also einer Figur der Zugehörigkeit der BürgerIn zu einem existierenden politischen Gemeinwesen. Doch er formuliert zugleich, und zwar als „Schuld“, den unzureichenden, ungesättigten und somit grundsätzlich offenen Charakter dieses Modells der Zugehörigkeit: „Wir, französische BürgerInnen jeden Geschlechts, jeder Herkunft, jeden Berufs stehen zutiefst in der Schuld der ‚Sans-Papiers’ […].“ Und dieser grundsätzlich offene Charakter findet sich gegen Ende von Balibars Rede noch einmal bestätigt, wenn davon die Rede ist, „dass es nicht notwendig ist, der Nation anzugehören, um einen verantwortlichen Beitrag zum Leben der ‚cité’ zu leisten“. Es ist, also würde Balibar nicht nur einen mit den Modellen der Zugehörigkeit in Konflikt tretenden Sinn von BürgerInnenschaft – im Sinne etwa reziproker Beziehungen zwischen cives – ansprechen, sondern die Reziprozität auch seinerseits demonstrieren wollen, indem er den oben beschriebenen Demonstrationen der Sans-Papiers antwortet.

Doch es gibt ein offensichtliches Problem: Diese Reziprozität ist eine unterbrochene, denn ein Teil der Sans-Papiers von Saint-Bernard, mit denen Balibar das Gespräch aufnimmt, ist zum Zeitpunkt seiner Rede längst abgeschoben. Formulieren wir die zu Ende gedachte Konsequenz einer solchen unterbrochenen Reziprozität: Zurück bleibt ein Monolog, der wohl ein Dialog sein möchte, der sich aber zuletzt darauf verwiesen sieht, die Bedeutung dessen, was die nunmehr abwesenden GesprächspartnerInnen „demonstriert“ haben, zu fixieren, anstatt sie zu virtualisieren (ist doch die Virtualisierung, nach dem oben Ausgeführten, weniger eine Frage der Intention einer SprecherIn als vielmehr eine Frage der sprachlichen Interaktion). Eine solche Bedeutungsfixierung findet beispielsweise statt, wenn Balibar davon spricht, die Sans-Papiers von Saint-Bernard hätten sich „für das, was sie sind“, Sichtbarkeit und Gehör verschafft: „keine Phantasmen von Delinquenz und Invasion, sondern ArbeiterInnen, Familien, die zugleich von hier und von anderswo sind, mit ihren Partikularismen und der Universalität ihrer Lebensbedingung als moderne ProletariarInnen“. Die Zurückweisung der „Phantasmen der Delinquenz“ und die Behauptung der „Universalität ihrer Lebensbedingungen als moderne ProletarierInnen“ rahmen Balibars Benennung dessen, „was sie sind“. Nichts gewährleistet jedoch, dass die Qualifizierung der Sans-Papiers als „ProletarierInnen“ nicht selbst ein (europäisches) Phantasma ist; die zersplitterten und ständig von Abschiebung oder Internierung bedrohten Lebensbedingungen sowie die eingeschränkten sozialen und politischen Organisationsmöglichkeiten, die sich daraus ergeben, widerstreiten einer solchen Qualifizierung ebenso wie der Umstand, dass auf Machtergreifung abzielende proletarische Revolutionen vorstellbar sein mögen, kaum jedoch auf Machtergreifung abzielende Revolutionen von Sans-Papiers.[29]

