06 2013
Europa unterbrechen: Modelle der Polylingualität und des gemeinsamen Selbst
Übersetzt von Birgit Mennel
In ihrem Aufriss zur Konferenz „Eine Kommunalität, die nicht sprechen kann: Europa in Übersetzung“, die im Juni 2012 in Wien stattfand, forderten uns die Organisator_innen auf, über die Krise Europas nachzudenken sowie darüber, wie eine neue Kommunalität aussehen und auf welche Weise Sprach- und Übersetzungspraxen (sowie die damit einhergehenden Politiken) zu einer anderen Gestaltung dieser gemeinsamen Gegenwart beitragen könnten. Mein Zugang zu diesen Fragen besteht darin, mir anzusehen, auf welche Weise polylinguale Praxen[1] – wie Übersetzung und Selbstübersetzung – gegenwärtige Modelle Europas und europäischer Hierarchien unterbrechen können; wie sie das Nachdenken über andere Subjektivitäten und Relationalitäten sowie das Überdenken von Ort und Raum stärken können, einem „Raum“, der Michel de Certeaus Definition zufolge, „ein praktizierter Ort“ ist und „von der Gesamtheit der Bewegungen erfüllt“ wird, „die sich in ihm entfalten“ (de Certeau 1988: 217f.). Folgt man also de Certeaus Ratschlag, so müssen theoretische Modelle in der Lage sein, sich auf Alltagspraxen zu beziehen. Sie müssen deren Existenz und Widerstandsfähigkeit anerkennen und in der Lage sein, widerständige und störende Praxen zu schaffen, wenn dies erforderlich ist. In anderen Worten, die Fragen, die ich stellen will – mit Blick auf Europa, aber im Bewusstsein dessen, dass dieses Label nicht ausreicht, weil es zu viel und zu wenig zugleich umfasst –, ähneln jenen, die Meaghan Morris in ihrem Vorwort zu Naoki Sakais Translation and Subjectivity aufgeworfen hat: „Wie ist es möglich“, fragt sie sich, „einen transnationalen Raum der Diskussion zu schaffen, der Sprachgrenzen ebenso durchkreuzt wie Grenzen der Rassisierung, Ethnisierung, des Geschlechts und der Religion?“ Und, wie können wir außerdem ein Arbeitsmodell finden, das „fähig ist, sich mit dem zu verbinden, was Menschen im alltäglichen Verlauf ihrer Leben tun oder von dem denkbar ist, dass sie es tun?“ (Morris 1997: xi–xii). Das sind die Fragen, die ich hier ansprechen möchte, indem ich über Mobilität und Übersetzung nachdenke.
1. Karten
Wenn Bilder lauter sprechen als Worte, dann sind Karten ein guter Ort, um nach alternativen Figurationen dessen zu suchen, wofür das Label „Europa“ steht: Worauf gründet es; was schließt es ein und was aus; welche Räume schafft es; und auf welchen Grenzen beharrt es? Zwei Karten des Mittelmeers können als beredte Beispiele dieser Prozesse dienen. Die erste ist ein Portolan, eine im Venedig des 17. Jahrhunderts angefertigte Seekarte.[2] Die zweite Karte ist eigentlich nicht eine Karte, sondern setzt sich aus einer Reihe von imposanten Karten zusammen, auf denen aufeinanderfolgende Phasen der Expansion des Römischen Reichs festgehalten wurden. Sie wurden entlang der Via dei Fori Imperiali in Rom während der Jahres des faschistischen Regimes angebracht und sollten als Erinnerung an vergangenen Ruhm sowie als Ansporn für die (angenommene) Wiedererrichtung italienischer Hegemonie im Mare Nostrum dienen.[3]
Die beiden Bilder repräsentieren den gleichen Raum, doch sie erzählen zwei außerordentlich unterschiedliche Geschichten und verkörpern substanziell verschiedene Narrative. Die eine Karte basiert auf der Sprache der Macht, der Eroberung, der Kontrolle und der Überwachung (sowie der expansionistischen Ausweitung) von Grenzen. Sie verwendet kontrastierende Farbkomplexe, um Landmassen, deren Gegenüberstellung und den Kampf um ihre Eigentümer_innenschaft hervorzuheben. Die andere Karte wird vom flüssigen Raum des Meeres beherrscht, und nicht vom Land, das ihn umgibt. Auf ihr sind die vielfältigen Verbindungen, die komplexen Anknüpfungspunkte und die sich entwickelnden Beziehungen eingetragen, die alle Grenze verschwimmen lassen (auch wenn diese noch existieren können und tatsächlich noch existieren).
