04 2008
Weitere Überlegungen zur kulturellen Übersetzung
Übersetzt von Birgit Mennel und Tom Waibel
Zunächst möchte ich den ÜbersetzerInnen meinen Dank aussprechen. Dies ist eine angenehme Situation von simultaner Übersetzung. Es spielt keine Rolle, wenn Spivaks „ewige Prosa“ nicht korrekt übersetzt wird. Die Situation erinnert uns jedoch daran, was uns, wie ich meine, in der heutigen Globalität als das Modell von Übersetzung begegnet, obgleich dies kein Ergebnis der Globalisierung als solcher ist.
In historischer Perspektive denken wir an die Araber. Sie waren großartige Übersetzer, imperiale Übersetzer; sie hatten eine vollkommen andere Übersetzungsphilosophie als Schleiermacher, der auf dieser Konferenz am häufigsten zitierte Denker. Denken wir etwa an die außergewöhnliche Tatsache, dass Ibn Rushd wie auch Thomas von Aquin Aristoteles sowohl in arabischer wie auch in lateinischer Übersetzung lasen und dass Thomas von Aquin außerdem Ibn Rushd in Latein las.[1]
Rada Iveković wird es zu schätzen wissen, dass Sanskrit, der Name einer klassischen indischen Sprache, mehr oder weniger „verfeinert“ bedeutet, während das Wort prakrt, die Bezeichnung für eine sogenannte Kreolsprache, mehr oder weniger „natürlich“ meint. Da die Natur der Verfeinerung vorausgeht, geht das Kreolische philosophisch gesehen dem Original voran. Wir müssen uns mit den Auswirkungen einer solchen Einsicht befassen. Eine der verwegensten Handlungen Gautama Buddhas war der Entschluss, seine Lehren in einer Kreolsprache zu verfassen. Dies war ein unglaubliches Bravourstück; als Prinz hatte er zweifellos das Recht, zur verfeinerten Sprache, doch war es Teil seiner Kritik an der institutionalisierten Religion, dies zu unterlassen. Wenn wir uns indes auf den Buddhismus berufen, dürfen wir nicht vergessen, dass diese anfängliche radikale Geste innerhalb eines Jahrhunderts durch die Übersetzung in die verfeinerte Sprache zerstört und die Übersetzung der größere Weg genannt wurde. Diese interessanten Geschehnisse begaben sich, noch ehe die Deutschen über die Frage der Übersetzung stolperten. Darüber müssen wir auf einer Übersetzungskonferenz nachdenken.
Mit dem Dank an die SimultanübersetzerInnen hier in diesem Raum wollte ich jedoch daran erinnern, dass heute die Simultanübersetzung bei Wahrheitskommissionen das Modell von Übersetzung ist. Ein solches Modell betont die Unvermeidbarkeit des Verrats, der an die letztlich nicht ganz aufzulösende Differenz zwischen SprecherIn und ÜbersetzerIn rührt. Liest man Berichte dieser ÜbersetzerInnen – im Balkan, in Lateinamerika, in Südafrika –, so wird man gewahr, dass es genau um das Trauma der fiktiven Repräsentation einer in der Zukunft liegenden Sache geht; in anderen Worten: Es ist das Zeugnis des Sprechers/der Sprecherin als die gelebte Vergangenheit der Übersetzerin/des Übersetzers, die sich als Aufgabe der Übersetzerin/des Übersetzers abzeichnet. Dieser besondere zeitliche Verrat, diese Verantwortung, die viel mehr bedeutet als eine Treue zum Gesagten – diese Besonderheit macht es jenen ÜbersetzerInnen nahezu unmöglich, sich länger in diesem Beruf zu halten. Von Leuten, die in solchen Situationen arbeiten, hören wir, dass es eine große Fluktuation gibt. Ich möchte daher vorschlagen, nicht nur über die Modelle von großen ÜbersetzerInnen der Vergangenheit nachzudenken, sondern diese Lektion unserer Gegenwart zu lernen.
Ich muss gestehen, dass mir das Thema dieser Konferenz nicht in den Kopf wollte. Ich werde mein Scheitern mit Ihnen teilen. Die Konferenz selbst beschreibt sich wie folgt: „Heimat ist, wo ich verstehe und wo ich verstanden werde, schrieb einst Karl Jaspers.“ Beginnen wir damit, auch das ist interessant: Brauchen wir ein Zitat, wenn wir über etwas derart Unvermitteltes sprechen wie unsere Bleibe? Ist es immer eine Frage der Vermittlung, ganz egal, wie erfolgreich diese auch sein mag? Sind wir zwangsläufig von Zitaten abhängig, um erzählt zu bekommen, was unsere Heimat oder unsere Muttersprache ist?
Aber fahren wir mit der Selbstbeschreibung der Konferenz fort: „Wenn diese Heimat heute unsere globalisierte Welt ist, dann kann deren Muttersprache nichts anderes als eine sowohl linguistische als auch kulturelle Übersetzung sein.“ Diese Worte wollen mir wirklich nicht in den Kopf: „unsere globalisierte Welt“ und „kann nichts anderes als Übersetzung sein“. Was ist eine „globalisierte Welt“, frage ich mich? Nur ein Teil von uns lebt als Subjekt in der globalisierten Welt. Aber wie kommt es, dass wir diese „eine Heimat“ nennen? Wo zahlen wir unsere Steuern? Wieso sollte „unsere globalisierte Welt“ irgendjemandes Heimat sein? Weil sich die Dinge schnell verändern? Weil bestimmte Gruppen von MigrantInnen das alte Europa bevölkert haben? Während zwischen den USA und Mexiko, zwischen Israel und Palästina Mauern errichtet werden und während es weder Indien noch China zulassen werden, dass die TibeterInnen die Grenze überschreiten, geben wir uns dem Wunschdenken nach einer Welt ohne Grenzen hin, weil die europäischen Staaten ineinander übergehen? Das ist koloniales Verhalten.
Die westfälische Ordnung ist Teil der europäischen Geschichte. Im 18. Jahrhundert dachte man, dass diese Geschichte Europa eine Welt eröffnet. Mittlerweile sind wir aber im 21. Jahrhundert angekommen. Diese Ordnung war nur eine Episode in der europäischen Geschichte. Diese Geschichte liefert nichts, keinen Ansatzpunkt dafür, wie Nationalstaaten heute gedacht werden. Ich möchte daher ein wenig über Afrika sprechen. Ich hoffe, einige von Ihnen werden das für die Jubiläumsausgabe zum 20. Jahrestag von Rethinking Marxism aufgezeichnete Gespräch zwischen einem meiner Studenten, Ben Baer, und mir lesen.[2] In diesem Gespräch äußern wir uns kritisch über Le Monde diplomatique und die dort vorgenommene Beschwörung von Allianzen mit der Feudalität im globalen Zusammenhang und wenden uns dann Afrika zu.
Warum diese Hinwendung zu Afrika? Sie erfolgt deshalb, weil das koloniale Abenteuer in Afrika kaum hundert Jahre währte. Dies ist nicht dieselbe Geschichte wie jene, über die wir unablässig sprechen. Als die KolonialistInnen Afrika verließen, hinterließen sie unsinnige Grenzen, die sie als Unterteilungen von Nationalstaaten ausgaben. Afrika wird uns etwas geben, das sich stark von unseren alten Vorstellungen einer unvermeidlichen Verknüpfung von Nation und Staat unterscheiden wird. In den letzten zwei Tagen dieser Konferenz wurde zwar über den Balkan und Südasien, aber noch nicht über Afrika gesprochen; aber weder der Balkan noch Südasien haben etwas anderes als den Nationalstaat anzubieten.