Mehr noch: Die Beurteilung der Delinquenz als reines Phantasma kann gerade jener politischen Kraft entgegenwirken, die der Name „ProletarierInnen“ mit anruft, nämlich der Kraft der Solidarisierung. So verkündete eine vor einigen Jahren in Frankreich veröffentlichte „Deklaration über das Gefängnis“, gezeichnet von den Gruppen bzw. Netzwerken Ouvriers sans papiers und Organisation politique: „Das Gefängnis, das ist etwas für Diebe und Banditen. Leute, die jemanden getötet oder etwas gestohlen haben, werden ins Gefängnis gesteckt, das ist normal. Dass ein Arbeiter, der keine Papiere hat, ebenfalls ins Gefängnis gesteckt wird, an der Seite von Dieben und Banditen, das ist nicht normal. Das ist nicht gerecht.“ Schon der Name „Ouvriers sans papiers“ (Arbeiter ohne Papiere) legt eine bestimmte Unterordnung dessen, was es heißt, ohne Papiere zu leben, unter die vermeintlich fixierte politische Bedeutung der „Arbeiter“ nahe[30], und zwar im Übrigen ausgerechnet dort, wo die Vorenthaltung jeglichen Rechts auf Arbeit zu den alltäglichsten Marginalisierungsmechanismen zählt. Dass nicht zuletzt diese Vorenthaltung von Arbeitsgenehmigungen dazu führt, dass sich so manche Sans-Papiers dazu genötigt sehen, ihr Leben über kleinkriminelle Aktivitäten zu finanzieren, ist den Sätzen der angeführten Deklaration nicht zugänglich. Die zitierten Sätze berufen sich mithin auf eine „Normalität“, die es nicht gibt, es sei denn um den Preis, eine leere Abstraktion der Gefängnisfunktion von dem komplexen Zusammenhang abzuspalten, der zwischen der Gesamtheit juridischer und justizieller Regelungen sowie der Produktion sozialer und individueller Lebensformen besteht. Und diese Abstraktion hat im Effekt einen weiteren Preis: den der Entsolidarisierung zwischen arbeitenden und nicht arbeitenden Sans-Papiers.

Hannah Arendt schrieb eingangs ihres in den letzten Jahren vielzitierten Kapitels „Der Niedergang des Nationalstaats und das Ende der Menschenrechte“[31], das die Situation der Minderheiten und der Staatenlosen in der europäischen Zwischenkriegszeit analysiert, einen Satz, der mir auf die heutige Situation sehr viel besser zuzutreffen scheint als der oftmals voreilige Gebrauch, den man gegenwärtig sonst mitunter von Arendts Ausführungen macht: „Arbeits-, Staaten- oder Heimatlosigkeit, auch wenn Millionen von Menschen von ihnen ergriffen waren, galten als Anomalien in einer ansonsten normalen Welt, mit dem Erfolg, dass Opfer wie Betrachter angesichts der Unmöglichkeit, mit normalen Mitteln die wachsenden Anomalien zu normalisieren, geneigt waren, den Gang der Dinge mit einem ebenso dünkelhaften wie ahnungslosen Zynismus als den normalen Lauf der Welt anzusehen.“[32] Einmal abgesehen von den unmittelbaren Rassismen, Nationalismen und Supranationalismen, die wir tagtäglich am Werk sehen: Wie anders denn als „ebenso dünkelhaften wie ahnungslosen Zynismus“ sollte man es zuletzt auch etwa begreifen, wenn selbst die Umsetzung zentraler Forderungen von Sans-Papiers, wie im Falle der 2005 in Angriff genommenen Legalisierung von ca. 700.000 Sin papeles“ in Spanien, zu nicht mehr führt als einer knapp befristeten Wiederinstandsetzung „rechtsstaatlicher Standards“ – während gleichzeitig ganze Sektoren der Wirtschaft in Spanien, wie etwa der Landwirtschafts- oder der Pflegesektor, strukturell auf den Zustrom neuer entrechteter Arbeitskräfte angewiesen bleibt?

