07 2018
Über die Überschneidungen von globalisiertem Kapitalismus und nationalen Politiken
Gastarbeiter_innen, Geflüchtete, Migrant_innen mit irregulärem Status
Übersetzt von Birgit Mennel
Wenn wir über Migrant_innen und Geflüchtete sprechen, stoßen wir unmittelbar auf Definitionsprobleme. In der Soziologie ist jede_r ein_e Migrant_in, der_die von einem Land in ein anderes zieht. Eine eher alte – wie auch altmodische – Theorie der Migration definiert „Push- und Pull-Faktoren“ der Migration (Lee 1966). Flucht wäre dann eine spezifische Form von Migration, nämlich „erzwungene Migration“ oder, um es in den Begriffen von Everett S. Lee’s Theorie zu formulieren, eine Form von Migration, die hauptsächlich oder ausschließlich durch Push-Faktoren ausgelöst wird.
Entsprechend der Rechtslage in den meisten Ländern des globalen Nordens haben jedoch Geflüchtete das Recht, Schutz in einem anderen Land zu finden, wenn eine „begründete Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung“ dargelegt werden kann (Genfer Flüchtlingskonvention). Die Rechte der meisten Migrant_innen auf Migration sind dagegen von ihrem Nutzen für das Zielland abhängig – vor allem von der Nachfrage nach ihrer Arbeitskraft.[1] Die Gründe für ein Bleiberecht ergeben sich also im Fall von Asyl aus den Bedürfnissen der Geflüchteten und im Fall von Arbeitsmigration aus den Bedürfnissen des Aufnahmelandes.
So steht es im Gesetz. Dieses spiegelt nicht immer oder notwendigerweise die gesellschaftliche Realität wider, aber es konstruiert diese - manchmal auch gegen die eigentlichen Absichten des Gesetzes. Wir werden noch darauf zurückkommen. In den letzten Jahren wurde offensichtlich, dass die Politik Gesetze entsprechend ihren eigenen Zielen interpretiert. Allgemein kann man festhalten, dass das Recht auf Asyl ein Problem für (potentielle) Aufnahmeländer darstellt. Gleichzeitig wurde dieses Recht bis vor kurzem nicht offen in Frage gestellt. Statt den Geflüchteten Schutz zu verweigern, haben die Nationalstaaten versucht, sie von ihrem Territorium fernzuhalten. Gesetzliche Bestimmungen, die Asylanträge in einer Botschaft im Herkunftsland nicht zulassen, stellen möglicherweise eines der effektivsten Mittel zur Erreichung dieses Ziels dar. Aber auch die Dublin-Verordnung der Europäischen Union, die vorsieht, dass in den meisten Fällen jenes EU-Land für Asylverfahren zuständig ist, das ein_e Geflüchtete_r zuerst betreten hat, hält Geflüchtete von EU-Ländern ohne EU-Außengrenze fern.
Darüberhinaus hat die EU in jüngerer Zeit verschiedene Krisen durchlaufen: Zunächst eine ökonomische Krise, die es unter anderem verunmöglicht hat, Geflüchtete entsprechend dem Dublin-System nach Griechenland zurückzuschicken. Und dann die sogenannte Flüchtlingskrise, die in der Tat ebenso absehbar war wie die ökonomische Krise, sodass spekuliert werden könnte, die EU-Regierungen hätten absichtlich alle Warnzeichen übersehen und ihre chaotischen und ineffektiven Reaktionen auf den großen Zustrom von Geflüchteten wären tatsächlich Teil eines Plans. Die Botschaft im ersten Halbjahr 2015 lautete: Das ist nicht machbar. Wir würden die Genfer Flüchtlingskonvention ja gerne berücksichtigen – aber das übersteigt unsere Möglichkeiten.
Dann kam der August 2015 mit den Bildern von in Ungarn feststeckenden Geflüchteten (die sich im Übrigen kaum von den Bildern von Geflüchteten in anderen Weltteilen unterschieden, die wir schon seit vielen Jahren kennen), die 71 toten Geflüchteten in einem LKW in Ostösterreich (eine Zahl von Toten, die kaum der Rede wert ist, wenn um das Mittelmeer geht) und Angela Merkels Ansage, „Wir schaffen das“. Und das Klima veränderte sich – für rund zwei Monate –, aber immerhin. Warum war das so? Geflüchtete wurden willkommen geheißen, Leute halfen, jede_r Österreicher_in oder Deutsche_r mit nur ein bisschen Selbstrespekt hatte zumindest eine_n Geflüchtete_n als Schützling …
Dann änderte sich wiederum alles, angeblich wegen der Terrorangriffe in Paris im November 2015 - aber die wurden nicht von Geflüchteten ausgeführt. Und dann waren da noch die sexuellen Übergriffe in der Kölner Silvesternacht – aber sexuelle Belästigung ist nichts wirklich Außergewöhnliches. Polizeiermittlungen zufolge waren außerdem keine Angehörige der größten nationalen Gruppen von Geflüchteten involviert – und jedenfalls hatte die Willkommenskultur lange vor der Silvesternach ihr Ende gefunden.
Der Zusammenhang ließe sich also auch umgekehrt formulieren: Es mussten Gründe gefunden werden – und diese können immer gefunden werden –, um die Willkommenskultur einem Ende zuzuführen. Oder es ließe sich auf noch paranoidere Weise argumentieren, dass die Willkommenskultur und ihr Scheitern tatsächlich Teil eines Plans waren, um mit dem Recht auf Asyl aufzuräumen.