Diese Karten und ihre jeweiligen Konzeptualisierungen von Raum bieten auch alternative Modelle an, über die wir zwei miteinander verbundene Geschichten der Mobilität lesen können: die Geschichte der Migration (im Allgemeinen verstanden als geographische Mobilität der Leute); sowie die Geschichte der Übersetzung (die Mobilität von Texten in all ihren Formen sowie der heterogenen Kulturen[4], die diese Texte transportieren, konstruieren, produzieren und reproduzieren). Auch in dieser Hinsicht folgen die beiden Karten gegenläufigen Erzählungen. Die eine erzählt von Nationen als Trägerinnen unterschiedlicher und essenzieller Merkmale, die verteidigt oder sogar aufgezwungen werden müssen (wie im kolonialen Modell, das auf der Verbreitung einer europäischen „Zivilisation“ beruhte, oder wie im jüngeren neo-kapitalistischen und neo-imperialistischen Konstrukt der Globalisierung und ihrer „Exporte“). Doch diese Nationen werden auch durch selektive Einspeisungen aus anderen, gleichermaßen unterschiedlichen Kulturen angereichert, die über sorgfältig überwachte Prozesse der Migration (von Menschen) sowie der Übersetzung (von Artefakten) innerhalb der Grenzen der Nation „gebracht“ werden. In diesem Modell wird jede andere Verwendung von Übersetzung oder Migration ein Missbrauch – oder zumindest das, was Clem Robyns „die potenzielle Verletzung eines Kodes“ nannte (Robyns 1994: 407). Die zweite Erzählung gleicht eher dem Portolan: Sie hält Mobilität und Mannigfaltigkeit für konstitutive Elemente von Geschichte und Erfahrung; sie nimmt den Raum (einschließlich aller Grenzen) als durchlässig wahr, als konstruiert von und durch Beziehungen. Und sie kann als ein Symbol der Bewegung von Wissen und Menschen, von Individuen und ihren Geschichten dienen, die als Teil jenes Prozesses verstanden werden, der die dynamische Erneuerung von Kulturen und Gesellschaften ermöglicht und diese davor bewahrt, zu erstarren, zu implodieren und auszusterben. Beide Karten beinhalten Mobilität, und beide schreiben Machtverhältnisse ein. Trotz meiner offensichtlichen Präferenz für das Portolan (das auch als Erinnerung an die grundlegende Verbindung von Ästhetik und Politik dienen kann), bin ich mir darüber im Klaren, dass die Venezianer_innen ebenso wie die alten Römer_innen auf ihre Weise die Ströme von Menschen, Waren und Reichtümern kontrollierten, die das Mittelmeer wieder und wieder überquerten. Historisch sind beide Karten und Modelle gültig. Ihre Narrative schließen einander tatsächlich nicht aus, sondern können jederzeit koexistieren, auch wenn eines der beiden Bilder auf lokaler, nationaler oder internationaler Ebene vorherrschen mag.
Diese Karten und die unterschiedlichen Modelle von Mobilität in ihnen können auch dazu dienen, die Form zu befragen, in der gegenwärtige Bilder Europas konstruiert werden: Bilder seiner Zentren, seiner Peripherien, aber auch seiner eigenen Zentralität und Marginalität, seiner internen und externen Hierarchien. Zum einen stellen die von mir gewählten Bilder selbstverständlich keine Karten Europas in einer seiner historischen Gestaltungen dar. Es sind Karten des Mittelmeers, und als solche repräsentieren sie mehr und weniger als Europa. Das Mittelmeer bildet einerseits den Kern der modernen Konstruktion von Europa – die letztlich auf einem Narrativ der Zentralität basiert. Dieses Narrativ reicht in die klassische Antike, den Humanismus, die Renaissance zurück – und beruht auf Mythen wie dem der translatio studii et imperii[5]. Zugleich stellt das Mittelmeer Europas schwierigsten Rand dar, weil der Süden im Europa der Gegenwart nicht der Norm entspricht, wie in der aktuellen Krise oder in der Verwendung von Kennzeichnungen wie „PIGS“ deutlich wird;[6] aber auch weil das Mittelmeer heute eine dramatische mittlere Passage[7] darstellt, die zu einer zunehmend defensiven und bröckelnden „Festung Europa“ führt. In diesem auf zweierlei Weise eingeschriebenen Kontext verwandelte sich Mussolinis nationalistische und imperiale Vision des Mittelmeers als einer Brücke, die auf der Jagd nach neuerlicher Eroberung und Expansion überschritten werden muss, in das gleichermaßen dramatische Bild einer tödlichen Kluft zwischen dem Menschlichen und dem Entmenschlichten. Es wurde zum Symbol jener Gleichgültigkeit gegenüber dem Bösen, die Hannah Arendt als beschämende und doch entscheidende Eigenschaft der gegenwärtigen Gesellschaft beschrieb (Arendt 1986, 1988), und das der italienische politische Karikaturist Vauro jüngst in einer düster eloquenten Zeichnung einfing, die das Mittelmeer in „Mar Morto“ (das Tote Meer) umbenennt.[8]
Über Europa unter Rückgriff auf das Mittelmeer und seine verschiedenen Karten zu sprechen, ist auch eine Möglichkeit, uns daran zu erinnern, dass Europa sicherlich seine eigenen Ränder und Marginalitäten hat und dass es eben diese Ränder sind, die Europa definieren und durch die es sich selbst definiert. Wir könnten in der Tat noch einen Schritt weiter gehen: An diesen Rändern – und insbesondere am Rand des Mittelmeers mit allen Ambiguitäten in Bezug darauf, wo „der Süden“ eigentlich beginnen könnte – können wir Europas eigener und zunehmender Marginalität nicht entkommen. Es geht hier nicht um die Utopie einer schönen neuen Welt (oder, je nach Sichtweise, um eine Dystopie). Wie Barbara Spinelli (2012) in einem von der italienischen Tageszeitung La Repubblica veröffentlichten Artikel feststellt: „La mutazione è già avvenuta.