Dass Sans-Papiers Verhältnissen der Ausbeutung unterliegen, heißt jedoch noch nicht, dass sie „ProletarierInnen“ sind. Das spanische Beispiel zeigt vielmehr, dass die im Juridisch-Politischen angesiedelten Auseinandersetzungen um BürgerInnenschaft sich mit einem kapitalistischen Dispositiv in neoliberal-globalisierter Ausformung kreuzen, das seine eigenen abstrakten Gleichheits- und Ähnlichkeitsbezirke markiert und sein eigenes Maß anlegt: Gemäß der „Übersetzung“ von BürgerInnenschaft, die dieses Maß zuwege bringt, können neue – „naturalisierte“ – BürgerInnen grundsätzlich ebenso nützlich sein wie Arbeitskräfte, die außerhalb jeglicher statuierten BürgerInnenschaft angesiedelt sind. Aus diesem Grund erscheint es mir im Übrigen auch als ungenügend, die Frage der BürgerInnenschaft im gegenwärtigen europäischen Kontext an dem Begriffspaar Inklusion/Exklusion zu orientieren, wie dies häufig geschieht. Eine solche Konzeptualisierung ist zu einseitig Modellen der Zugehörigkeit geschuldet, ohne die Frage nach durchkreuzenden Dispositiven, die eine spezifische Verteilung von Inklusionen und Exklusionen vornehmen, wirklich stellen zu können. Der Impuls, der sich Benvenistes Rekonstruktion der Bedeutungshorizonte des lateinischen Wortes civis entnehmen lässt, weist demgegenüber in die Richtung einer unterbrochenen Reziprozität, die sich innerhalb einer irreduziblen Pluralität von „virtuellen“ BürgerInnen einrichtet und ihre Verteilungen etabliert; oder anders gesagt, er weist in die Richtung eines Begriffspaars, das ich meinem Freund und Kollegen Klaus Neundlinger verdanke, nämlich der Unterscheidung zwischen Tauschverhältnissen und Tauschverweigerungen. Es ist eine Tauschverweigerung, die Balibars Solidarisierungsrede mit den Sans-Papiers von Saint-Bernard wider Willen den Anstrich eines Monologs gibt, indem sie die Möglichkeit der dialogischen Übersetzung unterbricht und ihre implizite Adressierung an die Sans-Papiers nur noch als „Schuld“ erscheinen lässt; es sind Tauschverweigerungen, die etwa die gegenwärtigen europäischen Grenzpolitiken regulieren, angesichts deren derselbe Balibar aus guten Gründen eine „Demokratisierung der Grenzen“ fordert; und es ist ebenso eine Tauschverweigerung, die der Erwirtschaftung eines gesellschaftlichen Reichtums unter systematischer Einbeziehung „illegaler“ Arbeitskräfte zugrunde liegt, dessen Umverteilung über restriktive Regimes der statuierten BürgerInnenschaft, der Aufenthalts- und Beschäftigungsrechte unterbrochen wird.

Bei alledem kann es keineswegs als sicher gelten, dass die umfassende Ausweitung einer statuierten BürgerInnenschaft in den uns bekannten Formen überhaupt den Ansatz einer Perspektive darstellt, die den globalisierten Lebensbedingungen von Sans-Papiers entspricht. Wir können noch nicht einmal davon ausgehen, dass Benvenistes Interpretation des Ausdrucks civis Romanus, die in dem Adjektiv „Romanus“ einen „lokalisierenden Hinweis“ erblickt, auf die translokalen Verhältnisse, mit denen wir es heute zu tun haben, noch ungebrochen anwendbar bleibt. Und es ist nicht nur eine Freiheit der Bewegung, die im Zusammenhang mit dieser Translokalität auf dem Spiel steht, sondern ebenso sehr eine Freiheit der Bleibe (in den Ländern des Aufenthalts wie auch in den Herkunftsländern) und eine Freiheit zur Rückkehr. Bewegung, Bleibe, Rückkehr – und wer kann schon sagen, welches das stärkste dieser drei Momente ist? Da aber gerade die Frage der Rückkehr im europäischen Diskurs über Migrationen üblicherweise beinahe ausschließlich einschlägigen Deportationsphantasmen überlassen bleibt, möchte ich hier zum Abschluss die Aussage einer Frau aus der Demokratischen Republik Kongo zitieren, die – und auch daran müssten sich Überlegungen knüpfen – nach langem Aufenthalt in Europa den Namen „Zaire“ für das Land beibehält, das sie als „ihr Land“ bezeichnet:

 „Ich bin aus Zaire, ich lebe seit nunmehr 16 Jahren in Europa (Frankreich, Schweiz und jetzt Belgien). Da ich bei meiner Ankunft Studentin war, habe ich immer eine Aufenthaltskarte für ein Jahr gehabt, die jährlich verlängert werden konnte. Am Ende meiner Studien wurde ich von Frankreich aufgefordert, nach Hause zurückzukehren, was angesichts der chaotischen Lage, die dort seit 1997 herrschte, nicht möglich war. Nun lebe ich seit drei Jahren in Belgien, ich möchte in mein Land zurückkehren, aber nicht ohne dass ich etwas dorthin mitnehmen kann; doch ich kann meinen Beruf nicht ausüben, da ich keine Papiere habe, also habe ich auch kein Geld, und sei es auch nur, um zu leben … – meine Diplome nützen mir gar nichts. Ich habe auch keine Lust, meinen belgischen Freund (seit drei Jahren) zu heiraten, nur um Belgierin zu werden, ich habe schon ein Zuhause: Zaire. Ich würde hier nur gerne arbeiten können, bis ich genügend Ressourcen habe, um wie vorgesehen in mein Land zurückzukehren.“[33]


Besonderer Dank an Birgit Mennel für den intensiven Austausch zum Thema sowie konkrete Hinweise zum Text.



