06 2013
Zwischen Habermas und Rancière: die Demokratie politischer Übersetzung
In diesem Essay skizziere ich ein politisches Modell demokratischer Übersetzung als Lösungsansatz in Fällen einer möglichen Krise repräsentativer und deliberativer Demokratiemodelle. Meine Skizze verknüpft zwei theoretische Gegenpole: Habermas’ Vorstellung von Demokratie als deliberativem, dialogischem Raum und Rancières These der Unmöglichkeit machtfreier, rationaler Deliberation. Ich schlage mit Rancière vor, dass wir politische Deliberation ausgehend vom „Unvernehmen“ denken müssen, das heißt, einem Typus politischer Meinungsverschiedenheiten, die nichts mit gewöhnlichen Missverständnissen zu tun haben, sondern vielmehr mit Machtungleichheiten in konsensdemokratischen Öffentlichkeiten. Anschließend zeige ich, wie sich vermachtete Bühnen der Öffentlichkeit in eine demokratische Öffentlichkeit übersetzen lassen, die politisch ist, weil sie soziale Beziehungen verändert – und in gerechtere Beziehungen übersetzt. Im Zwischenraum von Habermas’ dialogischer Bühne und Rancières Unvermögen liegt die demokratische Praxis politischer Übersetzung, die ich empirisch am Beispiel sozialer Bewegungen und streikender, sprechender Übersetzer/innen untersuche.
Theoretischer Hintergrund für meine Überlegungen ist eine länger anhaltende Debatte zwischen politischer Theorie und Philosophie zu Fragen transnationaler Öffentlichkeit und der Vielfalt der Sprachen (siehe z. B. Fraser 2007; Nanz 2006). Eine gängige Meinung in der politischen Philosophie und empirischen Demokratieforschung ist, dass die „babylonische“ Sprachenvielfalt Grund sei für die sich verschärfende Krise der Demokratie im Kontext globaler Migration, europäischer Integration und kultureller Heterogenität (z. B. Parijs 2011; Putnam 2007). Doch Denker/innen wie Jürgen Habermas führen im Gegenteil an, dass politischer Dialog und Demokratie auf die Ebene der Europäischen Union und in Formen neuer, postnationaler Öffentlichkeiten übersetzbar seien (Habermas 1996, 2005, 2008). Während ein Teil der europäischen Demokratieforschung nun davon ausgeht, dass Sprach- und Kulturbarrieren demokratische Öffentlichkeit strukturell verhindern, argumentieren andere Theoretiker/innen, ähnlich wie auch Habermas, für die Möglichkeit von Demokratie in einer mehrsprachigen europäischen Öffentlichkeit (Kantner 2004; Nanz 2006). Die von Habermas inspirierten Sprachphilosoph/innen definieren jedoch politische Öffentlichkeit über die Annahme einer intersubjektiven, deliberativen (oder dialogischen) Verständigung (Kantner 2004; Nanz 2006).
Die Unmöglichkeit des Verstehens und die Erfindung einer Politik der Übersetzung
Nun deutet die gegenwärtige Krise europäischer Politik jedoch auf ein Scheitern demokratischer Dialoge jenseits des Nationalstaates hin, was auf die Notwendigkeit verweist, auch die Idee transnationaler demokratischer Deliberation zu überdenken und zu erweitern – um die Frage der Unmöglichkeit, der Unübersetzbarkeit, des Scheiterns politischer Dialoge. Ist nun die sich abzeichnende Krise europäischer Demokratie eine Krise der Übersetzung, eine erwartbare Wiederholung des babylonischen Sprachenstreits in einem multinationalen Gebilde, wie Skeptiker/innen schon lange voraussehen? Müssten wir nicht umgekehrt die Frage der Sprachunfähigkeit europäischer Politik jenseits klassischer Sprach- und Kulturbarrieren denken? Was genau ist das Übersetzungsproblem europäischer Politik?
Einen interessanten Gegenentwurf zu Habermas’ Modell einer deliberativen Öffentlichkeit schlägt der französische Denker Jacques Rancière in seinem Werk Das Unvernehmen vor. Rancière behauptet nun diametral abweichend von Habermas, dass Missverständnisse – und nicht etwa die grundsätzliche Annahme der Möglichkeit dialogischer Verständigung – der eigentliche Beginn demokratischer Politik seien. „Unter Unvernehmen wird man einen bestimmten Typus einer Sprechsituation verstehen: jene, bei der einer der Gesprächspartner gleichzeitig vernimmt und auch nicht vernimmt, was der andere sagt“ (Rancière 2002: 9). Rancière ist besonders wichtig, zu zeigen, dass das Unvernehmen ein machtbasiertes Missverständnis zwischen Arm und Reich ist, die miteinander um eine gerechtere Aufteilung streiten, jedoch nicht am gleichen Tisch Platz nehmen können – da die Armen keinen Platz haben, ihre politische Position als Verhandlungsgegenstand nicht anerkannt, akzeptiert und darum auch nicht verstanden wird.
Rancières These hat eine gewisse aktuelle Relevanz, zeigen doch jüngste Medienanalysen eine Polarisierung der Debatten um die Eurokrise entlang nationaler Trennlinien, die die europäische Gemeinschaft in arme und reiche Länder, Gläubiger und Schuldnerstaaten aufzuteilen scheinen. Im Folgenden werde ich behaupten, dass Rancières Gegenmodell uns als Alternative zu gängigen Modellen deliberativer Politik einen Klärungsansatz zur anhaltenden Krise europäischer Öffentlichkeit und Demokratie aufzeigt. Ich werde zeigen, wie Rancières Modell uns hilft, demokratische Übersetzungsprobleme jenseits sprachlicher Barrieren im engen Sinn zu denken, gerade weil er Missverständnisse jenseits von Sprache und doch bezogen auf die Möglichkeit des Sprechens selbst versteht. Damit füllt sein Ansatz eine wichtige Denklücke in der Forschung zu transnationaler Politik und einer politischen Übersetzung der Demokratie in Europa.
Interessanterweise argumentiert Rancière, dass innerhalb der Möglichkeit eines rationalen, konsensorientierten Dialoges im Sinne Habermas’ eine ganz bestimmte Art von Missverständnis – das Unvernehmen – nicht mitgedacht wird. (Rancière 2002: 12, 59). Dieses Unvernehmen ist kein einfaches Missverständnis, das auf die Ungenauigkeit von Wörtern oder Verschiedenartigkeit von Sprachen zurückgeht, so Rancière, sondern auf Machtunterschiede, die einen Konflikt bezüglich der Sprechsituation selbst und der Beziehung der Sprecher/innen zueinander konstituieren:
„Das Unvernehmen ist nicht der Konflikt zwischen dem, der weiß, und jenem, der schwarz sagt. Es ist der Konflikt zwischen dem, der ‚weiß‘ sagt, und jenem, der auch ‚weiß‘ sagt, aber der keineswegs dasselbe darunter versteht. […] Die Extremsituation des Unvernehmens ist jene, bei der X nicht den gemeinsamen Gegenstand sieht, den ihm Y präsentiert, weil er nicht vernimmt, dass die von Y ausgesendeten Töne Wörter bilden und Verknüpfungen von Wörtern, die den seinen ähnlich wären“ (Rancière 2002: 9–11).
Während Rancière die Grenzen eines Verstehens im Habermas’schen Sinn einer konsensorientierten Rationalität im Problem der „Rationalität des Unvernehmens“ aufzeigt (Ibid.: 12, 59), schlägt er einen positiven Begriff des Streits um jenes Unvernehmen selbst als Beginn einer dringend benötigten Politik der Interpretation vor. Diese Möglichkeit einer Politik der Übersetzung, so möchte ich zeigen, zielt auf eine Neuerfindung sozialer Beziehungen und auf eine gerechtere Situation des Sprechens selbst. Interessanterweise stellt Rancière Habermas’ Modell der intersubjektiven Verständigung über die Annahme einer machtfrei gedachten „idealen Sprechsituation“ (Habermas 1973: 258) eine umgekehrte Extremsituation des Unvernehmens gegenüber.[i] In dieser klassischen Situation eines politischen Dialoges hören die Mächtigen zwar, können aber „nicht sehen“, was ihre Gesprächspartner/innen meinen.
Beispielhaft deutet Rancière die Missverständlichkeit der Frage „Habt ihr mich verstanden?“ daher als „performativen Widerspruch“. Die Doppelzüngigkeit der Frage besteht darin, dass „Habt ihr mich verstanden?“ im Alltagsumgang sowohl ein Befehl als auch eine verständigungsorientierte Frage im Sinne deliberativer Demokratiemodelle ist. Mit dieser Kritik zeigt Rancière geschickt die Situation möglicher Machtasymmetrien auf, die Habermas’ unkomplizierte Annahme einer idealen Sprechsituation theoretisch ausschließt – und die Tragweite deliberativer Demokratiemodelle reduziert. In Rancières Lesart ist „Habt ihr mich verstanden?“ ein Ausdruck, der uns sagt, dass „Verstehen“ zwei verschiedene, wenn nicht sogar gegensätzliche Dinge bezeichnen kann: ein Problem verstehen und – in extrem machtasymmetrischen Sprechsituationen – einen Befehl verstehen. Das „Gesetz der Macht“ führt hier zu folgendem performativen Widerspruch, zu einer ungerechten Teilung einer Sprachwelt: Sobald die Empfänger/innen dieses Befehls der Sprecher/in mit „ja, wir haben verstanden“ antworten, bejahen sie ein ungleiches Verhältnis, das die Befehlende zur Sprechenden und Denkenden macht. Indem sie verstehen, stimmen sie einem Verhältnis der Ungleichheit zu, das sie als Ausführende des Befehls definiert, während die Befehlende zur Sprechenden, zur für die Ausführenden Denkenden wird – eine dichotomische Teilung der Demokratie in Expert/innen und unwissendes Volk, die eine Krise der Konsensdemokratie in der Postdemokratie ausdrückt (Rancière 2002: 56–57, 111, 116–119).
