05 2007
„... sich durch Fragenstellen nicht selbst hypnotisieren“. Instituierung lokalisieren, Autonomie entwerfen
Im Zusammenhang seiner Auseinandersetzung mit der künstlerischen Tradition der Institutionskritik schreibt Helmut Draxler (2006: 178), schon Cornelius Castoriadis habe darauf aufmerksam gemacht, „dass die Kritik an den gesellschaftlichen Institutionen selbst immer schon instituierend wirke.“[1] Draxler folgert daraus, dass Institution und Instituierung zwar als Gegensätze bestehen, aber aufeinander bezogen blieben, „als immer zu gestaltender sozialer Raum, der nie einfach vorhanden ist, sondern sich immer zwischen Kritik und Setzung realisiert.“ (Draxler 2006: 179) Offen bleibt, was sich aus der sozialkonstruktivistischen Basisannahme vom immer zu gestaltenden sozialen Raum für emanzipatorisches politisches Handeln ergibt. Die instituierenden Effekte der Kritik waren Castoriadis schließlich nicht nur eine Feststellung wert. Zwar konstatiert auch er zunächst beschreibend, dass politische Veränderungen und gesellschaftlicher Wandel in Momenten geschehen, „in denen sich Gesellschaft als instituierte mit Hilfe der Gesellschaft als instituierender selbst zerstört, d. h. sich selbst als eine andere instituierte Gesellschaft schöpft […]“ (Castoriadis 1990: 343). Er lässt aber keinen Zweifel daran, dass es ihm genau darum geht, um eine andere als die kapitalistische Gesellschaft. Denn dazu schließlich sei Politik da: Nach Castoriadis erstmals in der griechischen Polis geschaffen und praktiziert, ist Politik in seinen Worten „(überlegt und entschlossen) durchgeführtes kollektives Handeln […], dass sich auf die Institution der Gesellschaft als solche bezieht.“ (Castoriadis 2006: 150) Politik entstehe dann und dort, wenn bzw. wo „die bestehende Institution der Gesellschaft in ihren verschiedenen Aspekten und Dimensionen in Frage gestellt“ (Castoriadis 2006: 151) würde. Laut Jürgen Habermas entwickelt Castoriadis damit „den Normalfall des Politischen aus dem Grenzfall der Gründung einer Institution, und diesen wiederum deutet er aus einem ästhetischen Erfahrungshorizont als den aus dem Kontinuum der Zeit ausbrechenden ekstatischen Augenblick der Stiftung eines schlechthin Neuen.“ (Habermas 1988: 382f.) Instituierung bei Castoriadis, das kritisiert Habermas (1988: 385), sei eine Schöpfung ex nihilo. Allerdings betont auch Castoriadis, dass alles Instituierende sich auf Instituiertes zu beziehen habe. Denn die stabilste Institution wie auch die radikalste Revolution seien Teil einer Geschichte, „die immer schon im Gang ist.“ (Castoriadis 2006: 160)
Mit der Erschaffung der Politik scheine zum ersten Mal in der Geschichte auch der Entwurf individueller wie kollektiver Autonomie auf: auto-nomos, sich selbst ein Gesetz geben. In Abgrenzung zum Autonomie-Begriff Kants betont Castoriadis, dass es bei der Autonomie nicht darum ginge, „sich ein für alle Mal ein Gesetz zu geben, das in einer unveränderlichen Vernunft aufzufinden wäre, sondern darum, Fragen nach dem Gesetz und seinen Grundlagen zu stellen und sich durch dieses Fragenstellen nicht selbst zu hypnotisieren, sondern zu tun und zu instituieren (also auch zu sagen).“ (Castoriadis 2006: 154f.) Castoriadis könne aber, so Habermas, aufgrund seiner ontologischen Grundannahmen, „den politischen Kampf um autonome Lebensführung – eben jene emanzipatorisch schöpferisch-entwerfende Praxis, um die es Castoriadis letztlich geht – nicht mehr lokalisieren.“ (Habermas 1988: 386)