“ Wir leben bereits in einer multipolaren Welt, selbst wenn Europa und insbesondere seine politischen Systeme weiterhin so tun, als wären sie dieser Veränderung gegenüber blind und taub, als wären sie unfähig, den Wandel anzuerkennen und darauf zu reagieren. Statt einer verloren gegangenen Zentralität hinterherzujagen oder verzweifelt eine neue Hegemonie anzustreben, könnte uns die Anerkennung von Europas eigener Marginalität dazu ermutigen, Walter Mignolos Ratschlag zu folgen und zu akzeptieren, dass das koloniale und neo-koloniale Modell der Zentrum-Peripherie-Politiken – in dem alles vom Zentrum herrührt und die anderen bestenfalls hoffen können, darauf zu reagieren – nicht das einzige Modell ist, das uns heute zur Verfügung steht. Auch das Weltliteraturmodell kultureller Produktion, in dem alles von einem Zentrum ausgeht oder daraus seinen endgültigen Wert bezieht, ist nicht das einzige, das derzeit in Kraft ist. Wir haben es vielleicht nicht bemerkt, aber auch „Peripherien“ können miteinander sprechen – und dieser Austausch erweist sich möglicherweise als höchst produktiv.[9]
Was geschieht also, wenn wir uns von der Starrheit des Zentrum-Peripherie-Modells ebenso entfernen wie von seinen essenzialistischen Untermauerungen, die auf der Vorstellung getrennter, in sich geschlossener nationaler Kulturen basieren, die auf einer Karte innerhalb klar definierter Grenzen und noch klarerer Machthierarchien eindeutig festhalten werden können (zumindest so lange, bis sich ein neues, aber ähnlich hierarchisches Gleichgewicht etabliert, wie in Mussolinis aufeinanderfolgenden Karten der Expansion des Römischen Reichs)? Was, wenn wir im besonderen Fall Europas den noch immer vorherrschenden Mythos aufgeben, der den Kontinent als Anhäufung homogener Gemeinschaften beschreibt, die durch die Überlagerung von erkennbaren (und eindämmbaren) nationalen Identitäten, Sprachen und Kulturen gekennzeichnet sind? Was, wenn wir Mobilität, Mannigfaltigkeit und Heterogenität als Modell heranziehen, und gerade von der Inhomogenität und Uneinheitlichkeit der Sprache ausgehen (die letztlich eine weitere, oftmals nicht anerkannte, aber selbstverständliche Tatsache ist)? Was wenn wir zugeben, wie dies Maria Tymoczko jüngst getan hat, dass Monolingualismus und sprachliche Homogenität möglicherweise nicht die Norm sind, und dass die Mehrheit der Menschen in der Welt (und höchstwahrscheinlich alle Gemeinschaften) tatsächlich in „plurilinguale“ Praxen verstrickt sind (Tymoczko 2006: 16)? Was wenn wir die Durchlässigkeit von Sprachen und Kulturen sowie die Allgegenwart sprachlicher und kultureller Übersetzung anerkennen, und zwar sowohl in der Form von Fremdübersetzung wie auch in der von Selbstübersetzung, um Michael Cronins (2000) Definitionen zu verwenden?
2. Texte
Texte sind Formen sprachlicher Praxis und Textformen sind mit den Geschichten, die wir von uns selbst und von der Welt erzählen, schon an sich verbunden. Eine Perspektive auf Erzählungen durch ein translationales Paradigma hat viel zu bieten. Und es kann auch aufschlussreich sein, Übersetzung durch die Linse der Erzähltheorie zu betrachten, wie Mona Baker (2006) in ihrem jüngsten Buch gezeigt hat.[10]
In Begriffen der Übersetzung zu denken bedeutet in erster Linie, sich auf einen Prozess, und nicht nur auf ein Produkt oder einen Zustand, auf ein Werden und nicht nur auf ein Sein zu konzentrieren. Übersetzung kann selbstverständlich auf beide Weisen konzeptualisiert werden, als Produkt und als Prozess. Beide Gesichtspunkte sind für Überlegungen zu Übersetzung als sozialer Praxis wesentlich. Die dynamische Natur der Übersetzung ist ein wichtiges Gegenmittel gegen Essenzialismen jeglicher Art. Doch über das Produkt nachzudenken ist auch wichtig: Wenn Übersetzung in erster Linie im Bereich von Texten stattfindet, dann sind diese Texte nicht neutral. Sie sind unmittelbar mit sozialen Praxen verbunden, mit den Beziehungen, die wir zwischen Individuen und Gruppen schaffen, mit der Verteilung von Rechten, Werten und Verantwortlichkeiten. Talal Asad (1986) hat in einem berühmten Artikel zu Übersetzung und Ethnographie angemerkt, dass ein Verständnis von Kulturen als Texte leicht zu der Annahme führen kann, dass jede „Kultur“ vollständig in eine andere „übersetzbar“ sein muss. Daraus leitet di_e Anthropolog_in/Übersetzer_in unverzüglich das Recht ab, Kultur in ihrer Totalität zu vermitteln und die daraus resultierende Interpretation zu legitimieren. Und, so könnten wir hinzufügen, dieses Verständnis stützt auch die Sichtweise, dass beide Totalitäten, das Original und die Übersetzung, genau das sind: vorgegebene, in sich geschlossene und möglicherweise austauschbare Datensätze, die in die Begriffe des jeweils anderen übergeführt und dabei ersetzt werden können, ohne jegliches Innehalten, um entweder über die Veränderungsprozesse nachzudenken, die beide „Texte“ (und „Kulturen“) durchlaufen haben, oder darüber, in welchem Maß diese Veränderung immer schon auf der Kommunalität zwischen den beiden beruhte oder durch sie verstärkt wurde. Dieses Szenario ist schon dann sehr beunruhigend, wenn wir daran denken, was solche Prozesse für die Art bedeuten, in der wir mit Texten umgehen. Wenn wir uns aber der Textmetapher entledigen (denn sie ist in diesem Fall tatsächlich oft eine Metapher) und überlegen, dass wir über Kulturen sprechen, die in Lebenspraxen, in Menschen, in ihren Gemeinschaften, in Individuen mit ihren eigenen Subjektivitäten verkörpert sind sowie in der Art, wie all diese Dimensionen einander überlagern und überschneiden (anstatt klar in sich geschlossen zu sein), dann werden die ethischen Folgen der Täuschung über Kultur-als(-übersetzbarer)-Text überwältigend.