Der Beginn einer Interpretation der Politik: Das dritte Volk, das streikt und spricht
Eine demokratische Verständigung im Habermas’schen Sinn, bezogen auf die gegenwärtigen Debatten um die Schuldenkrise der Europäischen Union ist, so könnte man mit Rancière schlussfolgern, also eine Illusion, da das Wort der Expert/innen und die Summe der rechnerisch genau „gezählten“ Stimmen in der Logik der Konsensdemokratie paradoxerweise eine politische, gerechtere Verteilung unmöglich macht (Rancière 2002: 112). In Abgrenzung zu Jean-Francois Lyotard endet Rancières Modell jedoch nicht mit der Annahme eines unversöhnlichen „Widerstreits“ (Lyotard 1989), einer strukturellen Unübersetzbarkeit der Politik (Rancière 2002: 11). Im Gegenteil leitet Rancière nun einen positiven Begriff für die „Rückkehr der Politik“ von der Existenz des Unvernehmens ab. Mein Argument wird im Folgenden besonders auf eine Passage in Rancières Argument eingehen, in der er das Unvernehmen positiv umdeutet: zu einem Modell der Politik als politischer Interpretation oder, wie ich argumentieren werde, „politischer Übersetzung“.
Zentral für einen demokratischen Politikbegriff – den ich hier als Modell für eine gerechtigkeitsorientierte Politik der Übersetzung vorschlage – ist nach Rancière die „anfängliche Verdrehung“ oder Transformation; jene grundpolitische, demokratische „Verdrehung“, in der die Politik das ursprünglich brutale Ungleichverhältnis zwischen Reich und Arm „blockiert“, den Anteillosen einen Anteil zugesteht (Rancière 2002: 26), den Namenlosen einen „Namen im Himmel“, und damit einen irdischen „Platz“ in der symbolischen Ordnung der Gesellschaft (Ibid.: 36, 41). Um zu zeigen, dass politische Übersetzung ein streitender Dialog ist und nicht bloß eine Rebellion, verweist Rancière auf das Beispiel des antiken Sklavenkriegs. Anhand einer Erzählung des Sklavenkriegs bei Herodot zeigt er, dass politische Gleichheit innerhalb einer Gemeinschaft einer Anerkennung der „Armen“ durch die „Reichen“ bedarf – wobei deren Etablierung allein über kriegerische Auseinandersetzung, den Aufstand der Sklaven, jedoch misslingt (Ibid.: 26).
Verblüffenderweise argumentiert Rancière auf Basis eines zweiten Erzählbeispiels, dass eine solche Anerkennung jedoch gelänge, sobald die Armen tatsächlich die Reichen überzeugen könnten, dass sie ebenso wie die Reichen die politische Fähigkeit zur Sprache haben. Hierzu führt Rancière eine Erzählung des französischen Denkers Ballanche ein, der den Beginn einer neuen Epoche politischen Widerstreits im antiken Rom am Fall der Rebellion der rebellierenden Plebejer gegen die allein politisch stimmberechtigten Patrizier nachvollzieht. In ihren Ansprachen im römischen Senat weigerten sich die reichen Patrizier, zu glauben, dass die arbeitenden, aber mittellosen Plebejer, die sich streikend auf den Aventin, den südlichsten Hügel Roms, zurückgezogen hatten und sich dort versammelten, tatsächlich sprechen können: „Sie besäßen die Sprache wie wir, haben sie Menenius zu sagen gewagt!“ (Ballanche, zitiert nach Rancière 2002: 35).
Für Rancière zeigt die empörte Rede der römischen Senatoren das verschärfte Problem des Unvernehmens als Unvermögen dominanter Gruppen und/oder politischer Expert/innen, diejenigen zu hören, die „keinen Namen“ haben. Keinen Namen zu haben, bedeutete für die Plebejer im antiken Rom, auch „keinen Platz unter dem Himmel“ zu haben, da nur diejenigen Namen trugen, deren Familien Land besaßen, deren Familien ihre Privilegien weitervererbten und die sich einen Platz im Senat erkauft hatten (Rancière 2002: 36). Die mittellosen Plebejer wagten jedoch, einen aus ihren Reihen als „demokratischen Sprecher“ auszuwählen. Wichtig ist Rancière, dass dieser Sprecher eine dritte Person war, die erst in dem Moment zum Sprecher wurde, als das Kollektiv ihm eigens dazu einen neuen erfundenen Namen gab (den Namen „Brutus“). Für Rancière ist diese erfundene Namensgebung eine intelligente Behauptung einer heterogenen Gruppe der „Namenlosen“, selbst der „Demos“ zu sein – was überraschenderweise, laut Erzählung, die Anerkennung des Kollektivs durch die unwilligen Patrizier bewirken würde (Ibid: 37). Der eigentliche Skandal und Erfolg dieser politischen Konstituierung als Demos, so Rancière, war, dass die Namensgebung und der Widerstand dieser rebellierenden Gruppe eine unmittelbare, symbolische und anschließend politische Transformation der Beziehung zwischen Patriziern und Plebejern hervorbrachte. So bespricht Rancière die sofortige Verwirrung, die die eigenwillige Namensgebung der Plebejer als Demos auf die Patrizier hatte, die Empörung der Senatoren über diese skandalöse Dreistigkeit – und, überraschenderweise, die notgedrungene anschließende Anerkennung der Plebejer durch den Rat der ältesten Senatoren, die sich gezwungen sahen, die Sprecher der Plebejer anzuerkennen, da diese nun wohl oder übel zu „Wesen der Sprache“ geworden waren (Ibid.: 37). Das wahrhaft politische Sprechen der Plebejer überschritt symbolische Grenzlinien und verschob daher notgedrungen die dominante Identität der Patrizier – mit politischen Folgen.
Nach Rancière hat Politik als Affirmation eines Demos aus einer Gruppe mittelloser Menschen heraus, die wagt, nicht nur zu rebellieren (wie im Beispiel der Sklaven), sondern auch zu sprechen, immer eine transformierende Wirkung auf die Gesamtheit sozialer Beziehungen und die Aufteilung der Macht einer Gesellschaft. Rancière definiert Politik darum ganz explizit als jene seltenen Momente des Sprechens (und der Interpretation der Politik), als eine „Unterbrechung der einfachen Wirkungen der Herrschaft der Reichen, die die Armen als Entität zum Dasein bringt“ (Ibid.: 24). Anders als deliberative Demokratietheorien erfindet Rancière also eine nicht ideale Sprechsituation, in der dominante Gruppen dominierte Gruppen schlichtweg nicht zu hören vermögen – bis zu jenem skandalösen Moment der Politik, in dem sich die Dominierten selbst als politisches Subjekt erfinden, das den Dominanten gleich ist. Die Dominierten müssen nicht nur rebellieren, nicht nur kritisieren, sondern ihre Intelligenz beweisen, ihre eigenen Repräsentanten auswählen, einen neuen Platz in der symbolischen Ordnung der Gemeinschaft erfinden, den es noch nicht gibt, so argumentiert Rancière. So ist jenes unerhörte Sprechen der Nichtgehörten, das eine gemeinsame Sprache zwischen Plebs und Politikexperten einfordert und schon demonstriert – und damit die reguläre politische Ordnung untergräbt und unterbricht – ein kommunikatives Handeln im Sinne Habermas’, und damit ein Handeln, das die Kräfteverhältnisse wirkungsvoll verschiebt (Ibid.: 67).
Wie wird politische Übersetzung in vermachteten Gesellschaften öffentlich sichtbar?
Scharf beobachtet Rancière jedoch, dass das Mainstreaming von Modellen der Deliberation als „Konsensdemokratie“, in allen Politikbereichen und auf allen Ebenen, Momente des politischen Sprechens als Neuinterpretation der Machtverhältnisse unmöglich mache – ironischerweise, indem deliberative Konsensverfahren alle zu Wort kommen ließen und dennoch diejenigen „ohne Namen“ nicht zählten (Ibid.: 35). In Abgrenzung zu Modellen der Konsensdemokratie entwirft Rancière darum ein Modell der „politische[n] Interpretation“ (Ibid.: 99), das das ungleiche Kräfteverhältnis selbst politisch macht und damit zugleich (neu)interpretiert und demokratisch zu verschieben sucht – mit der Folge, dass die Sprache der Namenlosen zählt:
„Die Politik besteht darin, dieses Verhältnis zu interpretieren, das heißt, zuerst deren Dramaturgie zu verfassen, das Argument […] zu erfinden, somit in Bezug zu setzen, was ohne Bezug ist.“ (Rancière 2002: 100, meine Herausstellung)
Dieses kurze Zitat beinhaltet die Kernbegriffe einer „Politik der Interpretation“ nach Rancière: das Argument, die Dramaturgie, die Politik, die Beziehung zwischen unverbundenen Teilen einer Gesellschaft, die ich im Folgenden als Politik der Interpretation oder als politische Übersetzung verstehen möchte.
