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06 2014

Die Mitte der transversalen Texte

Programm eines Werdens, das nie zum Verlag werden will

eipcp

 „Die Mitte ist eben kein Mittelwert, sondern im Gegenteil der Ort, an dem die Dinge beschleunigt werden. Zwischen den Dingen bezeichnet keine lokalisierbare Beziehung, die vom einen zum anderen geht und umgekehrt, sondern eine Pendelbewegung, eine transversale Bewegung, die in die eine und die andere Richtung geht, ein Strom ohne Anfang oder Ende, der seine beiden Ufer unter­spült und in der Mitte immer schneller fließt.“ (Gilles Deleuze, Félix Guattari)

„Die Herausforderung besteht darin, einen virtuosen Prozess zu eröffnen, in dem die Erkenntnisproduktion, die Produktion von Subjektivität und das Gewebe affektiv-sprachlicher Territorialitäten keine getrennten Momente sind, sondern vielmehr Teil einer einzigen Abfolge, die von einem durch und durch materiellen Begehren nach dem Gemeinsamen angetrieben wird, angesichts einer Situation, in der das Gemeinsame in Stücken liegt.“ (Precarias a la deriva)

„Bücher drucken, verbreiten, vertreiben. Nie zu einem Verlag werden.“ (Tiqqun)


Die Publikationsindustrie ist in einer fundamentalen Krise. In ihren letzten Stunden beginnt sie, um sich zu schlagen, und trifft mit ihren Schlägen nur sich selbst. Jedes Stück der potenziell verkäuflichen Ware wird vertraglich mit Copyrights belegt, filetiert und stückweise in Wert gesetzt. Die klassischen Formate der Wissensproduktion und -distribution geraten ins Trudeln, und mit ihnen auch die traditionellen Rituale der Kompetenzbewertung. Die radikale Infragestellung der Autor_innenschaft, massive Angriffe auf die Standards zur Vermessung des Wissens, ausufernde Diskussionen um Plagiarismus verunsichern das Management. So sehr die akademischen Apparate und Kulturindustrien um Anpassungen ringen: mit den neuen medialen Bedingungen bleiben die traditionellen Formen der Wissensproduktion ebenso inkompatibel wie mit zukünftigen emanzipatorischen Verkettungen des Schreibens, Übersetzens und öffentlichen Verhandelns von Publikationen. Und das, was an Ausschlussmechanismen hegemonial geworden ist – Peer Reviews, Impact Factors, Rankings, rigide Copyright-Regime – bringt einen zunehmenden Druck der Domestizierung von Stilen, Formen und Formaten, der Inwertsetzung und Selbstinwertsetzung – und damit die Auslöschung der Erfindungskraft.

Die Effekte dieser selbstzerstörerischen Krise der Publikationsindustrie lassen zugleich Fragen nach neuen Formen der Zugänglichkeit, der dezentralen Kollektivität, der Entwicklung alternativer Veröffentlichungsformate aufkommen. Die Mitte gewinnt hier eine ganz andere Bedeutung als jene der Sphäre des Übergangs zwischen Produktion und Rezeption, wie sie sich über Jahrhunderte hindurch in der klassischen Form des Verlags manifestierte. Sie wird zum Ort, an dem die Dinge nicht nur entstehen, sondern an dem sie Geschwindigkeit aufnehmen: die Mitte als Strom, in dem die Mannigfaltigkeiten schreiben, gegen/lesen, übersetzen, vervielfältigen, verbreiten.

Wir erleben einen Paradigmenwechsel von der linear-vertikalen Vermittlung zur Transversalität. Die gerade Linie von der Produktion zur Rezeption entspricht nicht mehr den heutigen Möglichkeiten von Wissens-, Text- und Kunstproduktion. Transversale Produktion beruht auf Formen des Austausches, die quer zur Hierarchie von Wissenspyramiden stehen. Dieser Paradigmenwechsel ist allerdings keineswegs eindeutig. Ob die Chancen der gegenwärtigen Transformation in Richtung einer emanzipatorischen Wende ausgebaut werden oder als Partizipationsimperativ eher die Totalisierung der Inwertsetzung von nun unübersehbar kooperativ gewordener Wissensproduktion mit sich bringen, bleibt offen. Vor diesem ambivalenten Hintergrund gewinnt die Mitte jedenfalls andere und zahlreichere Bedeutungen als die alte „Mitte“ der „Vermittlung“.