Dieses angebliche lack of localization wörtlich nehmend, soll im Folgenden ein kurzer Streifzug durch verschiedene Entwürfe von Autonomie der letzten zwanzig Jahre angestrengt werden – ohne allerdings garantieren zu können oder auch nur zu wollen, dabei im Sinne Habermas´ zu verfahren. Dieser historisch-gegenwärtige Gang könnte Aufschluss darüber geben, wann, wo und unter welchen Bedingungen eine von Castoriadis proklamierte „Autonomiepolitik“ im emanzipatorischen Sinne erfolgreich sein kann. Da sich kollektive Autonomien immer zum Nationalstaat in Beziehung setzen müssen, springt bei diesem Spaziergang durch die Autonomias und aus der Diskussion um diese Bezüge zumindest das eine oder andere Kriterium für ein solches Gelingen heraus.[2]
Barcelona, September 2000 (Autonomie als Nation)
Seit Juni 2006 dürfen sich die 6,8 Millionen KatalanInnen ganz offiziell als Teil einer eigenen „Nation“ fühlen. Mit knapp Dreivierteln der abgegebenen Stimmen votierten die Wahlberechtigten für das neue „Autonomie-Statut“. Zuvor vom spanischen Parlament in Madrid verabschiedet, garantiert dies der reichsten Region innerhalb des Spanischen Staates noch mehr politische und finanzielle Unabhängigkeit gegenüber der Zentralregierung, als das nach Francos Tod verfassungsmäßig verbürgte Autonomie-Statut von 1979. Eine Errungenschaft, die stets umstritten ist, aber auch gefeiert wird. Der 11. September ist nicht nur das Datum des Militärputsches in Chile 1973 und des Angriffes auf Pentagon und World Trade Center 2001, sondern zugleich der katalanische Nationalfeiertag. Nach vierzehnmonatiger Belagerung fallen die Truppen Phillips V. an jenem Tag im Jahre 1714 in Barcelona ein, erobern es und leisten ihren symbolischen Beitrag zur Entstehung und Aufrechterhaltung katalanischer Identität: Das spanische Außen schweißt zusammen, der immer bedrohende und repressive Zentralstaat eint die Unterdrückten unter ihrer Fahne. Aber wieso überhaupt unterdrückt? Katalonien und das Baskenland sind die wohlhabendsten der Regionen innerhalb des Spanischen Staates. Der Wille zur Autonomie formiert sich offenbar recht unabhängig von ökonomischen Strukturen. Aber nicht nur: Das wirtschaftliche Aussaugen einer Region geht nicht selten einher mit der symbolischen Exklusion und der politischen Unterdrückung ihrer BewohnerInnen. Einer dieser Mechanismen reicht in der Regel, um den Ruf nach Autonomie zu schüren, hervorzurufen oder auszulösen. So ist das Verbot der jeweiligen Sprache unter der Herrschaft Francos (1939-1975) eines der deutlichsten Anzeichen für kulturellen Ausschluss. Dagegen anzugehen, ist immer auch Kampf um kollektive Selbstbestimmung, um Autonomie. Im katalanischen und/oder baskischen Modell der „Autonomie als Nation (von der anderen Nation)“ allerdings kommt die Vorstellung einer einheitlichen Sprachgemeinschaft kaum ohne die Idee der „eigenen Kultur“ aus, als deren besonderer Teil und Ausdruck die Sprache gesehen wird. Diese kulturelle Eigenheit gilt es dann zu schützen, zu pflegen und zu bewahren. (Auf den Vorbereitungstreffen für die globalisierungskritischen Proteste in Prag zwei Wochen nach dem Nationalfeiertag wird – trotz der Anwesenheit von nur des Castellanos mächtigen AusländerInnen – Katalan gesprochen). Gerade diese Konzeption von Kultur aber ist prinzipiell genauso offen in Richtung Rassismus wie das Konzept eines auf einer nationalen Kultur gegründeten Nationalstaates. Autonomie, verstanden als nationale Unabhängigkeit, setzt meist „Kultur“ als Summe von Werten, Werken und Normen einer als relativ homogen vorgestellten Gruppe voraus. Störendes muss auch hier ausgeschlossen, die Reihen müssen geschlossen werden.