Mein Modell einer demokratischen Politik der Übersetzung – als Alternative zu repräsentativen und deliberativen Modellen – knüpft zweifach an die folgenden Argumente Rancières an. In Bezug auf Repräsentation spricht Rancière den Begriff der „politischen Interpretation“ zunächst nur kurz an, doch immer wieder kommt er auf das nötige und doch fehlende „Dazwischen“ zurück; das Fehlen einer Beziehung, das der eigentliche Grund für das Unvernehmen ist (Ibid.: 99, 100). Das Unvermögen handelt aber auch von einer fehlenden Übersetzung oder Vermittlung zwischen unterschiedlichen politischen Bühnen – jener der „Repräsentanten“ und des „Nicht-Volks“, der Patrizier und der Plebejer. Dieser feine Sinn für Übersetzung, der doch fehlt, ist für Rancière Kern einer erfinderischen Politik der Interpretation – einer Politik der Translation, in der die Schwachen eine politisch gerechtere Übersetzung ungleicher Machtverhältnisse fordern. So möchte ich mit Rancière argumentieren:
„Es gibt Politik, weil diejenigen, die kein Recht dazu haben, als sprechende Wesen gezählt zu werden, sich dazuzählen und eine Gemeinschaft dadurch einrichten, dass sie das Unrecht vergemeinschaften, das nichts anderes ist als der Zusammenprall selbst, der Widerspruch der zwei Welten, die in einer einzigen beherbergt sind: die Welt, wo sie sind, und jene, wo sie nicht sind, die Welt, wo es etwas gibt ‚zwischen‘ ihnen und jenen, die sie nicht als sprechende und zählbare Wesen kennen, und die Welt, wo es nichts gibt.“ (Rancière 2002: 38)
Zweitens führt Rancière nicht nur den Begriff der politischen Interpretation ein, sondern auch den eines neuen Akteurs: einer Gruppe möglicher politischer Übersetzer/innen, die er als das „dritte Volk“ definiert und deren politische Subjektivierung und Erfindung Politik erst ermöglicht. So nimmt Rancière an, dass mit dem Moment der Konstituierung, in dem sich das dritte Volk politischer Übersetzer/innen aus der Gruppe der Namenlosen heraus einen Demos, eine „politische Subjektivierung“ erfindet, eine neue, gerechtere Politik und sozialer Wandel denkbar wird: „Eine politische Subjektivierung ordnet das Erfahrungsfeld neu“ (Ibid.: 52).
Da die politischen Bühnen, wie im Fall der Patrizier und der Plebejer, getrennt seien, müsste es dem dritten Volk auch gelingen, „einen Ort“ zu finden für überschreitende Formen der Begegnung zwischen „geteilten“ Gemeinschaften. Geteilte Gesellschaften sind gleichzeitig getrennte und doch geteilte Gemeinschaften mit starken internen Machtasymmetrien (Ibid.: 38, 42). Für derartige Gesellschaftsformationen zeigt Rancières Modell der Politik der Interpretation die Macht politischer Übersetzer/innen auf, die anders als gewöhnliche sprachliche Übersetzer/innen Streiks organisieren, in denen sie demonstrieren und öffentlich sichtbar machen, welches zukünftige, gerechte Verhältnis sie wollen:
„Die politische Handlung des Streiks besteht also darin, ein Verhältnis zwischen diesen Dingen herzustellen, die in keinem Verhältnis zueinander stehen, und als Gegenstand des Streits das Verhältnis und das Nicht-Verhältnis zusammen sichtbar zu machen. Dieses Herstellen hat eine Reihe von Verschiebungen in der Ordnung […] zur Folge […].“ (Rancière 2002: 52)
Politische Übersetzung jenseits von Sprache denken: Repräsentation und Deliberation
Theoretisch reizvoll für ein Modell politischer, demokratischer Übersetzung ist, dass Rancière keinen konventionellen sprachlichen Übersetzungsbegriff verwendet: ihm geht es keineswegs um sprachliche Überbrückung, die leicht als neutrale, rein dialogische oder deliberative Überbrückung missverstanden werden könnte. Stattdessen bezieht Rancières Theorie Streit um Machtasymmetrien mit ein. Politische Interpretation definiert er als einen transformativen, folgenreichen und notwendigen Kernteil demokratischer Politik, deren Ausgang diese Beziehungen verändert, eine „Verschiebung bewirkt“. Meine eigene Definition einer Politik der Übersetzung leitet von diesen Gedanken ab, dass Übersetzung dann demokratisch ist, wenn sie an einem gerechten sozialen Ausgleich interessiert ist, damit politisch im Sinne Rancières ist und das Kräfteverhältnis, die sozialen Relationen selbst verändern kann.
Ein zweiter wichtiger Beitrag für die Forschung zu Deliberation ist, dass Rancières Übersetzungsbegriff – als Kritik am ursprünglichen Habermas’schen Modell – die empirische Frage von Machtasymmetrien in kulturell und sprachlich heterogenen Situation mit einbezieht (siehe auch Calhoun 1995: 74–84). Ein weiterer Punkt für die empirische Demokratieforschung ist, dass Rancières Modell politischer Übersetzung bewusst den Zwischenraum von repräsentativen und deliberativen Ansätzen ergründet, sich von beiden abgrenzt und diese dennoch verbindet: Indem sich die Plebejer einen „neuen Namen“ geben und einen Sprecher für ein Kollektiv wählen, das es in der „Wirksamkeit der römischen Polis“ noch gar nicht gibt (Rancière 2002: 36), erfinden sie eine neue demokratische Beziehung. Diese Beziehung verändert die bestehende Ordnung und das Machtverhältnis und erschafft zugleich eine neue Akteur/innengruppe, das „dritte Volk“ der Sprecher/innen, die zwischen der Identität der Namenlosen und der politisch „gezählten“ Patrizier steht. In den Worten Rancières: „Diese Erfindung ist weder die Tat des Souveräntitätsvolks und seiner ‚Repräsentanten‘ noch die Tat des Arbeitervolks/Arbeiter-Nicht-Volks und seiner ‚Bewusstseinsbildung‘. Sie ist das Werk dessen, was man ein drittes Volk nennen könnte, das unter diesem oder jenem Namen agiert, und einen besonderen Streit an die Zählung der Ungezählten knüpft.“ (Ibid: 100)
Sicher ist Rancière nicht der erste Theoretiker, der ein Demokratiemodell im mehrsprachigen, kulturell diversifizierten Kontext Europas anhand von Übersetzungsproblemen denkt. In kritischem Dialog mit deliberativen Öffentlichkeitstheorien entwickelte auch Cathleen Kantner ein hermeneutisches Modell einer mehrsprachigen europäischen Medienöffentlichkeit (2004) und Patrizia Nanz entwarf ein sprachtheoretisches Modell interkultureller Übersetzung und europäischer Verfassungsbürgerschaft (2006). Beide Theoretikerinnen denken Demokratie ausgehend von den Extremsituationen interkultureller Verständigungsprobleme, die über rein sprachliche Differenzen hinausgehen, und sprechen damit eine weitere Form kultureller Missverständnisse an, die bei Rancière nicht zentral ist.[ii]
Andernorts habe ich die empirische Umsetzbarkeit dieser Modelle für mehrsprachige Formen von Öffentlichkeit und Partizipation in europäischen sozialen Bewegungen aufgezeigt (Doerr 2005, 2012). Während Nanz einen dialogischen Ansatz zu politischer Kommunikation als interdiskursiver Übersetzung entwickelt, lehnt Kantner das Rancière’sche Modell der Unübersetzbarkeit ab. Sowohl Nanz als auch Kantner bejahen im Gegensatz zu Rancière die Habermas’sche Annahme des verständigungsorientierten Dialogs. Sie zeigen, wie Verständigung auch in Extremsituationen mehrsprachiger interkultureller Öffentlichkeit gelingen kann. Die Rancière’sche Frage danach, wie politische Übersetzung in machtasymmetrischen Situationen des Dialogs zu europapolitischen Fragen gelingen kann, bleibt somit unbeantwortet.
Ein empirisches Modell und die dritte Macht politischer Übersetzer/innen
Im Folgenden werde ich, aufbauend auf Rancières Gedanken zum Unvernehmen, die Wirkungsweise eines demokratischen Modells der Übersetzung erkunden, das Deliberation nicht von einer machtfreien idealen Sprechsituation aus konzipiert, sondern Machtasymmetrien und strukturelle Missverständnisse systematisch mitdenkt. Im Kern meines Modells steht jenes „dritte Volk“, das Rancière anspricht, dessen öffentliches Sichtbarwerden er gegenwärtig im Kontext europäischer Politik jedoch noch nicht sehen kann (Rancière 2002: 132, 149). Nun möchte ich anhand einiger Beispiele aus meiner Forschung zu sozialen Bewegungen zeigen, dass es in unterschiedlichen Teilen der Welt Gruppen politischer Übersetzer/innen gibt, denen es gelang, vermachtete Bühnen der Repräsentation und Deliberation durch Praktiken der Übersetzung zu verändern, indem sie das Risiko auf sich nahmen, sich einen neuen Ort, Namen, und den Namenlosen eine „dritte Stimme“ zu geben.