Dies ist auch eine Art, zu sagen, dass mit der Übernahme eines translationalen Modells sowohl Risiken als auch Vorteile in Theorie und Praxis verbunden sind und dass es produktive und weniger produktive Modelle von Übersetzung gibt. Den Übersetzungsprozess als ein binäres System zu betrachten, das Text A in Text B und Kultur A in Kultur B überführt und dann endet, weil es sein Ziel erreicht und seine Aufgabe erfüllt hat, ist nicht nur inkorrekt, sondern auch schädlich. Andererseits wird ein nicht binäres Modell, das die Allgegenwart von Übersetzung berücksichtigt und Praxen wie Selbstübersetzung, Heterolingualismus[11] und Polylingualismus einschließt, das offene Wesen des Prozesses betonen, seine Tendenz, sich in viele Richtungen auszubreiten und weitere Prozesse der Übersetzung, Interpretation und Transposition in Gang zu setzen, statt zu einem stabilen Ende zu kommen.
Übersetzung – und ich schließe hier sowohl die sprachliche als auch die kulturelle Übersetzung ein, wobei Letztere für mich nahezu eine Tautologie ist, da es keine Übersetzung geben kann, die nicht auch bereits kulturell wäre – kann also als Prozess der Aushandlung, Modifikation und Transformation verstanden werden, aber nicht als eine reine Substitution (Jamarani 2012: xi). Dies bedeutet wiederum, dass Übersetzung nicht auslöscht, was vorher da war, ebenso wie jene Leute (Individuen und Gruppen), die eine Selbstübersetzung erfahren, nicht für sich selbst zu anderen werden und das, was sie einmal waren, nicht durch das ersetzen, was sie nunmehr sind. Dies gilt trotz dramatischer Beschreibungen des Traumas in der Übersetzung, wie etwa in der berühmten Version von Todorov (1992) über seine eigene sprachliche und kulturelle Schizophrenie. (Tatsächlich könnte selbst Schizophrenie, wenn auch auf paradoxe Weise, als ein Beleg für dauerhafte Identitätsmarkierungen angesichts von Selbstübersetzung verstanden werden).[12]
Die beiden hier vorgebrachten Argumente – über die Unmöglichkeit, Übersetzung auf eine in sich geschlossene Textualität zu reduzieren, und über die nicht lineare, dynamische und sich ausweitende Natur von Übersetzungsprozessen – sind auch deutliche Hinweise auf den relationalen Charakter von Übersetzung, auf ihre unvermeidliche, konstitutive soziale Dimension. Auch hier könnte ein Paradoxon helfen: Wenn wir uns George Steiners (2004) Ansicht anschließen, dass jedes Individuum seinen eigenen Idiolekt hat und also jeder Kommunikationsakt eine Übersetzung ist, dann könnten wir nur ohne Übersetzung auskommen, wenn jegliche Sozialisierung fehlt.
Das bedeutet indes nicht, dass Übersetzung immer eine Kraft zum Guten ist und dass Übersetzer_innen die Held_innen der interkulturellen Kommunikation sind. Es gibt kein buonismo, keinen mit ihrer Rolle verbundenen Imperativ des zwangsläufig Guten – aber es gibt Handlungsmacht. Übersetzer_innen (Selbstübersetzer_innen mit eingeschlossen) können ebenso Kompliz_innen dominanter Diskurse und Erzählungen sein, wie sie ethisch aufmerksam und der Übersetzung als bewusster und potenziell widerständiger politischer Praxis verpflichtet sein können. Das reicht bis zu dem Punkt, dass sich Metaphern von Übersetzung (und Bilder von Übersetzer_innen) leicht vom Positiven ins Negative und wieder zurück bewegen können. Der italienische Semiologe Paolo Fabbri verwandelte das alte Sprichwort traduttore traditore[13] in ein Ehrenabzeichen, als er feststellte, dass Übersetzer_innen sich darauf einstellen, als Doppelagent_innen oder sogar als Abtrünnige zu agieren, gerade weil sie erkannt haben, dass die In-sich-Geschlossenheit und Inkommensurabilität kultureller System lediglich notwendige Mythen sind, um eine andernfalls instabile interne Ordnung zu erhalten (Fabbri 2000: 81–98). Andererseits hat Mona Baker (2005) darauf hingewiesen, dass das Bild der Brücke, das so oft mit interkultureller Kommunikation verbunden wird, Erzählungen von Invasion und Eroberung genauso stärken kann wie jene von gegenseitiger Verständigung und Freundschaft. Übersetzung kann als ein paradoxer Balanceakt zwischen diesen beiden Bilder des „Überbrückens“ betrachtet werden und wurde in der Tat auch so betrachtet – zwischen dem Zwang zu Gleichheit und der Akzeptanz von Differenz. Clifford Geertz beschrieb Übersetzung als ein Rätsel, in dem „das höchst Verschiedene zutiefst verstanden werden kann, ohne deswegen weniger verschieden zu werden; das weit entfernte ganz nahe, ohne weniger weit weg zu sein“ (Geertz zit. in Pratt 2010: 96). Paolo Fabbri hingegen vergleicht im weiter oben bereits zitierten Text Übersetzer_innen mit Hummeln, die, technisch gesehen, nicht fliegen können sollten und es dennoch ständig tun (Fabbri 2000: 86). Dieser Balanceakt ist schwierig. Er erfordert Geschick und die Missachtung von Regeln. Und es gibt keine Garantie dafür, dass dieser Balanceakt für jede_n immer gut endet.