1 Die Mitte entsteht im Zwischen der Sprachen. Multilingualität und Heterolingualität prägen die aktuellen Formen der Auseinandersetzung und des Austausches in der Wissensproduktion, und zwar weit über die duale Logik eines Originaltextes und seiner Übersetzung in die hegemoniale(n) Sprache(n). Für die Vielheit minoritärer Sprachen sind Praxen der Übersetzung die alltäglichen, oft viel zu wenig sichtbaren Begleiterscheinungen von Publikation und Diskussion in virtuellen und realen Räumen. Unsere eigene Praxis in der Mitte der Heterolingualität baut auf den Erfahrungen des eipcp-Webjournals transversal auf. Das multilinguale Webjournal ist unsere Basis für eine erweiterte Praxis der vernetzten Übersetzung in mehrere Richtungen, der Arbeit zwischen den Sprachen sowie der synchronen, mehrsprachigen Veröffentlichung.

2 Verbunden mit dieser Praxis der Vielsprachigkeit und Übersetzung ist die Mitte der Translokalität.  Gerade in der Mehrfach-Krise, die sich seit sechs Jahren auch über Europa ausbreitet, ist es notwendig, Lokalismen zu überwinden und gegen die grassierende Renationalisierung anzukämpfen. Andererseits ist der globalen Glättung von Raum und Zeit eine Praxis der translokalen Kerbungen entgegenzuhalten, die nicht einfach rückwärtsgewandt die lokale Wissensinstitution beschwört, sondern aus einer Vielzahl an lokalen Produktionsknoten entsteht und diese bewegt. Die Arbeit zwischen den Sprachen macht nur Sinn, wenn sie in mehrere Richtungen gedacht wird, nicht als Verlag in einem begrenzten Sprachraum, nicht als Einbahn und in reinem Bezug auf einen bestimmten geografischen Raum, sondern als translokale Kooperation des Schreibens und Sichverteilens. Von ihr aus entstehen die abstrakten Maschinen, die der Inwertsetzung zu entgehen suchen, die die Nationalsprachen und Kontinente durchqueren, die sich der Lokalität weder unterwerfen noch überordnen.

3 Die Transformationen der Wissensproduktion tendieren zur Verschiebung und Auflösung der Trennung von Schreiben, Verlegen, Rezipieren. Diese Mitte der Produktion impliziert allerdings nicht einfach neue Versionen von Autorenverlagen oder simple Vorstellungen von schnell verwertbarer Interaktivität. Es geht hier um radikale Veränderungen des Produktionsapparates, die den neuen Produktionsweisen in der Kooperation entsprechen. Das betrifft vor allem die Verschiebung der Positionen auf dem früher als linear verstandenen Kontinuum von Produktion zur Rezeption. Diese Verschiebung bedeutet weder die völlige Auflösung der Funktionen von Produktion, Verlag, Rezeption, noch die Übernahme all dieser Funktionen durch eine Figur, die alles umfasst. Dem vielbeschworenen „Tod des Autors“ entspricht viel eher ein Mannigfaltig-Werden von Autor_innen- und Produzent_innen-Positionen. Das betrifft das Schreiben ebenso wie das Teilen, Verhandeln, Gegen/Lesen, Übersetzen, Diskutieren, Abwägen, Weiterschreiben, kollektive Prozessieren, Präsentieren und Verbreiten von entstehenden wie fertigen Texten. Für diese Mannigfaltigkeit braucht es kein anonymes System von Autoritäten (wie etwa jenes gescheiterte der Peer Reviews), das zwanghaft die Gesetze der In- und Exklusion behütet, sondern eine dichte Verwebung von Singularitäten, deren Wunschproduktion die Texte mit sich fortreißt.