Die Aufteilung Afrikas durch die imperialen Kolonialmächte führte letztendlich zur Errichtung von etwa achtundvierzig neuen Staaten mit zumeist klar definierten Grenzen. Die Schaffung dieser Staaten erwies sich in den meisten Fällen als belastendes Vermächtnis. Wären die Grenzen dieser Staaten nach irgendeinem klar bestimmten, rationalen Kriterium und in voller Kenntnis der ethnisch-kulturellen, geografischen und ökologischen Wirklichkeiten Afrikas festgelegt worden, das Ergebnis wäre ein anderes gewesen. So aber setzt sich jeder unabhängige afrikanische Staat aus einer ganzen Schar verschiedener ethnisch-kultureller Gruppen und Nationen mit jeweils unterschiedlichen historischen Traditionen und zwischenstaatlichen Grenzkonflikten zusammen. Diese künstlichen Grenzen brachten nicht nur multiethnische Staaten hervor, sie verliefen vielmehr auch quer durch bereits vor der Grenzziehung existierende Gruppen, Ethnizitäten, Staaten, Königreiche und Imperien. Die Bakongo werden durch die Grenzen von Kongo, Angola und Gabun aufgeteilt; manche Ewe leben in Ghana, einige in Togo und andere in Benin. Die Akan finden sich in der Elfenbeinküste und in Ghana; die Somali verteilen sich auf Äthiopien, Kenia und Somalia. Die Senufo leben in Mali, in der Elfenbeinküste und in Burkina Faso etc. Die unausgeglichenen Größen, die ungleich verteilten natürlichen Ressourcen sowie ökonomischen Potenziale dieser Staaten sind ein weiteres, noch interessanteres Problem. Einige der aus dieser Aufteilung hervorgegangenen Staaten waren riesig, wie etwa der Sudan mit einer Fläche von etwa 2.505.810 km², der Kongo mit 2.345.410 km², Algerien mit 2.381.741 km², Nigeria mit 923.768 km²; andere Staaten wie Gambia mit 11.295 km² sowie Lesotho und Burundi mit jeweils etwa 30.000 km² sind sehr klein. Einige Staaten haben Küsten, die sich über unzählige Kilometer erstrecken, während andere nur von Land umschlossen, ohne Meerzugang sind, wie Mali, Burkina Faso (Obervolta), Niger, Tschad, die Zentralafrikanische Republik und schließlich Uganda, Malawi, Sambia, Simbabwe, Botswana – sie alle haben keine Meeresgrenzen; einige der Staaten, wie etwa Gambia und Somalia, müssen nur eine oder zwei Grenzen kontrollieren, andere vier oder mehr, und der Kongo hat sieben Grenzen. Wie können derart benachteiligte Staaten jemals ihr Entwicklungsproblem lösen? Wie kann sich ein Staat ohne Meerzugang oder ohne fruchtbares Land jemals wirklich entwickeln? Kann sich jemand die Probleme von Sicherheit und Schmuggelei vorstellen, mit denen Staaten mit so vielen zu patrouillierenden Grenzen konfrontiert sind?[3]
Wenn wir also über Nationalstaaten sprechen, sollten wir auch an derartige Entscheidungen denken und uns nicht mit alten Ideen von gegebenen linguistischen Nationalstaaten aufhalten. Hannah Arendt erwies sich als vorausschauend, als sie davon sprach, dass National-Staaten, die Verbindung von Nation und Staat, nur ein kurzes Aufflackern in der Geschichte wären.[4] Genau so verhält es sich auch mit dem Sozialstaat und dem Kommunismus. Jemand muss einen „Achtzehnten Brumaire“ der bolschewistischen Revolution schreiben.[5] In diesem Aufsatz legte Marx den Gedanken nahe, dass die Französische Revolution einzig in der Konsolidierung der Macht der Exekutive in Frankreich erfolgreich gewesen sei. Manchmal scheint es, dass die bolschewistische Revolution letztlich nur eine Art Restauration von Feudalität ohne Feudalismus bewirkte. Diese Feudalität revidiert die europäische Geschichte von Sprache und Nation, die am Übergang vom historischen Feudalismus, einem Übergang, der in der westfälischen Ordnung seinen Höhepunkt erreicht, zu Nationalstaaten verknüpft wurden; sie verkündet deren Niedergang und spricht von einer globalisierten Heimat. Führt man sich jedoch Afrika vor Augen, verliert dieses Narrativ seine Relevanz. Denn Afrika besteht nicht nur aus aufstrebenden Märkten, die von den Millenniums-Entwicklungszielen der Vereinten Nationen ausbalanciert werden. Afrika kann auch als Laboratorium dafür angesehen werden, nicht auf die Nation orientierte Staaten zu denken und herauszubilden. Zwischen Afrikas Sprachgrenzen und den sogenannten nationalen Grenzen besteht keine Verbindung. Dies gilt nicht nur für die Existenz von Tribalsprachen, obgleich auch diese, wie im Falle Lateinamerikas, von Bedeutung sind. Im Kontrast dazu ist im indischen Kontext die frühe zweisprachige Verwendung von einheimischen und indoeuropäischen Sprachen von Interesse, da es sich um keine europäische Begegnung handelt. Aber noch einmal: Welches ist unser Modell von Übersetzung? Denken wir über diese kaum peripheren Geschichten nach, ehe wir unsere Konferenz zum Abschluss bringen.
Ich glaube nicht, dass man Kulturen kennen kann. Wenn wir von der linguistischen Übersetzung zur kulturellen Übersetzung übergehen, statten wir uns selbst mit einem Alibi aus. Wir befinden uns hier und jetzt im östlichen Königreich – dem Öster-Reich* –, der nächste Landkreis ist der Balkan. Wir stehen am Scheideweg der habsburgischen, osmanischen und russischen Imperien. Wenn die europäische Linke in diesem Kontext den migrantischen Bevölkerungen gegenüber freundlich sein will und ihren Schwerpunkt von der sprachlichen auf die kulturelle Übersetzung verlagert, dann ist dies ein Alibi.
AnthropologInnen müssen selbstverständlich versuchen, Kulturen zu beschreiben, ebenso wie Ärzte oder Ärztinnen Körper untersuchen müssen. Doch in einem Kontext, in dem europäische Linke bestrebt sind, sich gegenüber ihren früheren UntertanInnen als verantwortlich und wohlwollend zu erweisen, ist Kultur das Letzte, das gekannt oder übersetzt werden kann. Was Transkultur genannt wird, ist Kultur in ihrem Vollzug. Eine lebendige Kultur ist ihr eigenes Gegenbeispiel. Transkulturation ist nichts Besonderes oder Andersartiges, sie ist ein Moment in einer Taxonomie der Normalität dessen, was Kultur genannt wird. Sich den besonderen Auftrag der kulturellen Übersetzung oder der Darstellung kultureller Übersetzung zu erteilen muss demnach in einen politischen Kontext gestellt werden. Kulturen kann man nicht kennen, Sprachen schon. Sprachen führen zu einem bestimmten sprachlichen Gedächtnis, das uns zu Partizipierenden an einer kulturellen Produktion macht, in der dieses irreduzible Gegenbeispiel, durch das sich Kultur vollzieht, zu unserer Verantwortung wird; das ist etwas ganz anderes.
Sie fühlten sich auf dieser Konferenz mit dem Wort Kultur sehr wohl. Ich fand Gefallen an Jon Solomons Unterscheidung zwischen „viralen“ und „bakteriellen“ Kulturen[6], doch ich kann mich selbst nicht zu dermaßen großen Definitionen überwinden, da ich glaube, dass jede Definition oder Beschreibung von Kultur den kulturellen Voraussetzungen der Sprechenden entspringt.
Das ist so leicht gesagt und findet sehr schnell Zustimmung. Aber was sind kulturelle Voraussetzungen? Handelt es sich dabei um ein breites Bündel von Argumenten? Sind sie einfach eine Spielart des „Wir sind besser“, das jede Gruppe fühlt, selbst wenn sie unter Verlust eingebunden wird? Oder handelt es sich vielleicht um jene unbehaglichen Bindungen, die eine Auswanderin/ein Auswanderer für die/den andere/n verspürt, wenn sie außer Landes sind? Ihre Verleugnung ist eine kulturelle Voraussetzung. Manchmal ist der Ruf nach Kultur auch die Antwort auf die Anwesenheit des „Globalen“ in unserem täglichen Leben, wie etwa in der Konferenzbeschreibung. Je größer der soziale Abstieg, desto weniger lässt sich die Forderung nach „Kultur“ von der Forderung nach einem gleichen Anteil an den Gütern der Welt unterscheiden: politisch, militärisch, religiös … Beachten Sie, dass ich Religion ein weltliches Gut nenne. Hier tritt Gender auf den Plan. Was auch immer Ihre Theologie sein mag, Sie müssen sich eingestehen, dass – wenn die Kultur eine Anhäufung weitgehend uneingestandener Mutmaßungen ist, die von unscharf umrissenen Personengruppen lose zusammengehalten werden – die Theologie die Verhandlungen zwischen dem Heiligen und dem Profanen vermittels der Beziehung zwischen den Geschlechtern abbildet. Einen Einblick in die sexuelle Differenz bekommen wir durch die Art und Weise, wie Kulturen verhandelt werden – und nicht durch die Setzung national-kultureller Adjektive. Wie sehr man auch danach verlangen mag: Vermittels einer wilden Anthropologie und dem Wunsch nach Transkulturation lässt sich dies nicht bewerkstelligen. Ich habe es im Zuge meiner Lehrtätigkeit und in meiner veröffentlichten Prosa schon oft wiederholt: Die Geschichte ist größer als das persönliche Wohlwollen.