Am Vorabend des Feiertages kommt es auf einem Konzert beim Auftritt der Hardcore-Band KOP zu eindeutigen Sprechchören: „Gora ETA, Gora!“ („Es lebe ETA“) skandiert ein links besetzter Konzertsaal wie aus einer Kehle. Zu einer gelungenen „Autonomiepolitik“ gehört nach Castoriadis (2006: 162) auch, „dem instituierenden Imaginären so weit es geht die Möglichkeit zu eröffnen, sich kundzutun; […]“. Ein paar Tage zuvor hatte ein Kommando der baskischen SeparatistInnen noch einen sozialdemokratischen Provinzpolitiker vor seiner Haustür abgeknallt. Als Druckmittel im Kampf für Autonomie-Verhandlung sicherlich alles andere als ein emanzipatorischer Einsatz, bejubelt dennoch im punkigen Katalonien. Ein anderes Viertel Barcelonas tagsüber, voll gehängt mit Zeichen des Nationalstolzes und des Unabhängigkeitswillens – alles Signale von Leuten, denen das in der Verfassung des Spanischen Staates verankerte Autonomie-Statut Kataloniens nicht weit genug geht. Linksradikale und nationalistische Symbole fallen hier nicht selten ineins. Auch bei der Gruppe Endavant. Organització Socialista d´Alliberament Nacional, die das Konzert am Vorabend veranstaltet hatte. Die von Endavant in Gracia gehängten Plakate kopieren ein Motiv aus dem Spanischen Bürgerkrieg, der Holzschnitt eines Arbeiters vor der Fahne der anarchistischen Föderation F.A.I. – nur dass das Banner hier nicht schwarz-rot ist wie im Original, sondern fünf rote und fünf gelbe Streifen aufweist und „Sengera“ genannt wird: Die katalanische Flagge überdeckt Geschichte, indem sie in einen historischen Kontext versetzt wird. Was sie verdeckt, ist der – keineswegs auf Katalonien beschränkte – historische Kampf für die Revolution und gegen den Faschismus im Spanischen Bürgerkrieg (1936-1939). Katalonien statt Anarchie. Zum Endavant-Merchandising gehören auch Aufkleber mit Subcomandante Marcos und Fidel Castro vor den katalanischen Nationalfarben. Auf die Kritik, hier würden doch etwas vereinfachend oder sogar geschichtsklitternd unter der katalanischen Flagge Ansätze gleichgesetzt, die im Grunde völlig gegensätzlich seien, reagiert der Aktivist hinterm Büchertisch ambivalenzfrei: „Nein“. Am Tag nach dem Konzert, bei der von etwa fünfzehntausend Leuten besuchten Demo am Nationalfeiertag, wehen viele katalanische und baskische Fahnen zwischen denen feministischer und anderer linker Gruppen. Subkultur und Establishment, asketische Punks und korrupte RegionalpolitikerInnen treffen sich in dieser Autonomiekonzeption auf derselben Seite der imaginären Barrikaden und stehen sich kaum als Klassen- oder Lifestyle-FeindInnen gegenüber: Nationalismus verbindet. Gelungen ist eine instituierende „Autonomiepolitik“ nach Castoriadis aber nur, wenn sie neben dem oben genannten Kundtun „ebenso sehr“ darauf bedacht ist, „die explizit instituierende Tätigkeit sowie den Umgang mit der expliziten Macht mit einem Höchstmaß an Reflexivität auszustatten.“ (Castoriadis 2006: 162) Daran muss das Modell von „Autonomie als Nation von der Nation“ offensichtlich scheitern.