3. Körper
Unter diesen Übersetzungsakrobat_innen finden sich nicht nur Profis, sondern auch Selbstübersetzer_innen, für die Polylingualismus und Heterolingualismus alltägliche Praxen sind, sei es aus Notwendigkeit oder aufgrund eigener Wahl. (Oftmals ist tatsächlich beides der Fall. Diese Praxen sind an sich schon eine Unterbrechung der Narrative von Homogenität, Inkommensurabilität und kultureller Entropie, die in den letzten Jahrhunderten zumindest in Europa, oder allgemeiner „im Westen“, vorherrschend waren. Nicht nur die in diese Form der Unterbrechung involvierten Agent_innen sind polylinguale Sprecher_innen und Autor_innen, sondern auch ihr Publikum, ihre Leser_innen und Zuhörer_innen. Der polylinguale Text adressiert tatsächlich eine gemischte Öffentlichkeit, die – und das ist entscheidend – das normative monolinguale Mitglied eines nationalen Publikums einschließt (oder eher: jede_n, di_e sich mit diesem Bild identifiziert). Polylinguale Autor_innen und ihre Leser_innen können daher als Beispiele heterogener und „nicht aggregierter“[14] Gemeinschaften verstanden werden, die in Prozesse fortwährender Veränderung involviert sind (das heißt, sich diesen verpflichten oder in diese gezwungen werden). Diese Prozesse sind in der Lage, dominante Modelle, Diskurse und Systeme zu unterbrechen. In anderen Worten, Polylingualismus, Übersetzung und Selbstübersetzung in dem Verständnis, das ich bisher entwickelt habe, begründen Praxen der Mobilität, die die etablierten Formen der Macht unterbrechen können, und sind konstitutiv für sie.
Michel Foucault identifizierte in seiner Diskussion der modernen Politik die Biomacht als den charakteristischen Modus der Ausübung staatlicher Kontrolle in der gegenwärtigen Welt. Er betonte auch, dass Migration eines der spezifischen sozialen Phänomene darstellt, die das Objekt biopolitischer Techniken sind und ihr doch stets entwischen (Foucault 1983: 167). Der oben skizzierten Analyse folgend, würde ich argumentieren, dass mit Mobilität verbundene Sprachphänomene, wie etwa Polylingualismus und Übersetzung, ebenso störend und schwer zu fassen sind, insbesondere, wenn sie von institutionellen Agent_innen und Orten entkoppelt werden und stattdessen in größere Praxen heterolingualer Adressierung eingehen. In dem weiteren Sinn, in dem ich Übersetzung beschrieben habe, als eine sprachliche und eine kulturelle Aktivität, unterbricht sie scheinbar homogene Gemeinschaften und stellt die Differenz in den Vordergrund. Obwohl Übersetzung sicherlich ein Schlüsselinstrument in der Konstruktion von nationalen Kulturen, Literaturkanons und Identitäten war, kann sie auch zu einer Quelle der Ansteckung (in jenem positiven Sinn, den das Wort etwa durch Peirce erhielt)[15] und Veränderung werden, indem sie dem allgegenwärtigen Charakter polylingualer Praxen Sichtbarkeit verleiht.
Gerade aufgrund ihres Potentials zur Unterbrechung werden Sprachpraxen indes auch die Aufmerksamkeit der Staatsapparate auf sich ziehen. Die Vermischung von Wörtern ist, ebenso wie die Vermischung von Körpern, eine Hauptsorge der Biomacht, ein Bereich, der eingedämmt und kontrolliert werden muss. Wer übersetzt, wo und für wen; wer autorisiert Übersetzung oder fordert sie an; wie wird Übersetzung kodifiziert, klassifiziert und in offizielle Archive, ins kollektive Gedächtnis und in lokale Praxen eingeschlossen; welche Sichtbarkeit wird Übersetzungsprozessen verliehen oder, umgekehrt, als wie transparent gelten gute Übersetzungen? All diese Aspekte sind zentral für die Ausübung biopolitischer Macht. Das wird nirgends deutlicher als an jenen Punkten, an denen die Migration (von Körpern) und die Übersetzung (von Texten) aufeinandertreffen. Wenn Übersetzung auf Migration trifft, wird ihre tiefe Verstrickung in die Formierung neuer Gemeinschaften und Kommunalitäten plötzlich sichtbar. Die Verknüpfung von Migration und Sprachpraxen (und damit auch von Sprachstrategien und -politiken) wird so zu einem zentralen Schauplatz für Neudefinitionen sozialer Prozesse und politischer Aktivität in der Gesellschaft der Gegenwart.
Diese Verknüpfung ist auch eine teilweise Erklärung dafür, warum Körper und Sprachen in der Migrationsliteratur der Gegenwart so untrennbar miteinander verflochten sind. Sowohl in dokumentarischen als auch in fiktionalen Texten wimmelt es von Dolmetscher_innen und Übersetzer_innen. Und sprachliche Mobilität geht Hand in Hand mit der Verlagerung von Körpern, die hin und wieder die Form der Auslöschung und der Substitution annimmt. Oftmals aber verweist sie auf dramatische Art auf die Form, in der Heterolingualismus und die Entscheidung, sich selbst zu übersetzen und vielfältige Publika zu adressieren, neue Kommunalitäten und neue Formen eines geteilten Verständnisses hervorbringen, die den heterogenen Charakter von Kultur zugleich betonen und auf ihm beruhen, anstatt Homogenität und Assimilierung als notwendige Vorbedingungen zu fordern.