Als HandlungsträgerInnen sind wir bestrebt, Rechte wieder einzusetzen und Mittel zu ihrer institutionellen Anerkennung zur Verfügung zu stellen. Die Formierung des Subjekts ist ein weiterer Schauplatz der Instrumentalisierung sexueller Differenz durch Kulturalisierung. In diesem Zusammenhang muss Kultur als Prozess verstanden werden. Es gibt schlimmeres als Raymond Williams’ Verständnis von Kultur; er erklärte sie als synchronischen Tanz diachronischer und politischer Bewegungen: archaisch, rückständig, dominant, im Entstehen begriffen, alternativ, oppositionell, noch nicht entstanden. Will man sich damit spielen, dann muss man, im Gegensatz zu Williams, die sexuelle Differenz miteinbeziehen. Die sexuelle Differenz ist das einzige Plus-Minus-Material, das es den Kulturen erlaubt, ein vollständiges semiotisches System zu errichten; und dies nicht erst seit gestern. Gendering ist nichts, was außerhalb der Kultur stattfindet und dann in die kulturelle Beschreibung einbezogen wird. Über Gendering haben wir im Zuge dieser Konferenz nicht allzu viel gehört.
Wenn wir für einen Moment akzeptieren, dass Religion als Kultur oder Kultur als Religion, wie jedes Zeichensystem, vermittels Differenzen operiert und die sexuelle Differenz die einzig greifbare ist, dann werden wir verstehen, warum die Forderung nach Anerkennung und Souveränität ihren Ausdruck in der populären Geopolitik findet, manchmal als urbane Guerillataktiken, aber unvermeidlich mit Gender-Management vermischt. Wie ich meine und wie die meisten von Ihnen wissen, verkompliziert sich hier auch das Problem der kulturellen Übersetzung ungemein; die Beziehung zwischen Treue, Verrat, Original und Übersetzung beginnt sich von allen anderen bisher diskutierten theoretischen Überlegungen deutlich zu unterscheiden. Solange über Sprache gesprochen wird, ist alles in bester Ordnung; sobald man sich jedoch mit Kultur befassen will und man eine kulturelle Übersetzung vornehmen zu müssen glaubt, wird dieses eigenartige Projekt beinahe unmöglich.
Auf der Ebene der Kultur im Sinne lose zusammengehaltener Voraussetzungen und Annahmen herrscht beständige Veränderung. Im Laufe von Generationen ändert sich die erste Sprache und die Beziehung zu allem, was „Herkunftskultur“ genannt wird. Es ist demnach nicht möglich, über die erste Generation von MigrantInnen als bleibendes Beispiel für irgendetwas zu sprechen. Dies muss vom normativen Verhalten der Kultur als ihrem eigenen irreduziblen Gegenbeispiel unterschieden werden. Gruppen von ImmigrantInnen sind keine statischen Personen, die auf der Suche nach Gerechtigkeit in die Metropolen kommen. Es handelt sich vielmehr um die Entwicklung allochthoner EuropäerInnen. Um es nochmals zu wiederholen: Das Konzept der ersten Sprache verändert sich ständig – denken Sie an erste Sprache und nicht an Muttersprache. Jedes Kind lernt eine Sprache, die wir erste Sprache nennen werden. Manchmal, in einer sehr vielsprachigen Situation, weiß das Kind nicht, welche Sprache es zuerst gelernt hat. Das ist fein und muss für das, was ich nun erarbeiten möchte, nicht näher bestimmt werden. Ich gebe Ihnen hier eine impressionistische Beschreibung davon, wie die erste Sprache erlernt wird, die Sie entweder annehmen oder vergessen können. Das Kind erfindet eine Sprache. Die Eltern beginnen diese zu verstehen. Ohne recht zu wissen wie, fügt sich diese Sprache irgendwie in eine Sprache mit einer Geschichte, einer Vergangenheit, einer Zukunft, ein, die den Tod des Kindes überdauert; aber dennoch wird sich das Kind sodann in dieser Sprache erfinden, sie wird zu seiner eigenen Sprache werden. Dieser Lernprozess, und nur er allein, setzt die metapsychologischen Kreisläufe in Gang und bringt ein sprachliches Gedächtnis hervor. Nur eine Sprache wird auf diese Weise erlernt. Befindet man sich in einer multilingualen Situation, dann ist es möglich, dass das, was ich hier eine Sprache nenne, tatsächlich zwei oder mehr Sprachen sind; das ändert nichts.
Ein kurzer Exkurs: Sowohl Etienne Balibar als auch Sandro Mezzadra halten die Äquivalenz für keine so gute Idee. Erinnern Sie sich, dass die Arbeit als Kraft nur durch Äquivalenz berechnet werden kann. Marx handelte hierin vollkommen kontraintuitiv, zu sehr sogar für die meisten TheoretikerInnen von Entfremdung, von entfremdeter Arbeit und Verdinglichung. Marx wollte damit dem Umstand Rechnung tragen, dass es sich bei der Quantifizierung – ich verwende den modernen Begriff für den abstrakten Durchschnitt – um die Macht der Arbeit, die Arbeitskraft handelte, die sich in den Händen der Arbeiterklasse in ein Werkzeug verwandelt, das es erlaubte, den Kapitalismus auf den Kopf zu stellen und das Kapital im Dienste des Sozialen einzusetzen. Die Vorstellung, dass es für alle Sprachen eine Äquivalenz gibt, da jede Sprache als Sprache die Kreisläufe des Metapsychologischen im Sinne eines Zugangs zum sprachlichen Gedächtnis aktivieren kann, ist eine nützliche und brauchbare Idee, eine „sozialisierte“ Idee von Sprache. Balibar verweist darauf, dass die Äquivalenz die Differenz unscharf macht und Gleichheit daher der bessere Begriff wäre. „Gleichheit“ ist vielleicht ein besserer Begriff für einen Rechtsphilosophen, wir als kulturpolitische TheoretikerInnen brauchen hingegen ein wenig Unschärfe. Ich behaupte ganz und gar nicht, dass es eine kulturelle Äquivalenz gibt. Das lässt sich nur argumentieren, wenn man von einer Isomorphie von Sprachen und Kulturen ausgeht, was ich aber für einen Fehler halte, da es eine Vernachlässigung historischer Differenzen zwischen den Sprachen wäre und direkt ins Lala-Land des kulturellen Relativismus führen würde. Räumt man hingegen ein, dass diese Äquivalenz – lediglich im Sinne der Tatsache, dass jede Sprache (und gelegentlich auch ein Bündel von Sprachen) als erste Sprache diese metapsychologischen Kreisläufe tatsächlich zu aktivieren vermag, und nichts weiter –, dann versetzt man sich – da dieser Respekt nicht allen Sprachen entgegengebracht wird – in die Lage, an der historischen Differenz im Inneren der kulturellen Macht konstativ zu arbeiten und sich performativ zu widersetzen, um sie zu korrigieren. Dies scheint mir viel wichtiger als kulturelle Übersetzung. Zudem glaube ich nicht, dass die Muttersprache eine Übersetzung sein kann. Wäre dem so, bräuchten wir die ÜbersetzerInnen in der kleinen Box in der Ecke dieses Raumes nicht.