Rancières Analyse endet in der Verneinung des konsensorientierten Modells demokratischer Öffentlichkeit und mit der Annahme, dass „die Politik“ in ihrer Besonderheit „selten“ und immer auf lokale und gelegentliche Situationen der Interpretation und Subjektivierung beschränkt sei. Doch ich werde im Gegensatz zu Rancière eine transnationale empirische Politik der Übersetzung diskutieren, die auf nationaler, lokaler oder transnationaler Ebene in Momenten der Krise repräsentativer oder deliberativer Demokratiemodelle vermachtete Bühnen in demokratische Räume umzukehren vermag. Anders als das Habermas’sche Modell der Deliberation impliziert diese Politik der Übersetzung im Kern die Annahme eines grundsätzlichen kategorischen Missverständnisses im Sinne Rancières als Basis politischen Dialogs. Doch anders als in Rancières Modell nehmen politische Übersetzer/innen nicht an, dass es eine gemeinsame Sprache, gemeinsames Verstehen vor dem Diskurs gibt, sondern dass im Gegenteil auch innerhalb der kleinsten Gruppe, ja innerhalb des Individuums selbst, Missverständnisse existieren, deren Übersetzung der Anfang von Demokratie ist.
Der Fall von San Antonio: Übersetzung nach dem Scheitern von Repräsentation
Wie ist Kommunikation in vermachteten, mehrsprachigen Öffentlichkeiten möglich? Um diese Frage zu beantworten, möchte ich zuerst eine interessanten Bühne für mehrsprachige Demokratie auf lokaler Ebene diskutieren, die nicht in Europa, sondern in den USA entstand: Die Stadtverwaltung einer der armen Vorstädte Südkaliforniens in der Nähe von Los Angeles, San Antonio[iii], hatte mehrheitlich beschlossen, die ansässigen spanischsprachigen Migrant/innen in eine neuartige Form des mehrsprachigen politischen Dialogs einzubeziehen. Die Mehrzahl der armen Bewohner/innen dieser Vorstadt war aufgrund ihres migrantischen Hintergrunds vom Wahlrecht ausgeschlossen, und doch ermöglichten es eine Reihe fortschrittlicher Politiker/innen, mehrsprachige Rathausversammlungen einzuführen – eine übliche Praxis, denn auch das lokale Gericht arbeitete mehrsprachig, ebenso die Polizei. Dennoch scheiterten alle Versuche eines demokratischen politischen Dialogs im Rathaus [City Hall] trotz der dafür eingerichteten mehrsprachigen Simultanübersetzung, so die Kritik der Bewohner/innen. Hatte das Gefühl des Unvernehmens zwischen Politiker/innen und Bewohner/innen also doch andere Gründe als die von Rancière diskutierten?
Für Rancière repräsentieren moderne Politiker/innen und Politikexpert/innen in konsensorientierten Bürgerverfahren das klassische Modell der antiken Patrizier, die „nicht die Sprache derer vernehmen können, die keine haben“ (Rancière 2002: 39). Doch in San Antonio waren sowohl Anwohner/innen als auch Stadtrat stolz darauf, ein repräsentatives „All-Latino“-Gremium gewählt zu haben. Zu Beginn der Versammlung zur Frage eines geplanten Großbauprojekts beruhigte der Bürgermeister Pimento[iv] die besorgten Anwohner/innen aus einem der ärmsten Stadtteile, deren Wohnungen durch die Neubauten vom Abriss bedroht waren: „Heute wird jede/r hier gehört werden.“ Der interkulturellen Perspektive entsprechend, sollte an diesem Abend die Übersetzung gelingen, denn für sprachliche Übersetzung hatten die engagierten Politiker/innen gesorgt. Nicht nur Bürger/innen, sondern auch Migrant/innen, die ärmsten der armen Anwohner/innen, konnten daher sprechen und von ihren Repräsentant/innen im Stadtrat gehört werden.
Überraschenderweise waren die Politiker/innen von San Antonio gerade das Gegenteil von Rancières Patriziern: Sie verstanden Spanisch und English und waren stolz darauf, selbst Kinder armer Migrant/innen zu sein, die „ihre Leute“ ganz sicher verstehen würden. San Antonio war im Gegensatz zu seinen Nachbarstädten dafür bekannt, ein – den illegalisierten Migrant/innen gegenüber – vergleichsweise freundliches Umfeld zu bieten. Die gewählten Repräsentant/innen des Stadtrats demonstrierten am Rand der Stadtratsversammlung zum Teil Bürger/innennähe durch direkte Gespräche mit Migrant/innen und Anwohner/innen. Doch am Ende des Meetings war die interkulturelle Übersetzung gescheitert: „Lügner, Lügner! Wählt ihn ab!“ riefen Migrant/innen, Mütter mit Kindern und Arbeiter/innen, die früh morgens aufstehen mussten und die am Abend dieses Meetings viele Stunden lang am Hinterausgang des Rathauses ausgeharrt hatten, bis man ihnen das Recht zu sprechen gegeben hatte. Eine sagte öffentlich:
„Ich, Maria[v], fühle, dass ihr uns nicht repräsentiert. Wenn ihr wirklich etwas verändern wollt, warum schreibt ihr nicht [vertraglich] nieder, dass das neue Wohnungsprojekt wirklich auch sozialen Wohnungsbau beinhaltet? Wir unterstützen das Projekt ja, bloß brauchen wir eine [vertragliche] Garantie. Ihr könntet die Beschlussfassung des Projektes verschieben. Kommt zurück an den runden Tisch und redet mit uns, vertraut uns. Alles, was wir brauchen, sind drei Unterschriften. Schließlich sind nicht wir, sondern ihr im Amt. Ich bin sehr wütend. Ich habe Kinder zuhause, denen ich heute Abend kein Abendessen kochen konnte [weil das Meeting so lange dauerte], sie sind hungrig. Ich bin wütend.“
Die Gründe für das Scheitern des politischen Dialogs in San Antonio sind anderer Art als jene in Rancières Beispiel der repressiven Patrizier. Schweißgebadet versuchten die Repräsentant/innen öffentlich, eine Erklärung für ihre Entscheidung zugunsten des Großbauprojekts und gegen die Forderungen der Anwohner/innen nach einer vertraglichen Garantie für den Bau von Sozialwohnungen zu rechtfertigen: „Ich möchte mich entschuldigen, und ich verspreche, ich setze mich weiter dafür ein, dass dieses Projekt tatsächlich neue soziale Wohnungen bringen wird“, sagte einer. Eine junge Repräsentantin sagte: Ich habe für euch gearbeitet. Ich weiß, es ist schwierig [zu verstehen] weil wir heute Abend nicht auf der gleichen Bühne sind, aber ich möchte, dass ihr Vertrauen habt. Die Art, wie wir heute entscheiden, sagt viel über Komplexität aus. Der Bürgermeister wird sich über diese Entscheidung freuen.“ Ein älterer Politiker sagte: „Du gehst nicht in die Politik, um geliebt zu werden, sondern um taffe Entscheidungen zu treffen, und das war eine.“
Warum Repräsentant/innen kein drittes Volk abgeben: Verstehensgrenzen im Amt
Anders als klassische politische Eliten behaupteten zumindest einige der frisch gewählten Repräsentant/innen von San Antonio, dass sie die Sorgen der Armen verstünden, die durch das Großprojekt einer privaten Planungsfirma ihre Wohnungen verlieren würden. Gerade darin liegt, so vermute ich, die Ironie und das Scheitern der Übersetzung in Form einer politischen Repräsentation: Die Repräsentant/innen glaubten, jenes „dritte Volk“ zu sein, das die Armen repräsentierte. Alle entscheidungsverantwortlichen Repräsentant/innen hatten im Wahlkampf betont, dass sie als Kinder armer Latino-Migrant/innen zur Wahl angetreten waren, um etwas zu verändern. Sie glaubten zu verstehen, doch sie irrten: In dem Moment, in dem diese engagierten Bürger/innen zu Repräsentant/innen wurden, „ins Amt“ kamen, verstanden sie etwas anderes, nämlich die „Komplexität“ und Entscheidungsrationalität ihrer politischen „Bühne“, die der Verstrickungen zwischen Bürgermeister, neu Gewählten, Verwaltung und Wirtschaft. Darum trafen sie eine „taffe“ Entscheidung, die keine sozialen Wohnungen garantierte.
Das Unvernehmen der Repräsentant/innen wird sichtbar, wenn wir die nonverbalen räumlichen Interaktionen im Rathaus betrachten: Als Teilnehmerin der abendfüllenden Versammlung im Rathaus sah ich zu, wie die Verwaltungsangestellten und das Securitypersonal Migrant/innen mit kleinen Kindern baten, die hinteren Plätze zu besetzen, sie aufforderten, am Rand, im hinteren Teil der Versammlung zu stehen. Das Servicepersonal wies dagegen Wirtschaftsvertreter/innen oder angesehenen Bürger/innen eigens Plätze in der ersten und zweiten Reihe zu. Immer, wenn gebrochen englisch sprechende Migrant/innen kritische Argumente äußerten, wurden sie durch den Bürgermeister unterbrochen, der ihre spanischen Namen falsch aussprach oder, im Extremfall, das Securitypersonal bat, eine/n aufmüpfige/n Redner/in zurechtzuweisen und ihren Pass zu kontrollieren.