Chiapas/Mexiko,
Herbst 2004 (Autonomie in der Nation)
Im September ist auch in Mexiko Nationalfeiertag. Hier wurde die Unabhängigkeit von Spanien erreicht, und zwar ausgehend vom so genannten „Grito“, dem Ruf des liberalen Pfarrers Hildalgo am 16.09.1810, der auch ein Aufruf zum bewaffneten Kampf gegen die Kolonialmacht war. Auch die zapatistische Befreiungsarmee EZLN, die 1994 dem mexikanischen Staat den Krieg erklärt hatte, bezieht sich auf dieses Ereignis. Sie tut es damit jedem/jeder BürgermeisterIn, egal welcher Parteizugehörigkeit, gleich, der/die am Vorabend des Feiertages auf dem Balkon seines/ihres Amtssitzes den Ruf wiederholt und mit dem einheitsstiftenden „Viva México“ aufpeppt, auf das das Original noch verzichten konnte („Vivan las Américas!“, „Hoch leben die Amerikas“, hieß es da, und „Nieder mit der schlechten Regierung!“). In einem der fünf seit 2003 bestehenden, neuen zapatistischen Amtssitze, im Caracol Oventic, rufen auch die Zapatistas die Unterdrückung der Indígenas in Erinnerung, die Notwendigkeit bewaffneter Rebellion an und sich selbst in die Arme der mexikanischen Nation. Die ebenfalls 2003 ins Leben gerufenen „Räte der Guten Regierung“ haben sich nicht nur in Opposition zur Mannschaft von Präsident Fox (2000-2006) von der konservativen Partei der Nationalen Aktion (PAN) formiert, sondern knüpfen auch an Hidalgos Ruf nach Unabhängigkeit Mexikos an. Auch pro-zapatistische Intellektuelle, nicht zuletzt Subcomandante Marcos selbst, bemühen sich seit Jahren verstärkt um den Nachweis, dass die von den Zapatistas geforderte und in Teilen bereits praktizierte Autonomie der Integrität des Nationalstaates keinen Abbruch tut. Trotzdem kommt die zapatistische Praxis häufig ohne eine eindeutige kollektive Identität aus. Braucht die auf nationale Unabhängigkeit zielende Autonomieforderung ziemlich dringend eine kollektive Identität zur Grundlage, ist eine weniger sezessionistische Konzeption – sie ließe sich „Autonomie in der Nation“ nennen – nicht so sehr darauf angewiesen. Die Geschichte wird zwar auch hier als Konglomerat von symbolischer Exklusion, kulturellem Ausschluss und ökonomischer Ausbeutung angerufen. Allerdings ist das Subjekt des Kampfes zwar meist indigen, aber die Indigenen sprechen viele Sprachen (Tzotzil, Tzeltal, u. v. a.) und lassen zumindest potenziell auch andere, weitere zu. Die Zapatistas kämpfen für „eine Welt, in die viele Welten passen“, vielleicht also auch die kleine revolutionstouristische Welt katalanischer NationalistInnen oder Berliner HausbesetzerInnen.
Seit Beginn des Aufstandes gibt es 38 autonome Landkreise mit ungezählten zapatistischen Gemeinden, die ihre Autonomie ganz pragmatisch als ethnisch-indigene ansehen. Die auf dieser Grundlage geforderten kollektiven Landrechte stehen nicht nur im Widerspruch zum Nordamerikanischen Freihandelsvertrag (NAFTA), sondern gelten dem Unternehmerverband wie lokalen Großgrundbesitzern gleichermaßen als Bedrohung. Die Einrichtung der „Räte der Guten Regierung“ war u. a. die Konsequenz der ausbleibenden Verhandlungsbereitsschaft der Zentralregierung. Sie nahm dem Einfluss der Guerilla zugunsten der Gemeinden selbst zurück. Bildung, Gesundheit, Handel und Landwirtschaft werden nun regierungsunabhängig, autonom organisiert. Im Zeichen universalistischer Forderungen wie Gerechtigkeit, Demokratie, Freiheit und Würde haben die Zapatistas auf diese Weise nicht nur ihre eigenen Strukturen stetigen Demokratisierungen unterzogen. Sie haben über internationale Treffen und nationale Befragungen (consultas) auch über die von ihnen kontrollierten Gebiete weit hinaus Effekte gezeitigt, Institutionen in Frage gestellt und ihre Praktiken der Kritik ausgesetzt und reflektiert. „Die Entstehung von Demokratie und Politik ist nicht der Anbruch des Reichs von Recht und Gesetz oder die `Menschenrechte´“, schreibt Castoriadis (2006: 154), „nicht einmal der Gleichheit der Bürger als solcher, sondern der Beginn der Infragestellung des Gesetzes im tatsächlichen Tun der Gemeinschaft.“ Eine der Grundlagen des zapatistischen Politikverständnis lautet: „Preguntando caminamos“, „Fragend schreiten wir voran“.