Ich möchte an dieser Stelle eine rasche Verschiebung vornehmen und über Globalisierung nachdenken sowie in Erinnerung rufen, dass jeder selbst erklärte Bruch eine aktiv vergessene Wiederholung ist. Jede zuversichtliche Erklärung einer Wiederholung muss uns umgekehrt zu der Frage veranlassen: „In welcher Hinsicht könnte dies ebenso ein Bruch sein?“ Es gibt eine als Bruch wiederholte Globalisierung, die wiederholt, was Marx als Bruch vorausgesagt hatte: dass sich das Kapital mit Gedankenschnelle* bewegen will. Dies kann heute als durch den Silikonchip und mittlerweile auch den Biochip hervorgerufener Bruch geschehen. Die Wiederholung dessen, was tatsächlich bereits vorher das Ziel war, wird als Bruch möglich: die Errichtung desselben Tauschsystems überall auf der Welt. Die Hürden zwischen den fragilen Nationalökonomien und dem internationalen Kapital werden beseitigt. Der Staat wird zum managerial state, die Umverteilungsaufgaben verschwinden. Damit schwindet die Möglichkeit zum verfassungsmäßigen Regress, selbst wenn der Staat sich an die Verfassung halten wollte. Das ist die Lage im globalisierten Staatssystem – eine geteilte Welt.
In dieser Globalisierung, die nicht nur aus Welthandel, sondern auch aus Finanzkapital besteht, dessen Umschlag täglich sehr viel öfter erfolgt als im Welthandel, gibt es eine Art Empirisierung des Virtuellen, die eine Revision der Unterscheidung zwischen dem mathematischen und dem dynamischen Erhabenen, eine Revision der Vorstellung eines nur in der Natur vorfindbaren Erhabenen erfordert. Kant zufolge ereignet sich im Erhabenen eine Subreption, in der wir – statt den moralischen Willen des Subjekts zum Erhabenen zu erklären – sagen, dass der Berg, die Wasserfälle usw. erhaben sind. Dies ist nicht länger möglich, da in diesem unglaublichen Netzwerk, das die Möglichkeit des globalisierten Kapitals, des sich so bewegenden Finanzkapitals ausmacht, und in dem das allgemeine Äquivalent nicht mehr Geld, sondern Daten sind, in der Tat die Position des Subjekts aufgrund der Programmierungs- und Marktentscheidungen sowohl kontrollierend ist, als auch von einem Netzwerk kontrolliert wird, das unendlich größer ist als das Subjekt selbst. – Die gesamte Idee des Erhabenen und der Beziehung des Subjekts zum Erhabenen wurde derart revidiert, dass wir nicht mehr wissen, ob wir als Teil größer sind als das Ganze oder vom Ganzen umfasst werden. Die Hardware entspricht in gewisser Hinsicht dem psychischen Apparat und die Software dem Netzwerk, in dem das Subjekt auf dieselbe Weise kontingent ist wie eine stehengebliebene Uhr, die zweimal am Tag zufällig die richtige Zeit anzeigt. Nähern wir uns der Globalisierung auf diese Weise, so müssen wir anfangen, anders zu theoretisieren als nur durch die grotesken Begriffe von Sprache, Kultur und Übersetzung.
Wir werden dazu fähig sein müssen, die Globalisierung für jede Einzelne/jeden Einzelnen sowie für Gruppen von uns als eine Insel der Versprachlichung in einem Feld von Spuren zu denken. Rein deskriptiv, der Politik vorgelagert, ist Globalisierung eine Insel der Versprachlichung in einem Feld von Spuren. Was aber macht eine Spur aus? Vergessen Sie niemals, dass es sich dabei nicht um eine „Istheit“ handelt. Ein Zeichensystem verspricht Bedeutung. Eine Spur verspricht überhaupt nichts. Sie scheint anzudeuten, dass es vorher etwas gab. Denken Sie an den Sprachreichtum der Welt, und denken Sie dann darüber nach, was mit dem Visuellen geschieht. Ich begann sehr viel sorgfältiger darüber nachzudenken, als ich vor drei oder vier Wochen einige Zeit mit Anish Kapoor verbrachte. Er macht gerade eine riesige Skulptur für das Guggenheim Museum und ich wurde eingeladen, einen Essay zu schreiben. Also verbrachte ich drei Tage mit Anish. Im Versuch herauszufinden, was dieser sehr geschickte Bursche will, begann ich zu verstehen, dass er versucht, Spuren zu repräsentieren – Zwischenräume der Zeit*.[7] Das ist kein Zeichensystem, das ist wie eine Spur*, wie Elefantenscheiße auf dem Waldboden: Entweder waren hier Elefanten, oder man halluziniert; es könnte auch sein, dass jemand die Scheiße als Köder auslegte oder dass man sich täuscht, weil Elefantenscheiße ganz und gar nicht so aussieht, oder … – ein unendliches „Inventar an Spuren“.[8] Eine Spur ist kein … Zeichen. In Zusammenhang damit denkt man unvermeidlich an die in den meisten Rechtssystemen immer noch geltende etablierte patriarchale Konvention, dass ich, besonders wenn ich als Mann erkennbar bin, das Zeichen meines Vaters und die Spur meiner Mutter bin.[9] Wichtig an meinem Argument ist, dass wir – anstatt die Globalisierung als allgemeines Feld von Übersetzung zu theoretisieren, das trotz der Empirisierung einer offenkundig unpersönlichen und mechanischen Übersetzung tatsächlich ohne Unterlass und Ende einem Wirt oder Ziel den Vorzug gibt – lernen sollten, darüber nachzudenken, dass das menschliche Subjekt in der Globalisierung eine Insel der Versprachlichung ist, in der manche Sprachen und Idiome durch die „erste“ Sprache als Monitor in einem Feld von Spuren, das kein „Verständnis“ garantiert, unterschiedlich verstanden werden. Dies ist ein neuer Aufruf zu einer anderen „konzeptuellen“ Kunst, einer anderen „Simultanübersetzung“.
Ich komme nun übergangslos zu einer Schlussfolgerung in Form einer Frage: Was sollen wir, wenn überhaupt, tun? Erinnern Sie sich an jene weiter oben angestellte Vermutung vom mentalen Schauplatz, den ich durch die Konzept-Metapher vom Verhältnis zwischen Hardware und Software theoretisierte. Was ist das Wiederholen in dieser Situation, dieser neuen Situation, die auch eine Wiederholung ist? Das Wiederholen besteht in der Rückkehr der Feudalität, um die schlecht theoretisierte Zweckmäßigkeit der scheinbaren Nützlichkeit gleicher Wettbewerbsbedingungen auszugleichen – in unserem Fall, die Zweckmäßigkeit verallgemeinerter Übersetzung. Das Wiederholen besteht in einer hierarchischen WohltäterInnenschaft; sogar im Namen einer nicht hierarchischen Haltung. Denn ohne tiefgreifenden Spracherwerb bleibt die Übersetzung hierarchisch, da Übersetzung tatsächlich eine Frage der Macht ist. Da in diesem Bereich das schlechte Gewissen vorherrscht, ist man verpflichtet, sich unzählige Videos anzusehen, die Zeugnis davon ablegen, dass es die Leute an der Basis wirklich „selbst machen“. Wie viele NGOs (und manchmal staatlich gelenkte Programme) tragen Namen mit der Bedeutung „Selbsthilfe“? Hier brauchen wir durchdachte Evaluationsverfahren. Dramatisierung ist Feudalität in Aktion. Ich wünschte, ich hätte Zeit, dies auszuführen. Ich bin selbst Aktivistin. Ich habe einige Erfahrung damit, wie manche der großen Deklarationen im Namen der Subalternen tatsächlich gemacht werden. Gelegentlich war ich selbst an der Produktion solcher Erklärungen beteiligt, da ich etwa die bengalische Schrift gut beherrsche und schnell und fehlerfrei schreibe. Ich werde keine Namen nennen, da in diesem Feld Selbstkritiken unternommen werden sollten. Auf der anderen Seite sind RassistInnen. Aber so viel werde ich sagen und darauf beharren: Es gibt tatsächlich keine Gleichheit. In diesem Feld von Sprachen gibt es keinen tiefgreifenden Spracherwerb. Es besteht eine dringende Notwendigkeit, sich Äquivalenz als mögliche erste Sprache unter den Sprachen vorzustellen.