Mithilfe des neuen Begriffs einer politischen Übersetzung zeigen diese Eindrücke, warum die Beziehung demokratischer Repräsentation in San Antonio dramatisch scheiterte: weil sie auf der falschen Annahme eines unkomplizierten Dialogs beruhte. Theoretisch verallgemeinernd möchte ich daraus folgern, dass gerade in der Annahme eines unkomplizierten intersubjektiven Verstehens – der Annahme einer idealen Sprechsituation seitens der Repräsentant/innen – die Möglichkeit eines wahrhaft demokratischen oder deliberativen Dialogs zwischen Politiker/innen und Betroffenen scheiterte.
Die Geteiltheit der Bühnen und ihre Verbindung durch das Übersetzer/innen-Kollektiv
Aus Rancières Perspektive betrachtet, scheiterte politische Übersetzung in San Antonio auch an der Geteiltheit der politischen Bühnen: In Rancières Beispiel im alten Rom sprechen die Patrizier nur mit ihresgleichen, das heißt, mit „gezählten“ Abgeordneten im Senat. Nur ein einziger gutmütiger Patrizier spricht am Aventin als Abgesandter mit den Plebejern (Rancière 2002: 35ff.). Doch anders als Rancières böswillige Patrizier erkannte jene junge Repräsentantin im Rathaus von San Antonio durchaus das Problem des Unvernehmens, das ihrer Meinung nach durch die Trennung der politischen „Bühnen“ in Repräsentant/innen und Volk verursacht wurde. So sagt sie gegenüber den wütenden Anwohner/innen: „Ich weiß, es ist schwierig [diese Entscheidung zu verstehen], weil wir heute Abend nicht auf der gleichen Bühne sind, aber ich möchte, dass ihr Vertrauen habt.“ Doch die Repräsentantin wird ausgebuht.
Ich möchte am Beispiel von San Antonio zeigen, dass sich angesichts des Scheiterns politischer Repräsentation noch eine andere Gruppe möglicher politischer Übersetzer/innen formierte, eine kollektive Gruppe von Anwohner/innen, und darum eine Art „drittes Volk“ in Rancières Sinn, die sich von der Gruppe der Repräsentant/innen und der Anwohner/innen unterschied. Ich möchte behaupten, dass dieser Gruppe, gerade weil sie kollektiv agierte, der Akt der demokratischen Übersetzung tatsächlich gelang.
Eine dieser Übersetzer/innen war Carla[vi], eine junge zweisprachige Community-Organisatorin Mitte zwanzig, die, anders als die jungen Politiker/innen, an eine gemeinsame Sprache jenseits der Aufteilung der Rollen glaubte (Rancière 2002: 132). Das ist wichtig, denn Carla glaubte, anders die eben zitierte junge Repräsentantin, nicht an ihre individuelle politische Karriere, sondern an eine gemeinsame Politik. Für Carla war Politik nicht das Ideal eines Dialogs zwischen gleichen Partner/innen. Ziel ihrer Arbeit war vielmehr, dass jene, „die kein Recht dazu haben, als sprechende Wesen gezählt zu werden, sich dazuzählen […].“ (Rancière 2002: 38). So baute Carla im Teamwork gemeinsam mit anderen an einer politischen Communità der Ärmsten. Carla und ihre Mitstreiter/innen waren unterbezahlte oder freiwillige Community-Organizer. Allesamt selbst Kinder armer Migrant/innen versuchten sie, einen neuen Ort und neue Beziehungen zwischen Repräsentant/innen und Anwohner/innen zu schaffen, den es im Rathaus noch nicht gab. Carlas Organisation gründete dafür ein Community-Forum (die nötigen Versammlungsräume stellte unter anderem die katholische Kirche zur Verfügung), in dem diejenigen, die im Rathaus hinten stehen mussten, vorne auf der Bühne direkt neben den gewählten Repräsentant/innen saßen. Neu war, dass nun die Volksvertreter/innen und die nicht Vertretenen auf Augenhöhe saßen und dass die Redezeiten der Politiker/innen eingeschränkt waren. Neu war auch, dass Carla und weitere Community-Organizer/innen gezielt armen, Spanisch sprechenden Migrant/innen ermöglicht hatten, Verhandlungsführer/innen zu werden, indem sie diese als städtische Expert/innen [civic experts] und Community-Leader ausbildeten. Ich beobachtete, dass Maria, die schon im Rathaus gesprochen hatte, nun zu einer solchen neuen Community-Leader geworden war.
Maria sprach kein Englisch und war im Rathaus regelmäßig vom Bürgermeister unterbrochen worden. Ihre Worte im Rathaus waren: „Ich, Maria, fühle, dass ihr uns nicht repräsentiert.“ Nun leitete Maria gemeinsam mit einem zweisprachigen Anwohner den Dialog mit den eingeladenen Repräsentant/innen. Letztere empfanden dies als eine recht unerhörte Gesprächssituation, die die Machtverhältnisse in Wort, Redezeit, Sprache und Raumaufteilung im Vergleich zu dem Treffen im Rathaus umkehrte. Genau das war Carlas politisches Ziel: eine gezielte Dramaturgie und die Erschaffung eines neuen Raumes, der die Machtverhältnisse, die herrschende Ordnung auch in anderer Hinsicht unterbrach. Sobald ein/e Repräsentant/in eine/n Anwohner/in wie gewöhnlich unterbrach, intervenierte Carla, und während im Rathaus der Stadtanwalt und der Bauplaner als Experten zur Frage des Bauprojekts auftraten, waren es nun Anwohner/innen wie Maria, die als civic experts den Verhandlungsstand und die Forderungen der Community darlegten. Weil jeder von Marias kritischen Forderungen von der Community laut applaudiert wurde, repräsentierte sie in diesem Moment die Stimme der Gemeinschaft, stellte kritische Fragen, auf die die Repräsentant/innen in teils gebrochenem, teils fließendem Spanisch oder auf Englisch antworteten. Maria war die dritte Stimme San Antonios, und die viel jüngere Carla war durch die enge Kooperation Marias Freundin geworden, die auf Marias Kinder aufpasste.
Was eine Politik der Übersetzung definiert: bewusste Umkehrung und Unterbrechung
Ich verstehe Carlas und auch Marias Politik als eine Praxis der politischen Übersetzung, wie sie Rancière beschreibt, eine Praxis, die den natürlichen Fluss von Machtasymmetrien „blockiert“ und „umkehrt“ (Rancière 2002: 26). Carlas Politik der Übersetzung interpretierte die soziale Beziehung zwischen Repräsentant/innen und Namenlosen neu, indem sie ganz praktisch einen neuen Raum erfand: das Community-Forum. In diesem ungewöhnlichen Sprechraum außerhalb der üblichen Rathausversammlungen trafen Repräsentant/innen und Anwohner/innen als Gleiche zusammen – damit wurde ein politisch derzeit nicht existierendes Verhältnis sichtbar. Subversiv in Rancières Sinn ist diese Praxis, weil Carla und ihre Mitstreiter/innen bewusst und geschickt existierende Ordnungen der Sitz- und Sprechordnung im Rathaus umkehrten. Ungebildete Arbeiter/innen wie Maria beispielsweise bildete Carla zu einer demokratischen Sprecherin aus (vgl. Rancière 2002: 37ff., 72). Maria war eine neu zugewanderte, nicht wahlberechtigte Migrantin, doch im Community-Forum agierte sie nun selbstbewusst als politische Expertin. Ich beobachtete, wie die Politiker/innen, die Maria im Rathaus unterbrochen hatten, sich gezwungen sahen, Marias kritische Fragen zu beantworten und unter dem Druck der Versammlung Änderungen ihres Entscheidungsvorhabens zuzustimmen. Das paradoxe, transformierende Element dieser politischen Übersetzungssituation aus Rancières Perspektive sind nicht nur diese erstrittenen Zugeständnisse, sondern auch die Symbolkraft des abschließenden Votums: Anstelle der Konsensentscheidung, bei der im Rathaus nur die Repräsentant/innen abstimmen durften, stimmten die Anwohner/innen im Community-Forum selbst über einen Vorschlag, eine Vertragsgarantie ab. Diesen Vorschlag hatten die demokratischen Sprecher/innen unter Einbeziehung der öffentlichen Diskussion vorbereitet; die anwesenden Repräsentant/innen werden somit Zeug/innen dieses symbolischen (rechtlich jedoch unwirksamen) Beschlusses. Nach Rancière definiert diese umstrittene, nicht wirksame/wirksame politische Symbolkraft des Votums im Raum die eigentliche Macht politischer Interpretation. Demokratische Übersetzung ist die „Wahl“, die es real noch nicht geben kann (Ibid.: 35). Wie ich zeigte, zählten die kritischen Stimmen der armen Arbeiter/innen innerhalb eines exklusiv gestalteten deliberativen Verfahrens im Rathaus von San Antonio nicht, und als stimmenlose Migrant/innen konnten die Anwohner ihre Repräsentant/innen nicht abwählen, auch wenn Maria das forderte.