Ich kann diese Verstrickung und ihre Verbindungen mit der Zunahme von Formen biopolitischer Macht anhand eines spezifischen Beispiels illustrieren, das ich dem gegenwärtigen italienischen Kontext entnehme. In den letzten zwei Jahrzehnten haben die miteinander verbundenen Marker Migration und Polylingualismus zu einer wachsenden Zahl von italienischen Texten geführt. Dies ist für ein Land wie Italien nichts vollständig Neues. Sprachliche und kulturelle Heterogenität waren und sind in Italien eher die Norm als die Ausnahme, wie heftig auch immer die offiziellen Kanons dies zu leugnen versuchten. Und doch ist feststellbar, dass die gegenwärtige Migrationsliteratur gerade durch die Aufmerksamkeit auf biopolitische Kontrolle charakterisiert wird. In der neuen Generation polylingualer Autor_innen, die in Italien leben und arbeiten, finden sich viele mit Verbindungen zu Afrika und zu jenen mediterranen Passagen, die ich im ersten Abschnitt dieses Artikels besprochen habe. Andere kommen von noch weiter her. Sie alle machen sich Sprach- und Erzählstrategien zunutze, um etablierte Vorstellungen von kultureller Homogenität und normative Konzeptionen der nationalen Kultur herauszufordern. Einige (oftmals Frauen, wie vielleicht wenig überraschend ist) sprechen insbesondere die Verbindung zwischen Sprachen, Körpern und Machtapparaten an und fordern diese offen heraus.
Christiana de Caldas Brito, eine Künstlerin brasilianischer Herkunft, die seit den 1990ern in Italien lebt, lässt in ihrer vielleicht berühmtesten Kurzgeschichte, „Io, polpastrello 5423“[16] , die Fingerkuppe polpastrello 5423 in der ersten Person erzählen, was ihr widerfuhr, als sie, gemeinsam mit tausenden anderen polpastrelli bei der lokalen Polizeibehörde erschien, um ihren Fingerabdruck in einem offiziellen Register zu hinterlassen, wie das von einem neuen Migrationsgesetz verlangt wurde.[17] Das fiktionale Dispositiv der Personifizierung lässt die Fingerkuppe 5423 und alle anderen Fingerkuppen im brennend heißen römischen Sommer Schlange stehen; sie nehmen den Platz ihrer Eigentümer_innen ein, die entpersonifiziert werden – in einer Form der Spiegelung, die sie auf jenes kleine Fleischpolster an der Spitze des Fingers reduziert, das im heutigen biopolitischen Regime das Behältnis der individuellen Identität darstellt (Agamben 2010).
Die Landschaft und die Sprache der Geschichte rund um die Schlange stehenden Fingerkuppen sind hartnäckig realistisch: Es gibt zahlreiche carabinieri, einen Pförtner, Stempelkissen und Schweiß … Von ihren Eigentümer_innen losgelöst, tragen die migrantischen Fingerkuppen sowohl das Stigma entmenschlichter Identität als auch die Last der Arbeit: Während sie nicht durch Geschlecht, Religion, Kultur oder Herkunftsort identifiziert werden, tragen sie alle die Spuren ihres Jobs.[18] Die Geschichte erfährt an eben jenem Punkt eine Wendung, an dem die migrantischen Fingerkuppen sich kollektiv der Position bewusst werden, die sie in der Arbeitskette einnehmen, und sich zu handeln entschließen. Auf einem geheimen Treffen prangern sie das diskriminierende Wesen des neuen Gesetzes an und entscheiden sich, ihre einzige Stärke, ihre große Zahl als eine Form der Solidarität und des Widerstands zu nützen: Sie werden die Büros der lokalen Polizei überschwemmen, damit den Prozess zum Stillstand bringen und diejenigen, die mit der Umsetzung des Gesetzes beauftragt sind, dazu zwingen, dessen Idiotie und Unanwendbarkeit anzuerkennen. Doch es gibt kein wirkliches Happy End: die nunmehr wieder mit ihren Eigentümer_innen vereinigten polpastrelli kehren einfach zur Arbeit zurück und stellen sicher, dass Italien und der italienische Arbeitsmarkt weiterhin normal funktionieren.
Im Kern von Christina de Caldas Britos Geschichte finden wir die Anprangerung des Dilemmas biopolitischer Macht: Selbst wenn di_e Migrant_in nicht auf eine Fingerkuppe reduziert wird, wird sie doch entmenschlicht assimiliert – einerseits an ihre Biologie und andererseits an ihre Arbeit angepasst. Die Erzählung erhält jedoch zusätzliche verstörende Kraft durch vielfältige Übersetzungsprozesse: Sie ist in der Sprache des Gastlandes geschrieben und adressiert sowohl diese Gemeinschaft wie auch die Gemeinschaft der Migrant_innen als ihre heterogene, aber dennoch kohärente Hauptzielgruppe. Ihre Effektivität basiert auf fein geschliffenen rhetorischen Mitteln, die in den Kontext der gegenwärtigen Migration übertragen und in der Sprache der biopolitischen Macht und Bürokratie zum Ausdruck gebracht werden. Die sprechende Fingerkuppe ist eine aktive Selbstübersetzerin, eine Agentin des Wandels, die die Realität ihrer Umgebung interpretiert, deren Register problemlos übernimmt und sich den Jargon des Systems aneignet.
4. Schlussfolgerung: Alltagsverstand und gesunder Menschenverstand
In den vorhergehenden drei Teilen habe ich die Diskussion zu Mobilität, Übersetzung und neuen Kommunalitäten in verschiedene Richtungen geführt. Ich hoffe jedoch, zumindest skizzenhaft dargelegt zu haben, dass lediglich eine Karte, die auf Komplexität, Mannigfaltigkeit und überlappenden Rändern basiert, statt auf konkurrierenden Zentralitäten, die Grundlage eines erneuerten Gefühls für das bilden kann, was „gemeinsam“ ist.