Ich würde Michaela Wolf darin zustimmen[10], dass die Übersetzung dann ihrerseits nicht zu einer prothetischen, sondern aktiven Arbeit wird, was keiner Zweckmäßigkeit entspricht. Mit der Idee der Zweckmäßigkeit, die nicht aufgegeben werden darf, muss es einen bedachten Umgang geben, sie ist ein Problem, keine Lösung. Sieht man sich die vielen, vielen Übersetzungen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte an, wird man gewahr, wie viel böse Absicht sich hinter der Idee von Übersetzung verbirgt. Wenn man sich die afghanische Verfassung ansieht, bei der am Ende jeder Seite steht: „Bitte konsultieren Sie das Original in Dari“ und dann die Version in Dari mit der englischen Version vergleicht, beginnt man zu vermuten, dass möglicherweise aus dem Englischen übersetzt wurde und dieses Autorität hatte.[11] Übersetzung ist ein Machtfeld. Im Bereich der Handlungsmacht muss demnach an der aufwärts gerichteten Klassenmobilität gearbeitet werden und nicht an kultureller Übersetzung; aufwärts gerichtete Klassenmobilität funktioniert, wenn man sich um die Politik lokaler Ökonomien kümmert, sie kann nicht nur auf metropolitane Erde beschränkt bleiben. Wird die Politik lokaler Ökonomien einigermaßen unterstützt, dann würde sich das Terrain migrantischer Akkulturation in Europa zumindest verändern; ich bin mit solchen Überlegungen nicht allein.
Was geschieht in der aufwärts gerichteten Klassenmobilität? Gutsituierte Personen sind von Forderungen nach kulturellen Rechten im Allgemeinen nicht betroffen, dies sind Probleme der Unterschicht. Würde ich in einem 7/11[12] arbeiten, dann würde ich keinen Sari tragen. Der soziale Aufstieg verwandelt das kulturell Performative in die Möglichkeit der Performanz. Man muss also mit Curricula und Ausstellungen arbeiten, doch die aufwärts gerichtete Klassenmobilität bleibt die Hauptsache, nicht die Ausstellungen und Curricula. Wenn man diese Arbeit unterstützt, können die Samuel Huntingtons dieser Welt vielleicht bezwungen werden. In seinem Buch Who Are We? ist „Klasse“ das eine Wort, das Huntington braucht, von dem er aber nicht weiß, wie er es sagen soll, ganz abgesehen davon, wie es mit etwas in Verbindung zu bringen wäre, das einem Argument gliche.[13] Er spricht davon, dass die amerikanische Unterschicht keine hispanische Zweisprachigkeit will und führt Statistiken an. Er argumentiert, dass die DekonstruktivistInnen – worunter er einfach jene versteht, die denken, die USA seien heterogen, und nicht jene, die Derrida gelesen haben – die amerikanische Weltanschauung zerstören, da die Unterschicht keine Zweisprachigkeit will und die DekonstruktivistInnen schon. Er realisiert nicht, dass es eigentlich um Mechanismen einer aufwärts gerichteten Klassenmobilität geht, die im Spätkapitalismus traurigerweise fehlen. Dann könnte die ehemalige Unterschicht die Zweisprachigkeit wertschätzen und ein hinderliches kulturelles Performativ in eine bereichernde kulturelle Performanz verwandeln. Diese Besonderheit vermag Huntington nicht zu denken.
Darum sage ich, dass wir im Bereich der Handlungsmacht den Kapitalismus durch aufwärts strebende Klassenmobilität sowie die Idee einer Äquivalenz aller Sprachen überdenken sollten; keine kulturelle Äquivalenz, sondern eine Äquivalenz aller Sprachen, die zu einem tiefgreifenden Spracherwerb führt. Wir müssen die Grundbedingungen* schaffen, um den Schaden zu beheben, den wir den Frauen durch das rasche Gendering zufügen, das die internationale Zivilgesellschaft in den „Rest der Welt“ bringt. Es ist auch bemerkenswert, dass es queere Ansätze in der Genderarbeit der internationalen Zivilgesellschaft eigentlich nicht gibt. Dort leidet die Vorstellung von Sexarbeit im Allgemeinen ihrerseits an Mittelschichtspolitiken und Mittelschichtsfrömmigkeiten. Wenn wir tatsächlich weiterhin versuchen, diese Grundbedingungen zu schaffen, um den Schaden zu beheben, den die internationale Zivilgesellschaft auf der Ebene von Gender verursacht hat, und der Frage des Gendering mit dem ihr angemessenen Respekt begegnen, da dies die erste Semiose der Kultur selbst ist, dann haben wir, glaube ich, unsere Aufgaben revidiert und nicht zu früh gedacht, dass wir eine globalisierte Welt teilen, die unsere Heimat ist und in der eine Muttersprache Übersetzung ist. Danke.
Moderation (Hito Steyerl):
Vielen Dank, Frau Professor Spivak, für diesen gehaltvollen und facettenreichen Vortrag. Ich bin sicher, dass es viele Fragen geben wird. Gibt es bereits unmittelbare Reaktionen auf den Vortrag?
Frage aus dem Publikum (Sandro Mezzadra):
Ich habe nur eine kurze Frage: Sie sprachen über die Rückkehr der Feudalität. Ich möchte Sie bitten, ihr Verständnis des Konzepts der Feudalität etwas genauer darzulegen.
G. Ch. Spivak:
Ich spreche von „Feudalität ohne Feudalismus“, nach dem Schema von Derridas „Messianischem ohne Messianismus“. „Feudalität“ bezeichnet eine Produktionsform, in der die Loyalität die Stelle der Wertform einnimmt. In der internationalen Zivilgesellschaft finden sich selbsternannte moralische UnternehmerInnen, die mit Emotionen wie Loyalität arbeiten. Dies gilt insbesondere für führende AktivistInnen aus dem globalen Süden, die Verbindungen mit den AltermondialistInnen im globalen Norden herstellen können. Harriet Fraad bringt in ihrem bei Pluto Press publizierten Buch das interessante Argument, dass sich die Institution der Ehe im entwickelten Kapitalismus noch immer entlang desselben Typs feudaler Werte bewegt, den Marx für die patriarchale Familie beschreibt, in der Affekt und Loyalität die Tauschbedingungen für die Produktion von Dingen etc. bilden. Sieht man sich die globalen sozialen Bewegungen im Allgemeinen mit ihren üblicherweise weiblichen Anführerinnen an und verfügt man über ein ausreichendes Sprachverständnis, verkehrt man mit diesen, wird man zum/zur VolontärIn und begibt sich in die Bewegung, dann wird deutlich, dass tatsächlich ein wohlmeinendes Gutes-Tun stattfindet und nicht notwendigerweise die Vorbereitung der Leute auf eine Intuition der öffentlichen Sphäre. Alle Diskussionen mit transnationalen Agenturen im Weltsozialforum, mit europäischen AltermondialistInnen etc. ereignen sich auf der Ebene einer Feudalität ohne Feudalismus. Gewöhnlich finden sich unter den Subalternen immer Ausnahmen, die sich den AnführerInnen anschließen und zu wichtigen Elementen der Evidenz werden. In diesen gelegentlichen Kontakten mit DolmetscherInnen ist der/die Subalterne voller Lächeln, voller Unterstützung und insbesondere durch eine/einen DolmetscherIn in der Lage, Gutes zu sagen.
Analysiert man andererseits mit linguistischer und kultureller Kenntnis die tatsächlichen Vorgangsweisen im Detail, dann werden die Überreste der alten Feudalität deutlich. In Westbengalen, wo ich in den rückständigsten Bezirken Erfahrungen sammeln konnte, ist das Latifundiensystem immer noch voll in Kraft, obwohl zamindari 1952 abgeschafft wurde. Die seltenen, aber guten LandbesitzerInnen (solche, die beispielsweise in den betrügerischen UNO-Entwicklungsprogrammen besonders beliebt sind und aufgrund mangelnder linguistischer und kultureller Kenntnis für Subalterne gehalten werden, da sie kein Englisch sprechen) prozessieren ständig gegen die Partei. Gewiss, die ParteifunktionärInnen sind auf dieser lokalen Ebene nicht besonders gut, daher ist das in Ordnung; doch nach dem Tod dieser LandbesitzerInnen wird die Rache selbstverständlich an den Subalternen ausgeübt. Anstatt also durch die Instrumentalisierung der Intellektuellen die Einbindung der Subalternen in den Kreislauf der Hegemonie, in eine Intuition der öffentlichen Sphäre zu ermöglichen, gibt es dieses protektionistische Verhalten, durch das die Subalternen in der Bedingung der Subalternität gehalten werden, damit die LatifundistInnen weiterhin in ihrem Namen prozessieren und die Partei durch ein subalternes Spitzelsystem bekämpfen können. Das ist herzzerreißend und bedeutet für mich die Rückkehr einer Feudalität ohne Feudalismus.