Eine durch Rancières Theorie aufgeworfene Frage ist die, ob und inwieweit „seltene“ und möglicherweise rein symbolische Akte der „Interpretation der Politik“ wie im Falle des Community-Forums tatsächlich längerfristige Folgen und politische Kräfteverschiebungen nach sich ziehen könnten (Ibid.: 52). Offen bleibt auch die Frage: Wie könnte politische Übersetzung tatsächliche Entscheidungsprozesse verändern und auch über lange Zeiträume zu institutionellen Veränderungen führen? Eine zweite empirische Frage knüpft daran an: Wie unterscheidet sich die Macht politischer Übersetzer/innen von denen gewöhnlicher, rein sprachlicher Übersetzer/innen? Ich habe gezeigt, dass Carla eine demokratische Übersetzerin war, die mit einer gezielten Politik der Übersetzung arbeitete, in der es nicht so sehr um das klassische Übersetzen im Sinne eines Überbrückens von Sprachbarrieren ging – schließlich waren die Repräsentant/innen in San Antonio und die Mehrzahl der Anwohner/innen zweisprachig. Vielmehr war Carla eine Aktivistin, der es um den Aufbau einer Community ging, und – das ist der entscheidende Punkt – Carla war Teil eines Kollektivs von Demokratie-Übersetzer/innen, die lokal neue Räume, Rollen, und Sprechformen für politischen Dialog aufbauen wollten. Die Macht dieser Übersetzer/innen entfaltete nur im Kollektiv ihre Wirkung, als eine ermöglichende Macht, die es den demokratischen Sprecher/innen der Namenlosen wie Maria erlaubte, die Verhandlung und die Vertragsbedingungen gegenüber den Repräsentant/innen neu zu imaginieren und effektiv Entscheidungsänderungen einzufordern. Carlas Rolle im Community Forum war nur begleitend, wurde jedoch immer dann sichtbar, wenn die Repräsentant/innen die Sprecher/innen der Namenlosen zu unterbrechen suchten.
Die Rolle des dritten Volkes, und die Macht demokratischer Übersetzung
Der entscheidenden Frage nach der Besonderheit der kollektiven Macht des dritten Volkes der Übersetzer/innen und ihrem Erfolg, auch langfristig politische Übersetzungsleistung zu erbringen, ging ich in einer zweiten Fallstudie nach. Weil ich, anders als Rancière, nicht glaube, dass Politik als Interpretation nur lokal stattfinden kann, ging ich der Wirkung von politischer Übersetzung auf europäischer Ebene nach und untersuchte, welche Folgen sie langfristig nach sich zog, in Entscheidungsprozessen, die ich über mehrere Jahre beobachtete. Mein Untersuchungsbeispiel war das Europäische Sozialforum (ESF), eine von Aktivist/innen im letzten Jahrzehnt weit genutzte transnationale Versammlungsöffentlichkeit der globalisierungskritischen Bewegungen in Europa. Über zehn Jahre hinweg gelang es den Veranstalter/innen des ESF, eine lebendige Gegenöffentlichkeit zu EU-institutionellen Diskussionen und Entscheidungen aufzubauen, EU-weite Alternativen und Proteste abzustimmen und transnationale Kampagnen zu entwickeln. Leider gelang es den nationalen Sozialforumsöffentlichkeiten, die ich in drei Ländern untersuchte, nicht, eine partizipative Demokratie und politischen Dialog länger als ein oder zwei Jahre nach ihrer Gründung aufrechtzuerhalten. Zu tief schienen in allen untersuchten Ländern (Italien, Deutschland und Großbritannien) die ideologischen Gräben und Unterschiede auf nationaler Ebene; zu schnell endete der begonnene demokratische Dialog innerhalb der nationalen Versammlungen in heftigen Konflikten zwischen einflussreichen Gewerkschaftsführer/innen, Parteifunktionär/innen und den „radikalen“ lokalen Bewegungsaktivist/innen (Doerr 2012). Gerade Mitglieder lokaler Bürger/innenforen, vor allem Frauen, Autonome, Anarchist/innen und Migrantenvertreter/innen fühlten sich auf nationaler Ebene durch ein Modell radikaldemokratischer Konsensfindung ausgegrenzt, das von wenigen etablierten Politikexpert/innen und/oder Berufspolitiker/innen großer Organisationen beherrscht wurde (Ibid.).
Was genau bewirkte, dass gerade die auf nationaler Ebene Ausgeschlossenen sich in den europäischen Versammlungen stärker eingeschlossen fanden? Dieser Frage ging ich in meiner Vergleichsstudie europäischer und nationaler Sozialforumstreffen am Beispiel der drei untersuchten Länder nach. Interessant ist zum einen, dass einflussreiche Parteien und Gewerkschaften sowohl auf nationaler als auch europäischer Ebene dominierten – sie besetzten die Positionen der Moderator/innen, die den Konsens vorbestimmten. Wie schon bei den politischen Repräsentant/innen in San Antonio, weisen meine Interviews mit diesen einflussreichen Partei- und Gewerkschaftsvertreter/innen und Moderator/innen auf Spuren des Unvernehmens hin. Als von Organisationen finanzierte „Delegierte“ hatten es Moderator/innen einfacher, auf allen internationalen Treffen präsent zu sein und verstanden ihre eigene Rolle gewissermaßen als Politikexpert/innen gegenüber der Basis: „Die lokalen Aktivisten haben keine Ahnung“, war ein typischer Kritikpunkt einer Moderatorin, die mir in einem Interview sagte, dass sie nicht verstehen könne, warum die lokale Basis der Sozialforen immerzu die „Organisierten“ kritisierte, die auf europäischer Ebene unliebsame Entscheidungen trafen.
Eine Migrant/innenvertreterin klagte hingegen über das strukturelle Nicht-Verstehen-Wollen und die Ignoranz seitens der Berufsaktivist/innen: „Es ist, als ob wir Luft wären. Sie sitzen mit uns im gleichen Treffen, doch sie hören nicht zu, wenn wir reden.“ Tatsächlich wurden Migrant/innen in den nationalen Treffen, an denen ich teilnahm, oft unterbrochen, und ihre Stimmen bei Konsensbeschlüssen „zählten“ ebenfalls nicht viel, wie nach Rancières Modell erwartbar (Rancière 2002: 132). Ein Moderator bestätigte das von seiner Seite ganz offen in einem Interview: „In keinem einzigen Meeting, in dem ich Moderator war, habe ich meine Position wegen so etwas wie einer Art ‚deliberativem Prozess‘ verändert. Wir Moderatoren reden vor den jeweiligen Versammlungen miteinander über das, was wir wollen, und das wird auch entschieden.“ Offiziell deliberative Verfahren dienten also inoffiziell der Legitimierung bereits existierender ungleicher Herrschaftsbeziehungen, in denen bestimmte Gruppen und Berufspolitiker/innen mehr Einfluss hatten als andere.
Paradoxerweise beobachtete ich, dass die Stimmen der lokalen Basis und der Migrant/innen in den europäischen Versammlungen hingegen – in einer durch die Sprachenvielfalt bedingten Situation permanenter Verständigungsschwierigkeiten – mehr „zählten“ als auf nationaler Ebene (Doerr 2012). Bei Verteilungskonflikten etwa trafen die nationalen Versammlungen Entscheidungen im „Konsens“, die auf europäischer Ebene durch Streit revidiert wurden. Und davon profitierten immerzu die auf nationaler Ebene Marginalisierten: lokale Gruppen, Migrant/innen, Feminist/innen, Anarchist/innen. Ein britischer Anarchist kommentierte das so: „Nationale Versammlungen sind weniger demokratisch als europäische. Übersetzung reduziert die Hegemonie einiger weniger Insider. Sie ermöglicht Neuen einfacheren Zugang.“ Eine Basisaktivistin der deutschen Linkspartei sagte: „Auf nationaler Ebene hat die Dominanz einiger von uns die Demokratie praktisch erstickt. Bei europäischen Meetings ist immer die Hoffnung, dass etwas Neues möglich ist.“ Eine Migrantin sagte: „Bei nationalen Meetings fühle ich mich wie ein Stück Holz in einem Meer. Ich bevorzuge die europäischen Meetings. Wenn ich etwas nicht verstehe, zum Beispiel auf Französisch heute, übersetzen meine Freunde für mich.“
Warum genau begünstigten europäische Meetings die Namenlosen? Dialogisch orientierten Sprach- und Übersetzungstheorien zufolge ist eine Extremsituation mehrsprachiger Kommunikation gerade aufgrund sprachlicher Missverständnisse eine unerhört günstige „außergewöhnliche Sprechsituation“ für demokratischen Dialog (Nanz 2006; Kantner 2004). Doch leider stellte ich als Beobachterin fest, dass die Moderator/innen der europäischen Versammlungen als routinierte Berufspolitiker/innen „die Namenlosen“ ebenso ignorierten, wie sie es auf nationaler Ebene zu tun pflegten. Das Modell mehrsprachiger Übersetzung, eingeführt von einem Freiwilligenteam von Simultan-Dolmetscher/innen, den so genannten Babels, ermöglichte Entscheidungsprozesse in fünf oder mehr Sprachen. Doch in den Kaffeepausen ignorierten die Moderator/innen auf der europäischen Ebene die Namenlosen, ebenso wie sie es auf nationaler Ebene taten. Eine Migrantin erzählte:
„In einer Kaffeepause versuchte ich, mit der Moderatorin des französischen Organisationskomitees zu sprechen. Es ging um eine wichtige Frage: einer unserer Sprecher für die in Deutschland lebenden Migranten war einfach von der europäischen Liste gestrichen worden. Doch sie schüttelte nur den Kopf und sagte, dass sie mich nicht verstand. Mein Englisch ist wirklich schlecht. Doch sie drehte sich einfach um und sprach mit einer anderen Person weiter, sie ließ mich einfach allein da stehen. Ich war empört! Ich erzählte dieses Problem [anderen].“
Wie die oben zitierte Migrantin andeutete, stellten die europäische Versammlungen für Migrant/innen die Bühne zur Verfügung, das Unvernehmen zu problematisieren. Der Grund dafür war die Anwesenheit der freiwilligen Babels-Sprachübersetzer/innen: Während die Ignoranz der Moderator/innen auf nationaler Ebene in den Exodus (Rancière) der frustrierten Bewegungsbasis umschlug, ermöglichte Mehrsprachigkeit ein Gehört-Werden der Marginalisierten – jedoch erst ab dem Moment, in dem die sprachlichen Babels-Übersetzer/innen rebellierten, um das Unvernehmen sichtbar zu machen.