Hier kann es hilfreich sein, Gramsci neuerlich zu lesen. Für Gramsci ist es nur durch jene kritische Praxis, die mit einer Philosophie der Praxis einhergeht, möglich, den Alltagsverstand und den damit verbundenen engstirnigen Konformismus und traditionellen Glauben zu erneuern. Diese Erneuerung kann dazu führen, was er „buon senso“, gesunden Menschenverstand, nennt. Dieser erneuerte Alltagsverstand impliziert Mannigfaltigkeit (statt sie auszulöschen), da jede soziale Formierung ihren eigenen Alltagsverstand und gesunden Menschenverstand hat, und auch weil der Alltagsverstand nicht durch Rigidität gekennzeichnet ist, weil er nicht statisch ist, sondern sich aufgrund historischer Veränderungsprozesse einem fortwährenden Wandel unterzieht. Jede Bezugnahme auf den Alltagsverstand muss auch eine „constatazione di carattere storico“, die Feststellung einer historischen Tatsache sein, und kein idealistischer Appel an ein normatives Verhalten.[19]
Jede neue Kommunalität, jedes gemeinsame Selbst muss auf einer ähnlichen Vorstellung eines instabilen, vielfältigen und kritischen Alltagsverstandes basieren. In diesem Szenario ist Übersetzung nicht nur allgegenwärtig (das hieße lediglich, eine Tatsache festzustellen), sondern sie wird auf herausragende Weise in einer Reihe von sozialen Praxen sichtbar, die die Übersetzung traditionell verschleierten. Diese weitverbreiteten Übersetzungsprozesse dürfen nicht als ein neutrales Werkzeug oder vielleicht nicht einmal als eine Geste der Versöhnung verstanden werden, die darauf zielt, Kommunikation und gegenseitiges Verständnis zwischen getrennten, für sich stehenden Einheiten zu erleichtern. Vielmehr muss sie als bewusste, politisch und ethisch aufmerksame Praxis verstanden werden, sowie als der zentrale Ort, an dem die Probleme biopolitischer Kontrolle verdeutlicht werden. Wenn Übersetzung als Modell funktionieren soll, dann kann und muss sie ein störendes Modell sein – ein Modell, in dem „störend“ ebenso wie „kritisch“ eine positiv Aufladung erhält, zumindest in ihrem Potenzial für Wandel und Veränderung.
Das vielfältige Wesen der Übersetzung und die Aufmerksamkeit für Heterogenität, die mit ihrer Sichtbarkeit verbunden ist, können uns dabei helfen, einen neuen Sinn für Kommunalität zu entwickeln. Dieser kann jedoch nur auf Mannigfaltigkeit und Multistabilität basieren, auf der Fähigkeit, vielfältige Aspekte jedes Bilds und jedes Phänomens zugleich zu sehen, und nicht auf einem linearen Übersetzungsmodell, das im Namen einer gemeinsamen Sichtweise stets auslöscht und substituiert.[20] Wenn es ein solches gemeinsames Selbst gibt, dann wird es auf einer erneuerten und gleichermaßen instabilen Vorstellung des Alltagsverstands beruhen. Dieser impliziert nicht nur akzeptierte Bräuche und angenommene Homogenität, sondern vielmehr ein comune sentire, eine Gemeinschaft des Fühlens, der Emotionen und des Affekts, die der Diversität gegenüber radikal offen bleibt. Diese Kommunalität wäre gegenüber Körpern und Praxen aufmerksam, gegenüber deren Vermengung und gegenseitiger Ansteckung, deren ständiger Mobilität sowie der Durchlässigkeit von Grenzen, anstatt sich auf abstrakte Begriffe einer innerlichen Homogenität und äußerlichen Inkommensurabilität (nationaler Kulturen, Sprachsysteme, idealer Leser_innenschaften) zu konzentrieren. Jeder Versuch, eine Karte dieses Raums und der Praxen in ihm zu zeichnen, hätte Ähnlichkeit mit dem venezianischen Portolan mit seiner emphatischen Betonung von Relationalität, Komplexität und Mobilität. Wie ich bereits festgestellt habe, bringt selbst eine solche Karte die Beharrlichkeit von Machtverhältnissen nicht zum Verschwinden. Wie in Christiana de Caldo Britos Kurzgeschichte gibt es kein Happy End, das die Ungleichheit auslöschen könnte.
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[1] Ich ziehe die Worte „polylingual“ und „Polylingualität“ gebräuchlicheren Alternativen vor, die mit dem Präfix „pluri“ oder „multi“ beginnen. Meine Wahl hat einerseits mit den problematischen Konnotationen von Labels wie „Multikulturalismus“ zu tun und andererseits damit, dass ich ein positives Echo auf Bachtins Begriff der Polyglossie erzeugen möchte (vgl. Bachtin 1981).
[2] Für das Portolan vgl.: http://www.museomontelupo.it/mostra/intro1b.htm.
[3] Vgl. http://www.colourbox.com/image/brick-wall-with-italian-history-on-via-die-fori-imperiali-image-1944679.
[4] Es sollte angemerkt werden, dass der Plural „Kulturen“ hier nicht synonym mit „nationalen Kulturen“ verwendet wird, sondern vielmehr das viel komplexere Netzwerk heterogener Formen der Produktion, Zirkulation und Rezeption anzeigt, das menschliche Gemeinschaften und deren Austausch kennzeichnet. Dies erlaubt, uns selbst auf performative, relationale, oftmals polyvokale und nicht gegenseitig ausschließende Weisen zu identifizieren. Wenn ich von Sprachen spreche, werde ich ebenfalls nicht nur (oder überwiegend) nationale Standards berücksichtigen, sondern soziale, geographische und andere Varianten, sowie deren vielfältige Überschneidungen und Überlagerungen.
[5] [A.d.Ü.] Translatio studii bedeutet wörtlich die Übertragung von Wissen und Lernen; translatio imperii verweist auf die Ablösung eines Weltreichs durch das andere.