Der zapatistische Diskurs ist über ethnologische Fachkreise hinaus in verschiedene Richtungen anschlussfähig. Nicht umsonst treffen sich seit mehr als zehn Jahren unter den vielen internationalen Autonomiebegeisterten, die sich in Chiapas einfinden, auch viele BaskInnen und KatalanInnen. Der u. a. von Intellektuellen wie dem ehemaligen Abgeordneten der sozialdemokratischen Partei der Demokratischen Revolution (PRD), Gilberto López y Rivas (2004), unternommene Versuch, zapatistische Autonomie für kompatibel mit dem mexikanischen Gesetz zu erklären, ist jedoch nur eine Möglichkeit. Sie läuft stets Gefahr, als ethnische Schließung zu fungieren und „die Indigenen“ auf „ihre Kultur“ festzuschreiben. Eine andere wäre es, Autonomie als transnationalistisches Projekt zu formulieren, relativ unabhängig vom jeweiligen nationalen politischen, sozialen und juridischen System und bezogen auf soziale Bewegungen weltweit, statt auf die mexikanische Nationalfahne. [3] Gerade die vielen, u. a. als „urbaner Zapatismus“ theoretisierten Aktivismen, die in Bewegungen weltweit im Anschluss an den Zapatismus praktiziert wurden, lassen diese Option zu mehr als einem Hirngespinst werden.
Berlin,
Ostern 1995 (Autonomie von der Nation)
Ein irgendwie positiver Bezug auf die nationalen Surroundings war in linksradikalen Kreisen im deutschsprachigen Raum geschichtsbedingt von vornherein ausgeschlossen. Undogmatisch wurde angeknüpft vor allem an die Ereignisse von 1968 – die in Deutschland den Bruch statt wie beispielsweise in Mexiko eher die Einheit mit der Elterngeneration herbeiführten – und gesetzt auf Herbert Marcuses „rebellische Subjektivität“ gegen den eindimensionalen Rest.[4] Allerdings war seit Aufkommen der autonomen Bewegung in den frühen 1980er Jahren klar, dass es keine Unabhängigkeit innerhalb der herrschenden Verhältnisse gibt. Beim Autonomiekongress in Berlin, dem „Treffen der Generationen“ für neuen Schwung, das allerdings eher zu einem Abschlussresumée werden sollte, versammelten sich junge und alte Autonome unter der Losung „Autonomie ist selbstbestimmte Abhängigkeit“. Die etwa 2.500 kämpferischen Subjekte in der Berliner Technischen Universität und ihr Umfeld hatten neben den Punk- mittlerweile auch Techno-Ästhetiken zugelassen und anarchistischen und neomarxistischen Theorieansätzen „postmoderne“ hinzugefügt. Die vom Staatsschutz über Jahre mit 5.000-10.000 Menschen bezifferte Bewegung hatte Häuser, Plätze und soziale Nischen besetzt und in gesellschaftliche Debatten wie die Atom- oder „Ausländerpolitik“ eingegriffen. Ein Modell, das sich am ehesten noch als „Autonomie in der Nation“ bezeichnen ließe, weil eine Positionierung innerhalb Deutschlands und mit deutlichem, negativen Bezug auf die Geschichte dieser Nation stattfindet.