Rebellion der Übersetzer/innen: Unvernehmen auf europäischer Entscheidungsebene
Die Babels-Simultanübersetzer/innen bei europäischen Versammlungen des ESF waren selbst Basisaktivist/innen, die von Moderator/innen bei nationalen Versammlungen oft nicht ernst genommen wurden, manche von ihnen waren Migrant/innen, andere Basisaktivist/innen, Feminist/innen, Anarchist/innen. In Rancières Sinn hatte diese ethnisch und national heterogene Gruppe der Übersetzer/innen ein kollektives politisches Subjektivierungspotenzial: die Übersetzer/innen waren ein „drittes Volk“, das weder identisch war mit Berufsaktivist/innen, noch mit einer einzelnen ethnischen, sprachlichen oder ideologischen Gruppe der Teilnehmenden. Vielmehr verfügten die Babels – und nur als Kollektiv – über das Wissen vieler Sprachen und das Wissen, um die ungerechte Übermacht einiger weniger und die Diskussionsordnung selbst zu verändern. Was gab den Übersetzer/innen die Macht, Veränderung möglich zu machen?
Als sprachliche Übersetzer/innen waren die Babels in einer strategisch günstigen Schlüsselrolle, die sie gewissermaßen legitimierte, die Moderator/innen jederzeit zu unterbrechen – um etwa Sprachkonflikte und interkulturelle Missverständnisse zu vermeiden. Doch in Situationen des Unvernehmens fielen die Babels plötzlich aus der Rolle; sie nutzten ihre Brückenposition strategisch. Jenseits einer Funktion der neutralen Sprachübersetzung „unterbrachen“ die Babels-Übersetzer/innen nun die Moderator/innen, wann immer diese eng miteinander kooperierenden europäischen „Eliten“, wie sie genannt wurden, ihre Basis nicht mehr verstanden oder nicht hören wollten.
Kurz nach der oben beschriebenen Szene des Unvernehmens und der erneuten Marginalisierung einer Basisaktivistin und Migrantin traten die freiwilligen Sprachübersetzer/innen ans Mikrofon der Versammlung, um ihren Streik anzukündigen: „Wir freiwilligen Babels-Dolmetscher/innen legen jetzt unsere Arbeit nieder, so lange bis sich hier etwas verändert. Es kann nicht sein, dass die Moderator/innen nur mit [einigen] sprechen [die sie gut kennen], und dagegen [Migrant/innen und Leute aus anderen Ländern] ausschließen.“
Übersetzer/innen unterbrechen ungleiche Beziehungen und verknüpfen Unverbundenes
Symbolisch unterbrachen die streikenden Übersetzer/innen damit das ungleiche Verhältnis zwischen Berufsaktivist/innen und der Basis; sie solidarisierten sich mit den Ausgeschlossenen, von denen sie sich doch unterschieden. Ich möchte die besondere Position der Übersetzer/innen herausheben: Sie agierten als Kollektiv, sie hatten das sprachliche Wissen, kannten sich gut aus in den Verhandlungsinhalten und sie kannten die Doppelmacht der Übersetzung, die nicht nur Kulturbarrieren überbrücken kann, sondern auch symbolisch-kulturelle Barrieren der Macht tiefgreifend zu verschieben vermag (Calhoun 1995: 82). In dem Moment, in dem die Übersetzer/innen streikten, verließen sie die Rolle scheinbar neutraler sprachlicher Übersetzer/innen oder interkultureller Mediator/innen. Die nicht bezahlten Übersetzer/innen fielen sprichwörtlich aus der Rolle, um das Wagnis einer Politik der Übersetzung einzugehen.
Das Geheimnis der Macht der sprachlichen Übersetzer/innen bestand darin, in der günstigen Position zu sein, die Rollen sowohl einer Brücke als auch einer Unterbrechung ungleicher sozialer Beziehungen in der Person des Dritten zu vereinen. Die Aktion der Übersetzer/innen endete nicht mit ihrem Streik, sie traten in Dialog mit den Moderator/innen des ESF, forderten eine Anerkennung der Basisaktivist/innen und überzeugten die „Eliten“ davon, die politische Rolle der Übersetzer/innen selbst zu sehen, die bis dahin als pure Dienstleister/innen missverstanden wurden. Ein Babels-Dolmetscher sagte: „Als Simultanübersetzer hast du Macht und hast keine Macht. Du wirst hier auf dem ESF behandelt wie die Servicedame, die den Kaffee bringt. Doch die ‚ESF-Eliten‘ brauchen uns wegen unserer technischen Expertise.“
Das Unvernehmen der „ESF-Eliten“ bezog sich also nicht nur auf die „Basis“, sondern ging darüber hinaus. Auch die Stimmen ihrer Dienstleister/innen „hörten“ die Berufsaktivist/innen nicht, sie verkannten die tatsächliche politische Intention der Übersetzer/innen, sagte ein anderer Babels-Übersetzer: „Was das Aktivistenherz der Babels schmerzt, ist das Missverständnis und die Missachtung unserer Arbeit. Wir werden behandelt wie Dienstleister, als ob wir bezahlt werden. Dabei geht es uns darum, dass jede Stimme hier gehört wird.“ Ein Moderator bestätigte dieses Missverständnis und machte auch seine Sichtweise plausibel, in dem er auf die Kosten für technisches Übersetzungsequipment hinwies: „Die Übersetzung der Babels-Freiwilligen ist nicht immer gut. In einem Meeting brach die Software für die Übertragung der Simultanübersetzung komplett zusammen. Ich war so wütend. Ich wollte mein Geld zurück.“
Für die „Eliten“ des ESF waren die Babels beim besten Willen einfach Simultanübersetzer/innen, die ihren Dienst bitte professionell zu verrichten hätten. Doch die Babels arbeiteten im ESF als Freiwillige, die ihre Übersetzungsarbeit ohne Bezahlung leisteten, um das Sprechen der Namenlosen zu ermöglichen. Für Rancière drückt diese Situation des doppelten Missverständnisses ein klassisches Unvernehmen aus, in welcher der wahre Kern des Streits das (ungleiche) Verhältnis zwischen Übersetzer/innen und „Eliten“ selbst betrifft (Rancière 2002: 12): Die „Eliten“ „hörten“ die Stimmen der Babels nur als Dienstleister/innen. Dieses Verhältnis ist nicht verwunderlich, entspricht es doch einem historischen und traditionell patrimonialen Status von Übersetzungsarbeit, in dem sprachliche Übersetzer/innen oft Sklav/innen waren, die einem Herrn dienten und im Zweifelsfall ihren Kopf dafür herhielten, wenn sie etwas „falsch“ übersetzt hatten (Bellos 2011). Nun waren jedoch die Babels-Übersetzer/innen gerade keine Sklav/innen, sondern Freiwillige, ohne Bezahlung, und gerade daher unabhängige politische Übersetzer/innen.
Anders als im Beispiel der Sklavenrebellion bei Rancière gingen die Übersetzer/innen nun daran, neue, demokratischere Bindungen aufzubauen zwischen bisher unverbundenen Teilen (Rancière 2002): Sie überzeugten die politischen Eliten des Europäischen Sozialforums davon, dass die Basis tatsächlich „sprach“, wie ein streikender Übersetzer sagte: „Ich sprach mit [einer einflussreichen Moderatorin]; ich erklärte ihr, dass die Mächtigen die kleinen Gruppen einschließen müssen.“ So konnte ich zeigen, dass diese überzeugenden Übersetzungsinterventionen die Position der Moderator/innen tatsächlich tiefgreifend veränderten, und damit Machtungleichgewichte und Entscheidungen verschoben (Doerr 2012). Der Streik und die Überzeugungsaktionen der Übersetzer/innen belegen die politische Subjektbildung der anfänglichen Sprachübersetzer/innen hin zu einem politisch sprechenden „dritten Volk“, das seine kollektive Intelligenz nutzte, um den Mächtigen mit Argumenten in ihrer eigenen Sprache zu zeigen, dass die Basis aus „sprechenden Wesen“ bestand (Rancière 2002: 36).