Frage aus dem Publikum (Encarnación Gutiérrez Rodríguez):
Ich habe nur eine kurze Frage zu Ihren Ausführungen über das sprachliche Gedächtnis. Könnten Sie mehr dazu sagen?
G. Ch. Spivak:
Eigentlich ist dies nicht mein eigener Begriff, er stammt von dem Anthropologen Alton L. Becker. Er hat ein Buch mit dem Titel Beyond Translation[14] geschrieben, in dem er den Spracherwerb als eine Form des Zugangs zum sprachlichen Gedächtnis beschreibt, zu einem in der Sprache archivierten, sagen wir, Sinn für Humor, zu sexuellen Annahmen womöglich, die der Sprache zugrunde liegen, kleine Dinge vielleicht, kleinere Dingen als solche. Es scheint beinahe so – und das ist eine Konzept-Metapher –, als ob innerhalb der Sprache nicht nur die Regeln bestehen, die man lernt, sondern ein artikulierter Raum von Differenzen zu jeglicher übersetzbaren „Gegenwart“, der so etwas wie ein nichtpsychologisiertes „Gedächtnis“ zu produzieren vermag. Valentin Vološinovs Beharren darauf, dass die Existenzform einer Sprache genau nicht das Wörterbuch ausmacht, gehört hierher. Wenn man in das sprachliche Gedächtnis vordringt, wird man entweder davon überrascht oder andere Menschen fangen an, Notiz davon zu nehmen.
Das sprachliche Gedächtnis ist kein zwangsläufig akademisches Konzept. Es deckt sich nicht mit einem ausgezeichneten institutionellen Spracherwerb, obwohl die institutionelle Lehre hilfreich sein kann; wir sprechen hier von einer anderen Ordnung von Vertrautheit. Wir sprechen auch nicht vom kulturellen Gedächtnis; das kulturelle Gedächtnis ist eine Privatisierung der Geschichte und ereignet sich durch eine wiederholte kollektive Wiedererinnerung: „Das geschah wirklich, das geschah wirklich.“ Man kann dem kulturellen Gedächtnis zutiefst misstrauisch gegenüberstehen, doch das sprachliche Gedächtnis ist ein erworbener Zugang.
Frage aus dem Publikum:
Zu Beginn ihres Vortrags erwähnten Sie in aller Kürze, dass es in Bezug auf Kultur entscheidend ist, über Genderdifferenzen nachzudenken. Könnten Sie den Einfluss auf Sprache, Übersetzung, all diese Stichwörter etwas genauer ausführen? Welchen Einfluss haben Genderdifferenzen ihrer Meinung nach auf Sprache und Übersetzung?
G. Ch. Spivak:
Hier sind zwei Dinge am Werk: Ich habe nicht eigentlich über Sprache gesprochen, sondern über Kulturen. Die Kultur scheint mir eine Verhandlung zwischen dem Transzendenten und dem Profanen, dem Weltlichen. Denn ohne irgendeine Intuition von Transzendenz kann man weder etwas ausführen noch etwas betrauern; alle Kulturen sind Kulturen des Todes. Aus meiner Sicht braucht die Kultur eine Intuition des Transzendentalen, das ist die Verhandlung zwischen dem Heiligen und dem Profanen. Wie funktioniert das? Wenn man ein System erarbeitet, braucht man ein Plus und ein Minus, eine Differenz, sonst wird das System nicht funktionieren. Die erste den Menschen zugängliche Differenz ist die sexuelle Differenz. Ich habe nicht wirklich über Gender gesprochen, sondern über die sexuelle Differenz; Sex und Gender sind selbstverständlich nicht dasselbe. Melanie Kleins Idee, dass die Geburt eine Art Tod, ein Ausgang aus der Welt des Gebärmutterkomforts darstellt, einen lebendigen Tod, in dem das Kind beginnt, ein ethisches System zuerst auf Bedürfnis, Begehren und Wille zu errichten, führt uns auch zu ihrer Überlegung, dass alles, was dem Kind als Bestandteile für dieses semiotische System zur Verfügung steht, Partialobjekte sind. Wir FeministInnen waren in früheren Jahren so nervös in Bezug auf die Biologie, dass wir, als wir Klein wiederentdeckten, ein Verständnis dafür bekamen, wie die sexuelle Differenz langsam in Gendering überging – wir begannen daraus zu folgern, dass Gendering unser erstes Werkzeug der Abstraktion war, und wir betrachteten es als die Möglichkeit des Ausdrucks von sexueller Differenz in der „Kultur“.
Frage aus dem Publikum (Jon Solomon):
Es gibt eine Wissensökonomie, die Sie entworfen haben. Sie führten aus, dass man Sprachen kennen kann; lassen wir das so stehen. Ich denke, es gibt eine kantische Lesart davon, laut der man die Totalität nicht kennen kann …
G. Ch. Spivak:
… ich stimme Ihnen zu, das war zu schnell …
Jon Solomon:
… Sie führten weiter aus – ich zähle hier nur Ihre Aussagen auf –, Kultur sei nicht erkennbar; in unterschiedlichen Momenten adressierten Sie uns dann als Publikum mit Verweisen auf etwas, das wir alle wissen. Sicher, die ganze Frage danach, was ich wissen kann, ist das grundlegende Projekt der kritischen Philosophie. Ich weiß es nicht genau und habe erst kürzlich durch einen Artikel von Dennis Galvin davon erfahren, dass es in Afrika eine Praxis des Witzemachens gibt, in der genau jene Bevölkerungen übersetzen, die keine Vorstellung von einem wie auch immer gearteten Nationalstaat noch einem nationalisierten Sprachempfinden haben. Mich fasziniert die Idee einer ursprünglichen ersten Sprache als Aktivierung. Ich habe sie neurobiologisch verstanden; handelt es sich um die Aktivierung neuronaler Kreisläufe, die weder die Erziehung noch das Wissen betrifft?
G. Ch. Spivak:
Das ist eine schöne Frage. Ich hätte sagen sollen, dass die Versprachlichung aneigenbar ist, und nicht, dass Sprache erkennbar ist. Ich sprach über die Aneignung erster Sprachen im Sinne jener Bewegungen, welche den psychischen Apparaten als solchen vorausgehen. Als Kinder begegnen wir durch diese Versprachlichung uns selbst als Möglichkeit. Sie ist in der Tat bereits telekommunikativ, wir sind tatsächlich von dieser Versprachlichung bereits getrennt und stehen ihr hilflos gegenüber. Worüber wir nachdenken müssen – und das betrifft auch die vorher gestellte Frage zum sprachlichen Gedächtnis –, ist die Reproduktion eines Simulakrums davon im Prozess des Lernens. Die Beschreibung der revolutionären Praxis im „Achtzehnten Brumaire“, die wir alle auswendig kennen und nach der die äußerst genaue Kenntnis einer fremden Sprache dazu führt, dass wir die gegebene oder in uns verwurzelte Sprache dann vergessen, wenn wir in dieser fremden Sprache produzieren – das ist eine Beschreibung des tiefgreifenden Spracherwerbs.