Fünf Jahre vor dem Kongress war unter maßgeblich autonomer Beteiligung die von 20.000 Menschen besuchte „Nie wieder Deutschland!“-Demo in Frankfurt/Main gegen die so genannte Wiedervereinigung organisiert worden. Die damals noch viel stärker dem baskischen oder kurdischen Befreiungskämpfen verpflichtete autonome Szene hatte den Bezug zur eigenen Nation dort recht eindeutig ausgesprochen. Trotzdem ist das auf militante, zwischen nischen- und bewegungspolitischer Praxis lavierende Autonomiekonzept der Autonomen nicht gefeit vor nationalen oder anderen ungewollten Vereinnahmungen. Mehr als in den anderen beiden hier skizzierten Konzeptionen war die Autonomie der Autonomen subkulturell bestimmt. Symbolproduktion stand auch hier hoch im Kurs, wenn auch die von Dreadlocks, WG-Leben und Konzertbesuchen vermittelte Einigkeit kaum an die von Nationalfahnen gestiftete herankommt: Kultur ist dabei weniger ein bestimmter Kanon, als vielmehr ein Gemisch aus Ritualen, Symbolen und Praktiken, die sich an anderen Bewegungen, Strömungen und Schulen abarbeiten und herausbilden, mehr transnational als am Rahmen „einer“ Nation orientiert. Zu kritisieren gab und gibt es an der Autonomen-Autonomie dennoch nicht weniger als an der Autonomie der Unabhängigkeit oder der Zapatista-Autonomie: vom Bashing anderer, z. B. gewaltfreier Aktionsmethoden bis zur Undurchsichtigkeit der eigenen Strukturen, die die Aufnahme in den Club der Gleichgesinnten oft nicht gerade einfach (geschweige denn demokratisch) werden ließ. Zudem ist die Post-68er-Autonomie der Autonomen auch in Verdacht geraten, den Geist des Kapitalismus erneuert statt, wie geplant, zerstört zu haben: Luc Boltanski und Ève Chiapello (2003) beschreiben die Forderung nach Autonomie als Teil einer gegen die Standardisierung und Vermassung des fordistischen Zeitalters gerichteten „Künstlerkritik“. Anstatt ihnen also antikapitalistische Effekte zu bescheinigen, machen Boltanski/Chiapello (2003: 389) aufgrund von Merkmalen wie Netzwerkorganisation, Mobilität und Flexibilität sogar eine „Formengleichheit der neuen Protestbewegungen und der Strukturen des Kapitalismus“ aus. Die „Künstlerkritik“ sei, im Gegensatz zur „Sozialkritik“, die auf Sicherheit und Stabilität abziele, im Kampf gegen den Kapitalismus gescheitert. Denn sie habe die Augen davor verschlossen, wie sehr „Freiheit Teil des Kapitalregimes und wie eng dieses kapitalistische System mit dem Begehren verbunden ist, auf dem ein Großteil seiner Dynamik beruht.“ (Boltanski/Chiapello 2003: 506)[5]
Während im Modell der „Autonomie als Nation“ deshalb problematisch erscheint, weil es die Institution(en) der Nation nicht in Frage stellt, scheint dem Konzept „Autonomie von der Nation“ – glaubt man Boltanski/Chiapello – gerade zum Verhängnis zu werden, permanent „zu tun und zu instituieren“ (Castoriadis) und dabei die eigenen, „alternativen“ Insitutionalisierungsprozesse zu übersehen. Der Eifer gegen die Homogenisierungen von Staat und Nation schlägt demnach gegen die EifererInnen zurück: Aus den sicheren, aber einförmigen Arbeitsverhältnissen werden prekäre, aus dem grauen, einheitlichen Fabrikalltag wird eine bunte „gesellschaftliche Fabrik“ (Antonio Negri) mit optimierten Verwertungsbedingungen. Aber selbst wenn die Kritik an den Institutionen – und diesbezüglich gibt es durchaus Schnittmengen zwischen den von Boltanski/Chiapello erwähnten Protestbewegungen und jenen institutionenkritischen KünstlerInnen, von denen Helmut Draxler spricht – nicht davor gefeit ist, im falschen Sinne instituierend zu wirken, gibt es zu ihr keine Alternative. Denn nicht zuletzt die „Verleugnung und das Unkenntlichmachen der instituierenden Dimension der Gesellschaft“ (Castoriadis 2006: 144) ist so von je her eine der zentralen Stützen des Status Quo.[6] Denn sie verlegt zugleich die Fundamente und Ursprünge von Institutionen in ein „Vorher“ oder „Außerhalb“, wie es die naturalisierende Ideologie des neoliberalen Kapitalismus mit ihren „Sachzwängen“, „Standorterfordernissen“ und „Investitionsspielräumen“ geradezu paradigmatisch vorführt.
Instituierende Praktiken im Sinne eines „Autonomieentwurfes“ nach Castoriadis hätten sich folglich gegen jene Unkenntlichmachung zu richten, ohne sich aber in dieser Pose der Kritik einzurichten: Denn die Autonomien selbst sind relational und ambivalent und drohen, sich entweder national zu gerieren und zu schließen und/oder sich in neoliberale Imperative wie jenen der „Eigenverantwortung“ einzupassen. Es bedarf also höchst selbstreflexiver Praktiken, ohne dabei der kollektiven Selbsthypnotisierung zu verfallen.