Meine empirische Fallstudie zum ESF deutet darauf hin, dass demokratische Übersetzung nicht nur in lokalen, sondern auch in machtasymmetrischen transnationalen Versammlungen auf europäischer Ebene möglich scheint. Anders als Habermas’ Modell der idealen Sprechsituation schließt das empirische Modell demokratischer Übersetzung Machtasymmetrien und strukturelle Missverständnisse nicht aus. Stattdessen war das Unvernehmen und die bei den europäischen Versammlungen heraufbeschworene demokratische Krise der Deliberation Ausgangspunkt für eine demokratische Rebellion, die ein neues Modell der politischen Übersetzung hervorbrachte. Wie in San Antonio war das ESF ein mehrsprachiges Setting, das Berufspolitiker/innen mit Basisaktivist/innen unterschiedlicher Gruppierungen zusammenbrachte. Noch einmal habe ich beispielhaft aufgeführt, dass Mehrsprachigkeit an sich jedoch keine ausreichende Bedingung für demokratische Übersetzung bietet – denn ohne die Unterbrechung und Argumentation des „dritten Volks“ politischer Übersetzer/innen hätten die Diskussionsprozesse bei den europäischen Versammlungen mit ebenso exklusiven Entscheidungen geendet wie jene auf nationaler Ebene.
Übersetzungsräume jenseits der Ebene der Sprache erfinden: Gender, race und Klasse
Sicher, auf transnationaler oder lokaler Ebene mögen die Räume für politische Übersetzung günstig sein, doch dem Forschungsstand zu Öffentlichkeit und Globalisierung zufolge scheinen nationale Entscheidungsebenen weiterhin einflussreich zu bleiben. Wäre andererseits ein Modell politischer Übersetzung auch in traditionell monolingualen Öffentlichkeiten auf nationaler Ebene denkbar, die die Position von Sprachübersetzer/innen gar nicht benötigen? In meiner dritten Fallstudie untersuchte ich diese Frage am Beispiel des amerikanischen Sozialforums – einer globalisierungskritischen Öffentlichkeit auf nationaler Ebene, das mit einem ganz ähnlichen Model der radikalen Konsensdemokratie arbeitete wie das Europäische Sozialforum. Doch anders als in Europa führte die Rebellion der Übersetzer/innen in den USA ein Modell ein, das Übersetzungsmöglichkeiten jenseits von Sprache im Hinblick auf geschlechtliche, ethnische und soziale Vielfalt praktiziert.
Nationale Öffentlichkeit in Bewegungen unterbrechen und neu gründen
Anders als die sprachlichen Übersetzer/innen im ESF waren es amerikanische Berufsaktivist/innen, die die Praxis der politischen Übersetzung für ihr erstes amerikanisches Sozialforum auf nationaler Ebene einführten – und damit gegen die Regeln der deliberativen Konsensdemokratie innerhalb des Weltsozialforums rebellierten. Die amerikanischen Gründer/innen des ersten nationalen U.S. Social Forum hatten ähnliche Hintergründe und Erfahrungen wie etwa Carla, die das San Antonio Community Forum initiierte: Auf lokaler Ebene arbeiteten sie für Migrant/innen, Arme, People of Color, Frauenorganisationen, antirassistische und/oder schwul-lesbische Gruppen. Anders als ein Teil der „Eliten“ innerhalb des Europäischen Sozialforums waren die Organisator/innen des U.S. Social Forum nicht gerade Personen, die innerhalb von Parteien oder Gewerkschaften Karriere machten oder gemacht hatten. Vielmehr waren die jungen Gründer/innen des U.S. Social Forum meist lokale Community-Organizer, die wenig verdienten und die auf internationaler Ebene des Sozialforums die Dominanz weißer Gewerkschafter/innen und Politiker/innen bemerkt hatten – ebenso wie die Tatsache, dass junge Aktivist/innen wie sie selbst, People of Color, Frauen oder Schwule und Lesben an den Rand gedrängt wurden. Doch als zweisprachige Kinder von Migrant/innen und Übersetzer/innen wussten die Organisator/innen des U.S. Social Forum um die Doppelmacht der politischen Übersetzung, wie ich sie für das ESF aufgezeigt habe, die darin besteht, gleichzeitig Brücken zu bauen und Machtverhältnisse aufzubrechen.
Die Macht der Übersetzer/innen: Grenzlinien unterbrechen und überwinden
Doch die Organisator/innen gingen noch einen Schritt weiter als die Babels-Übersetzer/innen des ESF: Als geübte Simultan- und Freiwilligendolmetscher/innen für Migrant/innen oder lokale Community-Foren wussten die Gründer/innen des U.S. Social Forum, dass Übersetzungspraktiken scheinbar klare Sprachgrenzen in neue „Zwischen-Räume“ verwandeln können. Community-Organisator/innen wie Carla wussten beispielsweise um die Dramaturgie der politischen Übersetzung, die eine Bühne exklusiver Rathausversammlungen in einen neuen Raum öffnet; durch eine gezielte Wahl und Gestaltung des Ortes selbst, durch die Auswahl der Moderator/innen ebenso wie durch sprachliche Übersetzung. Die OrganisatorInnen des U.S. Social Forum wandten dieses Prinzip der Gestaltung und Dramaturgie eines Raumes der Übersetzung auf die asymmetrische Repräsentation von Gender, Race und Class aus. Die Moderator/innen des europäischen Sozialforums gaben zu, dass gemeinsame Sozialforumstreffen in Europa Frauen und ethnische Minderheiten auch räumlich marginalisierten. Einer sagte: „Männer nehmen [bei europäische Versammlungen] natürlich mehr Raum ein.“ Die Gründer/innen des U.S. Social Forum wollten genau das ändern. Entgegen der Kritik der internationalen Führungsebene im Weltsozialforum unternahmen sie einen äußerst radikalen Schritt der Übersetzung: Sie führten eine Quote für sexuelle und ethnische Minderheiten, Jugendorganisationen und lokale Basisaktivist/innen ein und bildeten einen nationalen Vorbereitungskreis, in dem Berufsaktivist/innen von einflussreichen nationalen Organisationen nicht die Mehrzahl bildeten und in der keine ethnische oder sexuelle Gruppe dominant war. Dieser Skandal der politischen Neuinterpretation ist unter den Anhänger/innen des deliberativen Modells im Weltsozialforum heftig diskutiert worden (Juris 2009). Dabei beeindruckte die Übersetzungsstrategie des U.S. Social Forum mit spektakulären Mobilisierungserfolgen im internationalen Vergleich der Demokratieforschung in sozialen Bewegungen (Smith/Doerr 2011; Karides 2009; Pleyers 2011). Anders als die jeweiligen nationalen Sozialforen, die ich in unterschiedlichen europäischen Ländern untersuchte, gelang es dem U.S. Social Forum, arme Menschen, Nichtakademiker/innen, Migrant/innen sowie ethnische und sexuelle Minderheiten einzuschließen – auf Ebene der lokalen Basis und auf nationaler Führungsebene. In amerikanischen Aktivist/innenkreisen wurde als besonders ungewöhnlich empfunden, dass die Organisator/innen des U.S. Social Forum nicht nur auf eine Ausweitung ihrer Führungsebene zielten, sondern auch die Gestaltung aller Meetings veränderten: Um das Bild zu verändern, dass partizipative Demokratie in den USA eine Formation politischer Kommunikation sei, die immerzu Weißen vorbehalten bleibt und von ihnen beherrscht wird (Polletta 2005) schulten die amerikanischen Gründer/innen alle Freiwilligen und auch alle Mitglieder ihres nationalen Führungskreises in gemeinsamen Praktiken des Antirassismus und Antisexismus. Dass diese Praxis von vielen amerikanischen Berufsaktivist/innen als sehr radikal empfunden und gleichzeitig bewundert wurde, zeugt vom Skandal-Potenzial und von der Kapazität zur Unterbrechung politischer Übersetzung und ihrer symbolischen Ausstrahlungskraft. Indem sie wagten, race, Klasse, und Gender politisch in ein neues Modell für Leadership in sozialen Bewegungen zu übersetzen, erfanden die GründerInnen des U.S. Social Forum ein „drittes Volk“, das äußerst heterogene Bewegungsgruppierungen zusammenbrachte und Anzeichen einer politischen Subjektivierung als Bewegung trug, die nach Meinung vieler US-Aktivist/innen in dieser Breite bisher selten oder überhaupt noch nicht existierte.
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[i] Seyla Benhabib beschreibt die ideale Sprechsituation folgendermaßen: „1. Jeder Teilnehmer eines Diskurses muss die gleiche Chance haben, Kommunikation zu eröffnen und fortzuführen. 2. Jeder Teilnehmer muss die gleiche Chance haben, Behauptungen, Empfehlungen und Erklärungen vorzutragen sowie Rechtfertigungen zu fordern. […]. 3. Alle Teilnehmer müssen als Handelnde gleiche Chancen haben, ihre Wünsche Gefühle und Intentionen zum Ausdruck zu bringen; und 4. Müssen die Sprecher handeln, als ob im Handlungskontext eine Gleichverteilung der Chancen bestünde, ‚zu befehlen und sich zu widersetzen, zu erlauben und zu verbieten, Versprechen zu geben und abzunehmen, Rechenschaft abzulegen und zu verlangen.“ (Benhabib 1992: 285).
[ii] Rancière grenzt seinen Begriff des Unvernehmens explizit von dem des kulturellen Missverständnisses ab und argumentiert gegen die These, dass kulturelle Diversität und gesellschaftliche Pluralität Begründung für eine angebliche Zunahme politischer Verständigungs- und demokratischer Entscheidungsprobleme seien (Rancière 2002: 9–10).
[iii] Name geändert.
[iv] Name geändert.
[v] Name geändert.
[vi] Name geändert.