[6] Dieses Akronym fand in Zusammenhang mit der jüngsten europäischen Krise Verbreitung und bezieht sich üblicherweise auf Portugal, Irland, Griechenland und Spanien, auch wenn Italien manchmal den Platz Irlands einnimmt und die Variante „PIIGS“ geprägt wurde, die beide Länder einschließt.
[7] Der Begriff Mittelpassage bezieht sich auf den Dreieckshandel im atlantischen Sklavenhandel ab Mitte des 16. Jahrhunderts.
[8] Vauros Bild „Mar Morto“ kann hier: http://www.antiwarsongs.org/canzone.php?lang=it&id=6362 oder als Teil der folgenden Diashow abgerufen werden: http://www.ilmanifesto.it/multimedia/vignetta-del-giorno/2009/.
[9] Vgl. Walter Mignolo, „Linguistic Maps, Literary Geographies, and Cultural Landscapes: Languages, Languaging and (Trans)nationalism“, in: Modern Languages Quaterly, Jg. 57, Nr. 2, S. 181–196 sowie Ders., „Rethinking the Colonial Model“, in: Linda Hutcheon/Mario J. Valdés (Hg.), Rethinking Literary History: A Dialogue on Theory, Oxford: Oxford University Press 2002, S. 155–193. Zu Zentrum-Peripherie-Modellen der Weltliteratur vgl. insbesondere Pascale Casanova, The World Republic of Letters, übers. v. M. B. DeBevoise, Cambridge, MA/London: Harvard University Press 2004.
[10] Mona Baker, Translation and Conflict: A narrative Account, London/New York: Routledge 2006.
[11] Ich verwende den Begriff „Heterolingualismus“ in erster Linie in dem Sinn, den ihm Rainier Grutman gegeben hat, das heißt als Kopräsenz von Idiomen, die vielfältige Formen annehmen kann: „Im Prinzip können Texte zwei (oder mehr) Sprachen entweder die gleiche Bedeutung zumessen oder eine großzügige Prise anderer Sprachen einer dominanten Sprache hinzufügen, die klar als deren zentrale Achse definiert wird. Auf letztere Lösung trifft man häufiger, und die tatsächliche Quantität des in den Vordergrund gerückten Sprachmaterials variiert beträchtlich.“ In: Ders., „Refraction and Recognition: Literary Multilingualism in Translation“, in: Target, Jg. 18, Nr. 1, S. 19. Diese Form des Heterolingualismus weist indes Berührungspunkte mit Naoki Sakais Begriff der „heterolingualen Adressierung“ auf, nicht nur weil er betont, dass die Differenz in die Sprache eingeschrieben ist, sondern auch – und das ist entscheidend – weil er an die Rollen de_r Adressierenden und de_r Adressierten interpelliert und ablehnt, die „Vermengung und das Zusammenleben eines pluralen Spracherbes in der Zuhörer_innenschaft“ auszuschließen. Dieser Ausschluss ist typisch für das, was Sakai das „Regime einer homolingualen Adressierung“ nennt. Vgl. Naoki Sakai, Translation and Subjectivity, op. cit., S. 6.
[12] Dies ist indes nicht dasselbe, wie zu sagen, dass Selbstübersetzung die Einheit eines in irgendeiner Weise essenzialisierten „Selbst“ garantiert; Selbstübersetzung ist vielmehr wie jede Form der Übersetzung eine performative Praxis und beinhaltet Formen der Brechung und der Verteilung. Diese entsprechen jedoch nicht notwendigerweise dem traumatischen Bruch und (der gleichermaßen essenzialisierenden) Diskontinuität.
[13] [A.d.Ü.] „Traduttore traditore“ bedeutet wörtlich „Übersetzer, Verräter“, das heißt Übersetzen ist Verrat.
[14] N. Sakai, Translation and Subjectivity, op. cit..
[15] Vgl. diesbez. P. Fabbri, Elogio di Babele, op. cit..
[16] Der ganze Text kann hier abgerufen werden: http://digilander.libero.it/vocidalsilenzio/polpastrello.htm.
[17] Dies bezieht sich unmittelbar auf das sogenannte Bossi-Fini-Gesetz, das 2002 in Italien eingeführt wurde und verlangte, dass Migrant_innen ihre Fingerabdrücke abgenommen werden, wenn sie um einen Aufenthaltstitel ansuchen.
[18] Wie zu erwarten war, bestätigt selbst die Ausnahme die Regel: In dem einen Fall, in dem das Geschlecht eines polpastrello festgestellt wird, steht dies in unmittelbarem Zusammenhang mit der Position der Eigentümer_in auf dem Arbeitsmarkt. Es wird uns erzählt, dass sich Spuren von Exkrementen auf der Fingerkuppe finden, weil diese zu einer badante gehört, einer jungen fremden Frau, die angestellt wurde, um für eine ältere italienische Frau zu sorgen.
[19] Für Gramscis Diskussion des Alltagsverstands vgl.:
Antonio Gramsci, Gefängnishefte, hrsg.
v. Wolfgang Fritz Haug/Klaus Bochmann/Peter Jehle/Gerhard Kuck, übers. v.
Wolfgang Fritz Haug, Hamburg: Argument Verlag 1995, insbes. S. 1068, S.
1375–1380 und S. 2179f.
[20] Dies bezieht sich auf multistabile Bilder wie etwa Wittgensteins berühmten Entenkopf/Hasen; für eine Lesart vgl. insbesondere Manuele Gragnolati, „Analogy and Difference: Multistable Figures in Pier Paolo Pasolini’s Appunti per un’Orestiade Africana“, in: Luca Di Blasi/Manuele Gragnolati/Christoph Holzhey (Hg.), The Scandal of Self-Contradiction: Pasolini’s Multistable Subjectivities, Geographies, Traditions, Berlin/Wien: Turia + Kant 2012, S. 119–133.