Literatur:
Birkner, Martin und Robert Foltin 2006: (Post-)Operaismus. Von der Arbeiterautonomie zur Multitude. Geschichte und Gegenwart, Theorie und Praxis. Eine Einführung, Stuttgart (Schmetterling Verlag).
Boltanski, Luc und Ève Chiapello 2003: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz (UVK Verlagsgesellschaft).
Castoriadis, Cornelius 1990: Gesellschaft als imaginäre Institution, Frankfurt a. M. (Suhrkamp Verlag).
Castoriadis, Cornelius 2006: Macht, Politik, Autonomie, in: ders.: Autonomie oder Barbarei. Ausgewählte Schriften Band 1, Lich/Hessen (Verlag Edition AV), S. 135-167.
Draxler, Helmut 2006: Loos lassen: Institutionskritik und Design, in: Alberro, Alexander und Sabeth Buchmann (Hg.): Art After Conceptual Art, Köln/Wien (Verlag der Buchhandlung Walther König/Generali Foundation), S. 171-181.
Habermas, Jürgen 1988: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt a. M. (Suhrkamp Verlag).
Kastner, Jens 2006: Wille zur Freiheit. Autonomie in der entwicklungspolitischen Diskussion, in: iz3w, Freiburg, Nr. 294, Juli/August 2006, S. 16-19.
López y Rivas, Gilberto 2004: Autonomías. Democracia o Contrainsurgencia, Mexiko D. F. (Biblioteca Era).[1] Draxler (2006: 178) betont, dass der Begriff der Institutionskritik selbst „eine Unklarheit darüber, auf welches Verständnis von Institution er bezogen ist“ beinhaltet. Nicht ganz klar ist in vielen Fällen, ob die Institutionskritik sich gegen konkrete Museen oder Galerien, gegen das künstlerische Feld als Ganzes oder überhaupt gegen gesellschaftliche Institutionen wendet.
[2] Die Auseinandersetzung mit einem der wichtigsten Autonomieprojekte der jüngeren Geschichte würde den Rahmen dieses Textes sprengen und liegt deshalb auch außerhalb der historische Eingrenzung: Der Operaismus in Italien. Vgl. dazu Birkner/Foltin 2006.
[3] Zu den verschiedenen theoretischen Konzeptionen von Autonomie am Beispiel der Diskussion um den Zapatismus vgl. auch Kastner 2006.
[4] Die deutschnationalistische Kontinuität, die diejenigen Alt-68er heraufbeschwören, die wie der Ex-SDS-Vorsitzende Bernd Rabehl heute ultrakonservative oder, wie Ex-RAF-Anwalt Horst Mahler, faschistische Positionen vertreten, ist für das Gros der transnationalen Bewegungen von 1968 bzw. für deren Inhalte kaum haltbar. Dass auch von Seiten der so genannten „Antideutschen“ die Argumentation von Rabehl und Mahler unterstützt wird, um diese und mit ihnen die gesamte radikale Bewegungslinke zu diskreditieren, macht sie nicht plausibler.
[5] Auch wenn sicherlich nicht die autonome Bewegung im deutschsprachigen Raum, sondern die 68er in Frankreich der Gegenstand der Analyse von Boltanski/Chiapello waren, sind schließlich auch die Autonomen eine der Post-68er-Bewegungen, deren Freiheitsrhetorik nicht selten in die „flachen Hierarchien“ neuer Betriebsstrukturen überführt wurde.
[6] Dass eine der zentralen Inhalte der 68er-Autonomieforderung auch darin bestand, in Anlehnung an Marx Geschichte als von Menschen gemacht und deshalb „machbar“ (Dutschke) herauszustellen, blendet die polarisierende Herangehensweise von Boltanski/Chiapello komplett aus. Auch weil sie solche wesentlichen Inhalte nicht wahrnehmen kann, ist die Gegenüberstellung von „guter“ Sozialkritik und „böser“ Künstlerkritik in ihrer ausschließenden Dichotomie zurückzuweisen.