[1] Emile Benveniste, „Deux modèles linguistiques de la cité«, in: Ders., Problèmes de linguistique générale 2, Paris: Gallimard 1974, S. 272–280.

[2] Ebd., S. 273 (nicht anderweitig ausgewiesene Übersetzungen hier und im Weiteren sind von mir, S. N.).

[3] Ebd.

[4] Ebd., S. 274.

[5] Ebd., S. 276.

[6] Ebd.

[7] Ebd., S. 277.

[8] Emile Benveniste, Le vocabulaire des institutions indo-européennes. 1. Economie, parenté, société, Paris: Les Editions de Minuit 1969, S. 367.

[9] E. Balibar, „Ce que nous devons aux ›Sans-Papiers’«, in: Ders., Droit de cité, Paris: Quadrige/P.U.F. 2002 (Erstausgabe 1998), S. 23–25, hier: S. 23.

[10] Ich beziehe mich selbst zunächst in dieses „Wir« mit ein, auch wenn ich nicht mit den Papieren eines „französischen Bürgers« ausgestattet bin. Die Alternative bestünde an dieser Stelle darin, das „Wir« zu vergegenständlichen und eine relative Außenperspektive einzunehmen, zumal eine Diskussion der komplexen Verhältnisse zwischen „französischen BürgerInnen« und „EU-BürgerInnen« mit beispielsweise österreichischen Papieren (dies ist bei mir der Fall) hier nicht möglich ist. Eine solche Geste aber liefe auf eine Ausblendung meiner eigenen „(staats-)bürgerlichen« Involvierungen in das von Balibar ausgesprochene „Wir« hinaus.

[11] Ebd.

[12] Ebd., S. 24.

[13] Ebd.

[14] Ebd., S. 25.

[15] Ebd.

[16] Emile Benveniste, Le vocabulaire des institutions indo-européennes. 1. Écomonie, parenté, société, op.             cit., S. 10.

[17] Vgl. ebd., S. 9.

[18] Ebd., S. 11.

[19] Die Zweizahl der linguistischen Modelle markiert hier nur den Beginn einer offenen Reihe und keineswegs einen dialektisch aufzulösenden Widerspruch; es kann uns unbeeindruckt lassen, wenn eine sich auf Hegel berufende Analyse dies als „schlechte Unendlichkeit« disqualifiziert, geht es doch in unserem Zusammenhang gerade darum, Geschichte und Sprachentwicklung als Bereich der Kontingenzen freizulegen.

[20] Walter Benjamin, „Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen«, in: Gesammelte Schriften, Bd. II.1, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 21991, S. 140–157, hier: S. 151.

[21] Roman Jakobson, „Linguistische Aspekte der Übersetzung«, übers. v. Gabriele Stein, in: Ders., Semiotik. Ausgewählte Texte 1919–1982, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988, S. 481–491, hier: S. 482.

[22] Ebd., S. 483.

[23] Zu Recht hat Naoki Sakai die Dreiteilung Jakobsons mit dem Hinweis kritisiert, dass sie von der Existenz in sich homogener Zeichensysteme ausgehe, deren vermeintliche Homogenität selbst indessen als nachträgliches Resultat bestimmter integrativ-differenzierender Kodifizierungen von Übersetzungspraxen verstanden werden muss; vgl. Naoki Sakai, Translation and Subjectivity. On „Japan« and Cultural Nationalism, Minneapolis: University of Minnesota Press 1997, bes. S. 1–18.

[24] Gilles Deleuze, Bergson, hg. u. übers. v. Martin Weinmann, Hamburg: Junius 1989, S. 124.