4 Derselbe Vorgang kann aus anderer Perspektive als ebenso reißende Mitte der Publikation gefasst werden. E- und Print-Publishing etwa erscheinen hier nicht als getrennte oder konkurrierende Möglichkeiten, sondern als kombinierter Prozess. Komplementäre Formate der Veröffentlichung umfassen neben den nur scheinbar konkurrierenden traditionellen Büchern und gedruckten Zeitschriften auf der einen, e-Books und -journals auf der anderen Seite, auch eine Palette von kleineren Formen im Web, von kommentierenden oder flankierenden Blogs bis zu alternativen Formen der Social-Media-Kommunikation. Die Mitte der Publikation bedeutet insofern eine Bewegung von der Distribution und Kommunikation getrennt produzierter Medien hin zu vernetzten Unternehmungen auf unterschiedlichen Skalierungsniveaus.

5 Diese ausdifferenzierten Formate der Veröffentlichung schaffen zugleich auch eine neue Mitte der Präsentation. Die neuen Vertriebswege im Netz neigen dazu, Vorstellungen einer getrennten Realität zwischen alten Buchläden und neuen Web-Shops zu begünstigen. Insoweit es nicht abzusehen ist, ob die zukünftigen Lesegewohnheiten das klassische Buch weiter zurückdrängen oder gar obsolet machen (sowohl als Medium als auch in seiner tendenziell linearen Struktur), besteht keine Gewichtung zwischen gedrucktem und elektronischem Buch. Doch für eine Situierung in realen Räumen besteht auch in Zeiten der zunehmenden Virtualisierung Notwendigkeit. Die Öffentlichkeiten, die im Web und im realen Raum generiert werden, stehen nicht unbedingt in Konkurrenz oder einem hierarchischen Verhältnis mit-/untereinander. Situiertes Wissen braucht Situationen und konkrete Sites jenseits des Web, reale Räume, in denen dichte Diskussionen und Austausch entstehen. Die Präsentation im spezialisierten Buchladen, im Kunstfeld oder im universitären Kontext steht allerdings in engem Zusammenhang mit der Web-Performance und webbasierten Präsentationsformen. 

6 Mit Praxen wie Open Access und Creative Commons entfaltet sich in den letzten Jahrzehnten auch eine neue Mitte in Bezug auf (urheber)rechtliche Fragen. Auch hier zeigt sich die Situation grundlegend ambivalent. Einerseits eröffnen sich technologische Möglichkeiten des Teilens, Formen des offenen Zugangs, neue Praxen der Rekomposition, andererseits verstärkt sich der Verwertungsdruck der Publikationsindustrie. Hier geht es darum, die Kämpfe gegen restriktive und autoritäre Copyright-Regime voranzutreiben, die uns zunehmend zu enteignen drohen: In schlimmeren Fällen werden die Autor_innen zur Zahlung für die Verwendung eigener Werke verurteilt oder in rechtliche Prozesse darüber verwickelt, die Nutzer_innen werden kriminalisiert, das Bearbeiten, Verfremden und Remixen soll möglichst unterbunden werden. Die Befreiung der Texte vom Copyright muss einhergehen mit neuen Formen der Entkoppelung von Arbeit und Einkommen. Wenn Urheber_innenschaft immer schon auf einer kollektiven Basis steht, seien es die Schultern von Riesen oder die Vielheit postfordistischer Kooperation, müssen zugleich für diese kollektive Basis auch rechtliche und ökonomische Grundlagen geschaffen werden, als vielfältige existenzielle Basis für die Vielen.

Unsere Praxis der Commons, des Anti-Copyright, des Copyleft soll modellhaft technische und organisatorische Lösungen entwickeln und zum Kopieren, zur Adaption, zur viralen Verbreitung bereitstellen. transversal texts ist Textmaschine und abstrakte Maschine zugleich, Territorium und Strom der Veröffentlichung, Produktionsort und Plattform – die Mitte eines Werdens, das niemals zum Verlag werden will.