Neuronale Netzwerkbeziehungen lehren uns, dass es die Hardware als psychischen Apparat gibt und die Software als den Ort, an dem uns die Versprachlichung zu verlassen beginnt. In diesem Netzwerk ist das „wir“ so kontingent wie die beiden Momente der korrekten Zeitangabe einer stehengebliebenen Uhr. Man sagt uns, dass eines Tages, wenn der Biochip vollends entwickelt sein wird, Sachen in unsere Köpfe geladen werden, sodass wir allesamt Computern immer ähnlicher werden. Doch das Differenzial zwischen dem Erlernen der ersten Sprache und der weiteren Sprachen wird nicht verschwinden. Ihre Frage bringt zusätzlich noch die Theorie des Wandels ein, nach der das Ereignis den Konventionen des Performativen entwischt. Es handelt sich dabei um einen Verweis auf die Zukunft, da unsere Art zu denken dies nicht enthalten können wird; das ist nicht mystisch, sondern eine echte Theorie der Veränderung. Darum sprach ich davon, die Grundbedingungen* festzulegen – Sie können das auch den Bau der Infrastruktur nennen. Das Ereignis wird den Konventionen entwischen, innerhalb deren wir so umsichtig bauen. Wir brauchen jedoch Pläne; wir können nicht einfach sagen: „Oh, das Ereignis entwischt uns.“
Frage aus dem Publikum (Tom Waibel):
Ihr Verweis auf die Situation in Afrika war äußerst wichtig, da sie während der Konferenz tatsächlich überhaupt nicht Thema war. Dennoch ist mir die Besonderheit von Afrika in diesem Kontext nicht ganz einsichtig. Betrachten wir beispielsweise den amerikanischen Kontinent, wo allein in Mexiko mehr als 65 Sprachen gesprochen werden, welche sich über die Grenzen nach Zentralamerika ausdehnen; wo in Bolivien, mit mehr als dreißig Sprachen, die auch im Amazonasgebiet verteilt sind, beinahe die gleiche Situation eines fehlenden Zugangs zum Meer besteht. Ich verstehe daher die Besonderheit von Afrika in diesem Kontext genauso wenig wie Ihr Beharren darauf, dass in Afrika etwas beginnen wird, was in Indien, in Südamerika oder anderswo nicht entstehen und sich entwickeln könnte.
Moderation (Hito Steyerl):
Ich möchte dieser Frage gerne eine weitere hinzufügen. Heute sprachen wir über die Treue zu verschiedenen politischen Ereignissen, wie etwa die Treue zu den Ereignissen von 1989, doch es wurden auch andere Ereignisse erwähnt. In ihrem Vortrag brachten Sie mindestens zwei weitere politische Ereignisse ins Spiel: Sprechen wir zum Beispiel über Afrika, dann ist die Kongokonferenz, die 1884/85 in Berlin stattfand, vermutlich das politische Gründungsereignis für die unmöglichen Grenzziehungen; die von Ihnen erwähnte arabische Übersetzungstradition steht selbstverständlich in unmittelbarem Zusammenhang mit dem historischen Ereignis von 1492, als die erste Übersetzerschule, eine arabische Schule in Granada, zerstört wurde. Wir hatten also eine Menge Bezugnahmen auf verschiedene historische Ereignisse und verschiedene Beispiele von Treue zu diesen Ereignissen.
Ich frage mich nun – und ich denke, die gerade gestellte Frage ist ein gutes Beispiel dafür –, ob man diese Liste nicht unendlich erweitern könnte. Mir scheint auch, dass diese potenziell unendliche Aufzählung ein weiteres Beispiel für miteinander konkurrierende Paradigmen darstellt, die alle Anspruch auf universelle Gültigkeit erheben. Mir scheint, dass Sie, Frau Prof. Spivak, zwei Auswege aus dieser endlosen Aufzählung politischer Ereignisse angeboten haben, und ich möchte Sie bitten, diese weiter auszuführen. Zunächst das Feld der Spuren: Das hat mich sehr fasziniert, obwohl ich, wie ich gestehen muss, nicht sicher bin, Ihre Ausführungen richtig verstanden zu haben – die Adressierung eines Feldes von Spuren als potenziell gemeinsame Grundlage, die einer anderen Ordnung angehört als die endlose Aneinanderreihung von Lokalitäten. Bietet uns dies eine Möglichkeit der Übersetzung zwischen Menschen an, die unterschiedlichen politischen Ereignissen treu sind, und macht dies eine gemeinsame Artikulation jenseits unterschiedlicher politischer Horizonte möglich? Würde uns dies von der Aufgabe befreien, fehlende Orte, Situationen und Ereignisse endlos aufzuzählen? Wäre dies eine Lösung?
Die andere Frage bezieht sich auf die von Ihnen angesprochene aufwärts gerichtete Klassenmobilität: Wie können wir darüber sprechen, und wie können wir sie als Möglichkeit der Artikulation unterschiedlicher politischer Ereignisse zueinander adressieren, ohne dass wir jenen Ereignissen treu bleiben oder sie verraten müssen? Handelt es sich um eine Möglichkeit, die vertikale Dimension der Globalisierung, die Klassendimension, zu adressieren, ohne von der horizontalen, der geografischen Dimension zu sprechen? Welche Art von Übersetzung brauchen wir in Bezug auf diese Dimension?
G. Ch. Spivak:
Das ist eine ganze Flut von Fragen; ich fühle mich wie in einer mündlichen Prüfung. Zuerst möchte ich betonen, dass Sie, Tom, vollkommen Recht haben. Aber warum sollten wir nicht von Afrika sprechen? Natürlich kann es auch Lateinamerika oder Indien etc. sein, aber ich sprach über Afrika in einer Art skandalisierenden Geste, da sich, weiß Gott, seit Hegel niemand mehr Gedanken über Afrika gemacht hat. Gruppen, die durch nichts anderes als mnemonische Substanzen schrieben, mussten als Gruppen ohne Schrift definiert werden. Es gibt niemals eine Möglichkeit, dass jemand in Afrika beginnen oder etwas finden will – es sei denn, AfrikanerInnen oder AfroamerikanerInnen. Wir müssen uns auch vor Augen halten, dass afrikanische Sprachen nicht als eingeborene Sprachen gelten, sie sind schlicht afrikanische Sprachen. Ein Zugang, der sich mit der „Stadt der Gelehrten“ beschäftigt, ist hier nicht zwangsläufig vorhanden. Panafrikanismus behandelt dies auf sehr interessante Weise. Ich sprach daher von Afrika nicht als einer Art Gewinner eines Wettbewerbs der Opfererzählungen, der zur Quelle der Aufklärung umgewertet wird. Ich glaube, dass es überall seinen Ausgang nehmen kann, es kann auch in New York City beginnen. Aber ich möchte diesen unerhörten Akt der Grenzziehung – diese heterogene Grenzwerdung, die Ungleichheit in der Größe, die Unverhältnismäßigkeit der Grenzen etc. immer noch in Anschlag bringen. Was ich also anbiete, ist ein sich veränderndes Prinzip, ein von Fall zu Fall normiertes Prinzip. Es ist nämlich so, dass der internationale Plan des Sozialismus auch darauf abzielen muss, die lokalen Ökonomien zu unterstützen. Ohne Bezugnahme auf das Lokale lässt sich dies nicht denken, scheint mir.
Frage aus dem Publikum:
Ich wollte nur sagen, dass die Erwähnung von Afrika auf dieser Konferenz kein Fehler von Frau Prof. Spivak war, da sie für eine Äquivalenz zwischen den Sprachen eintrat. Aber wir leben in einer furchtbar ambivalenten Welt, in der wir einerseits die Sprachen der Mächtigen und andererseits die Sprachen der Machtlosen haben. Sie haben vorgeschlagen, diese furchtbare Ambivalenz zu lösen?
G. Ch. Spivak:
Ist das ein Kommentar? Sie fragen mich nicht, was für eine Lösung ich vorschlage? Sie sagen, dass ich das Problem der Ambivalenz zu lösen versuche, indem ich die Menschen auffordere, eine Äquivalenz zu denken, ja?
Frage weiter:
… Ich wollte sie bitten, jene Ambivalenz weiter auszuführen.
G. Ch. Spivak:
Zuerst einmal vielen Dank für Ihre unterstützenden Anmerkungen. Meine Lösung ist eine akademische Lösung, mein Freund. Sie können sich nicht vorstellen, wie schwierig das ist. Ich habe in den letzten siebzehn Jahren versucht, die Struktur dessen zu verändern, was in den Vereinigten Staaten im Rahmen des Spracherwerbs das Erlernen von isolierten, „verwaisten“ Sprachen (orphan languages) – ein unglaublich ambivalentes Wort – genannt wird. Ich bin jemand – Sie wissen möglicherweise nichts über mich – mit einiger institutioneller Macht; dies ist mein vierundvierzigstes Jahr als hauptberuflich Lehrende. Ich habe also wirklich all meine Energien darauf verwendet, und es gibt unglaublichen Widerstand. Es handelt sich um eine strukturelle Veränderung, eine Veränderung des Curriculums, nicht nur um Konferenzen, Seminare und Denkfabriken. Universitäten und tatsächlich die gesamte nationale Szene sind ungeheuer resistent. Dadurch weiß man, dass etwas auf dem Spiel steht.