[25] Die vollständigen Angaben zur deutschen Ausgabe lauten: Valentin N. Vološinov, Marxismus und Sprachphilosophie. Grundlegende Probleme der soziologischen Methode in der Sprachwissenschaft, übers. v. Renate Horlemann, hg. u. eingel. v. Samuel M. Weber, Frankfurt a. M., Berlin u. Wien: Ullstein 1975. – Die Verfasserschaft dieses Buches ist strittig, weswegen ich oben und im Folgenden den Namen Michail Bachtin hinzufüge. Valentin Vološinov war Mitglied der sogenannten Leningrader Schule, die sich in den 1920ern um Bachtin herum gebildet hatte. Beide Forscher arbeiteten in dieser Zeit eng zusammen, und die intellektuelle Nähe zwischen Marxismus und Sprachphilosophie und den (unter seinem Namen erschienenen) Arbeiten Bachtins ist unübersehbar. Im deutschen Sprachraum wurde die These von einer Verfasserschaft Bachtins besonders von Rainer Grübel mit Nachdruck vertreten, und zwar in seiner „Biographischen Skizze« eingangs des Bandes: M. Bachtin, Die Ästhetik des Wortes, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1979. Einhelligkeit bezüglich dieser Frage besteht indessen meines Wissens bis heute nicht, und das ist vielleicht gut so, denn die seltsame Doppelung des Verfassernamens birgt einen nicht unwichtigen Hinweis in sich: Gerade wenn man die Betonung der Dialogizität und der sprachlichen Interaktion in den Arbeiten Vološinovs und/oder Bachtins ernst nimmt, wären etwa Fragen nach den konkreten Kooperationsweisen innerhalb der Leningrader Schule sowie nach deren spezifischen Einschreibungen in den sowjetischen Kontext der 1920er von mindestens ebenso großer Bedeutung wie jene nach eindeutigen Verfasser- oder Autorzuschreibungen.

[26] Ebd., S. 167.

[27] Ebd., S. 146.

[28] Der Begriff der „Sprachkreuzung« geht auf den sowjetischen Linguisten Nikolai J. Marr zurück, der alle vermeintlich homogenen Sprachen (Stammessprachen, Nationalsprachen etc.) als „gekreuzte Sprachtypen«, mithin als Produkte heterogener Zusammensetzungen verstand. Für Vološinovs [Bachtins] Aneignung dieses Gedankens vgl. Marxismus und Sprachphilosophie, S. 133 ff.

[29] Es geht hier nicht um ein Argument der Zahl oder der „politischen Stärke« der Sans-Papiers, sondern um eine strukturelle Überlegung: Die Idee der Machtergreifung hat es in der Geschichte proletarischer revolutionärer Bewegungen erlaubt, vor das „Absterben des Staates« die Perspektive einer Art Interregnum einzuschieben, das durch nationale „Revolutionsregierungen« sowie durch eine „Internationale« geprägt war. Wie aber sollte man sich eine staatliche Macht in Händen derer vorstellen, die per definitionem nicht dem Staat angehören?

[30] Dass wir es in den angeführten Passagen mit einer Bedeutungsfixierung bzw. einer Schließung sozialer Bedeutungsproduktion zu tun haben, heißt natürlich nicht, dass der Begriff der „Arbeiter« für jegliche politische Wiederbelebung – im Sinne einer Öffnung und Virtualisierung seiner Bedeutungspotenzen – gänzlich unbrauchbar wäre: Ein Schritt in diese Richtung wäre es, von ArbeiterInnen auszugehen, mit allen notwendigen Konsequenzen; ein zweiter, den Begriff der ArbeiterInnen im Kontext internationaler Arbeitsteilung zu verorten, also auch die Realität von ArbeitsmigrantInnen in Europa nicht von den vielfältigen Realitäten im sogenannten „globalen Süden« abzuspalten; ein dritter, neben den Ausbeutungen auch den Verwerfungen, die durch gegenwärtige Arbeitsregimes produziert werden, Aufmerksamkeit zu schenken; ein vierter, die Frage sozialer, politischer und ökonomischer Wertschätzungen nicht unbedacht und ausschließlich mit dem Wert der Arbeit zu identifizieren. Die Liste ist gewiss unvollständig, doch sie reicht aus, um einige der Fixierungen der oben zitierten Deklaration offenzulegen.

[31] In: Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, München: Piper 1986, S. 559–625.

[32] Ebd., S. 560.