Moderation (Hito Steyerl):
Gibt es weitere Fragen? Ich habe keine Frage, vielmehr eine Anmerkung: Ich habe mich gefragt, ob über gewisse Geheimnisse nur in Form eines Zitats oder in Anführungszeichen gesprochen werden kann. Ich dachte an das Beispiel, das Sie am Anfang Ihres Vortrags anführten, das Beispiel der ÜbersetzerInnen in Wahrheitskommissionen. Ich frage mich, ob gewisse Zeugnisse nur als Übersetzung oder Zitat repräsentierbar sind. Angesichts der Verfasstheit einer kapitalistischen Aufmerksamkeitsökonomie, Medienökonomie, denke ich, dass jede konkrete Erfahrung oder jede authentische Aussage über Traumata, die Menschen durchleben mussten, unter extremem Stress geschehen würde; diese Aussagen würden als konkrete Erfahrung abgelehnt werden. Daher frage ich mich, ob jenen Aussagen auch in solchen Fällen, diesen Geheimnissen möglicherweise vergleichbar, nur als Übersetzung oder Zitat Ausdruck verliehen werden kann.
G. Ch. Spivak:
Ich empfehle Ihnen eine Arbeit von Ritu Birla, die von der Historiografie selbst als geheime Begegnung spricht, das ist eine sehr gewagte interdisziplinäre Bewegung. Birla ist Historikerin und unterrichtet an der Universität von Toronto, wo sie gerade eine Anstellung erhalten hat. Ihr erstes Buch wird demnächst bei Duke University Press erscheinen, darin schlägt sie eine Historiografie, mitsamt der ganzen Flut quantifizierter Geschichte, die damit einhergeht, ganz in Ihrem Sinne als geheime Begegnung vor. Vielen Dank für ihre Anmerkung.
Moderation (Hito Steyerl):
Gibt es weitere Fragen?
Frage aus dem Publikum:
Sie äußerten Zweifel am Konzept des kulturellen Gedächtnisses. Hat das mit dem strukturalistischen Hintergrund dieses Konzepts zu tun? Wenn dies nicht der Fall ist, warum misstrauen Sie dann diesem Konzept und welche Überlegungen stellen Sie zur Übersetzbarkeit von historischen Bezugsrahmen als narrativ konstruierte Sprachsysteme in Form einer historischen Idee an? Wir könnten es auch historische Interpretation eines gewissen kulturellen Bereichs nennen, anstatt eine Idee oder einen Bezugsrahmen von kulturellem Gedächtnis.
G. Ch. Spivak:
Eine bestimmte, weitverbreitete Verwendung des Konzepts des kulturellen Gedächtnisses ist mir ein wenig suspekt. Wie ich bereits sagte, erscheint mir dies als eine Art Privatisierung der Geschichte, eine Rechtfertigung von Politik, die sich auf die mit dem Begriff des Gedächtnisses einhergehende Idee der Innerlichkeit stützt. Ich denke dabei selbstverständlich an Israel. Das menschliche Merkmal des Erklärungswillens entfaltet sich immer noch in nicht unmittelbar erkennbaren Initiationsriten, wie etwa in der Erziehung als Vorbereitung auf den Krieg. Ich denke selbstverständlich auch an die Situation des Islam. Ich gehöre zu einer gewalttätigen Mehrheit von 86 % in einem Land mit einer Milliarde Menschen und ich habe einen indischen Pass, daher erlebe ich ständig derartige Aufforderung zur Wiedererinnerung wie: „Erinnert ihr euch nicht daran, wie …“, und dann folgt irgendein Müll gegen die Muslime. Das kulturelle Gedächtnis befindet sich in einem Konstruktionsprozess, und es wird Ariertum konstruiert. Was ist also Geschichte? Ich weiß es nicht. Ich sprach über Historiografie – als etwas, das an Kulturalität beteiligt ist –, ich denke etwa an den Fall Bulgarien, ein höchst interessantes Beispiel mit seinen 500 Jahren osmanischer Kontrolle im Gegensatz zu den siebzig Jahren sowjetischer Kontrolle; die relative Wichtigkeit dieser beiden Besetzungen ist eine kulturelle Tatsache. Der britischer Kolonialismus in Indien und die außergewöhnliche imperiale Periode der Moguln sowie Ranajit Guhas Leugnung, dass das Persische eine indische Sprache war – dies sind die Kulturalitäten des Historischen, die untersucht werden müssten.
Moderation (Hito Steyerl):
Da es keine weiteren Fragen mehr zu geben scheint, möchte ich Ihnen, Gayatri Spivak, für die geduldige Beantwortung aller Fragen und für Ihre Anwesenheit heute Abend herzlich danken.
G. Ch. Spivak:
Vielen Dank für die Einladung.
[1] Um ein Gefühl dafür zu bekommen, welche ganz andere Übersetzungsphilosophie von einer Berücksichtung der arabischen Übersetzungsgeschichte ihren Ausgang nähme, vgl. Dmitri Gutas, Arabic Culture: The Graeco-Arabic Translation Movement in Baghdad and Early Abbāsid Society (2nd-4th/8th-10th Centuries), New York: Routledge 1998; dabei darf nicht vergessen werden, dass die Griechen nicht die Einzigen waren, deren Texte die Araber übersetzten. Ich kenne keinen guten zusammenfassenden Text, der die arabische Bewegung in Richtung Osten auflistet. Für eine lebendige, parteiische Diskussion des Falls Thomas von Aquin vgl. die aufschlussreiche Arbeit von Majid Fakry, Averroes, Aquinas and the Rediscovery of Aristotle in Western Europe, Washington: Georgetown Univ. Press 1997.
[2] Benjamin Conisbee Baer und Gayatri Chakravorty Spivak, „Redoing Marxism in Gigi Cafe“, Rethinking Marxism (erscheint demnächst).
[3] A. Adu Boahen, African Perspectives on Colonialism, Johns Hopkins Symposia in Comparative History 15th, Baltimore: Johns Hopkins University Press 1989 (1991), S. 95 f.
[4] Judith Butler und ich diskutierten diese Fragen in: J. Butler und G. Ch. Spivak, Sprache, Politik, Zugehörigkeit, übers. v. Michael Heitz und Sabine Schulz, Zürich u. Berlin: Diaphanes 2007.
[5] Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: Marx-Engels-Werke, Bd. 8, Berlin: Dietz 1960.
[6] Vgl. dazu den Text von Jon Solomon, „Die Bedeutung der Regionen überdenken. Übersetzung und Katastrophe“, übers. von Birgit Mennel und Tom Waibel im vorliegenden Band.
[7] Rainer Maria Rilke, Duineser Elegien, Leipzig: Insel 1931.
[8] Antonio Gramsci, Gefängnishefte, Bd. 6, übers. v. Wolfgang Fritz Haug, Hamburg u. Berlin: Argument 1994, S. 1376.
[9] Vgl. zu dieser Diskussion, Gayatri Chakravorty Spivak, „Notes Toward a Tribute to Jacques Derrida“, différances 16.3, Durham: Duke University Press 2005, S. 102–113; Zu Derridas eigener früher Definition der Spur, vgl. Jacques Derrida, „Die Différance“, in: Ders., Randgänge der Philosophie, Wien: Passagen 1988, S. 45.
[10] Vgl. hierzu den Text von Michaela Wolf, „Translation – Transkulturation. Vermessung von Perspektiven transkultureller politischer Aktion“, in diesem Band.
[11] Vgl. Gayatri Chakravorty Spivak, „Close Reading“, PLMA 121.5, New York: Publications of the Modern Language Association of America, Oktober 2006, S. 1608–1617; sowie für eine breitere Diskussion: Dies., Other Asias, Boston: Blackwell 2007, S. 14–57.
[12] Transnationale 24-Stunden-Lebensmittelkette (Anm. d. Übers.).
[13] Samuel Huntington, Who are we? Die Krise der amerikanischen Identität, übers. v. Holger Fließbach, Hamburg: Europaverlag 2004.
[14] Alton L. Becker, Beyond Translation. Essays Towards a Modern Philology, Michigan: University of Michigan 1995.
* Dieser und alle folgenden mit Asterix gekennzeichneten Begriffe sind im Original deutsch (Anm. d. Übers.).