Das ist eine Verschwörungstheorie – und noch nicht mal eine gute –, aber was auch immer die Gründe waren: Schlussendlich führte die Willkommenskultur zu starken Einschränkungen des Rechts auf Asyl in der EU. Wir sollten aber auch nicht übersehen, dass rund tausend Personen im kurzen Sommer der Migration[2] Asyl oder subsidiären Schutz erhielten; das sollte nicht heruntergespielt werden. Seit geraumer Zeit hat sich Willkommenskultur jedoch in eine Art Schimpfwort verwandelt (ähnlich dem Gutmenschen) und alle sind sich mehr oder weniger einig, dass es eine realistische Flüchtlingspolitik braucht.
Was aber heißt realistisch? Vermutlich Realpolitik, also „Politik, die auf praktischen und materiellen Faktoren beruht statt auf theoretischen oder ethischen Zielen“, wie es im Merriam-Webster Wörterbuch[3] heißt, sowie eine „Politik, die auf Macht statt auf Idealen beruht“, wie dictionary.com[4] zu entnehmen ist. Was bedeutet dann Realpolitik im 21. Jahrhundert in Zusammenhang mit Migration?
Nationale politische Ordnungen und globalisierter Kapitalismus
Realpolitik als Beschreibungsform politischer Aktivitäten fokussiert ebenso wie die Theorie des Realismus in internationalen Beziehungen auf Macht als dem wichtigsten Antriebsfaktor der Politik. Realismus basiert außerdem auf der Annahme, dass Staaten immer noch die wichtigsten Akteure der internationalen Politik sind. Dies mag eine richtige oder falsche Einschätzung sein – aber jedenfalls erscheint plausibel, dass Staaten im globalen Norden von ihren Repräsentant_innen als die wichtigsten Akteure internationaler Politik verstanden werden und dass ihre Repräsentant_innen meinen, sie könnten politisch einigermaßen autonom agieren.
Die meisten Staaten sind offiziell als nationale Demokratien organisiert. Idealerweise decken sich in einer nationalen Demokratie die nationale Bevölkerung, das nationale Territorium und die nationale politische Ordnung. In real existierenden Nationalstaaten verhält sich dies selten so, aber auf diesem Mythos beruhen nationale Demokratien. Und dieser Mythos ist ebenso bedeutsam wie effektiv und schließt eine ganze Reihe wohlbekannter Elemente ein, wie etwa nationale Abstammung, nationale Kultur, nationales Interesse etc. Die Konstruktion der gemeinsamen Nation bildet jedenfalls die Basis einer kollektiven Identität/Loyalität/Solidarität, die eine notwendige Voraussetzung der Demokratie ist – man beachte: der nationale Teil ist nicht notwendig, wohl aber der kollektive Teil. Ohne ein Verständnis von Kohäsion sind Bürger_innen nicht bereit, ihren Mitbürger_innen „Gleichfreiheit“ (Balibar 2010) zu gewährleisten, und wie wir alle wissen, sind kollektive Identitäten oder Gruppensolidarität nicht allein durch Einschluss bestimmt, sondern auch – und das ist vielleicht wichtiger – durch Ausschluss. Mit der Entscheidung, wer zu einer Gruppe gehört, entscheiden wir auch, wer nicht dazugehört. Im Fall von Nationalstaaten gehören diejenigen nicht dazu, die keine nationalen Bürger_innen sind, oder vielleicht auch die, die nicht immer schon nationale Bürger_innen waren, deren Eltern keine nationalen Bürger_innen waren etc.. Die Nation ist folglich nicht nur eine politische Demarkation, sondern auch ein vielschichtiger Mythos.
Um autonom zu sein, braucht ein Staat eine starke und funktionierende Ökonomie, die sogenannte Nationalökonomie. Aber der moderne Nationalstaat war immer schon mit dem ökonomischen System des Kapitalismus verflochten, das nach fortwährender Expansion strebt. Heutzutage funktionieren weite Teile dieses ökonomischen Systems auf globale Weise. Die globale Bewegungsfreiheit von Gütern, Dienstleistungen und bis zu einem gewissen Grad der Arbeitskraft ist daher für globale ökonomische Akteur_innen vorrangig, was sie in teilweisen Widerspruch zu den Interessen der Nationalstaaten bringt. Andererseits profitieren Nationalstaaten auch vom globalen ökonomischen Tausch, weil zum Beispiel Konsument_innen in diesen Staaten billige Produkte kaufen können, die im globalen Süden produziert werden.
Migration wird im Allgemeinen durch die Bedürfnisse und Aktivitäten einer transnationalen Ökonomie bedingt und strukturiert. Im Fall der Gastarbeiter_innen war dies offensichtlich. Ein Mangel an Arbeitskraft in bestimmten Teilen der westeuropäischen Ökonomien konnte durch den Import dieser Arbeit kompensiert werden. Wie allgemein bekannt ist, basierte das System der Gastarbeiter_innen zu Beginn auf der eher naiven Idee, ein solcher Import von Arbeit wäre ohne weitere Resonanzen oder Veränderungen möglich: Die Arbeitskraft würde so lange wie nötig importiert und zurückgeschickt, wenn sie nicht mehr benötigt würde. Die ersten Gastarbeiter_innen hatten für ihr Leben ähnliche Pläne: Sie würden lange genug bleiben, um Geld für ein gutes Leben zu Hause zu verdienen. Sowohl das politische und ökonomische System wie auch die involvierten Individuen selbst reduzierten also diese Individuen auf ihre ökonomische Funktion als Arbeitskraft. Als jedoch beide Seiten dieses Handels begriffen, dass diese mechanische Sichtweise verkürzt war – in den Worten von Max Frisch (1967, 100): Wir riefen Arbeitskräfte und es kamen Menschen –, wurde der ausschließende Teil der nationalen Identität relevant. Gastarbeiter_innen wurden aus sogenannten kulturellen Gründen zum Problem – je nach dem gerade angewandten Konzept von Kultur weil sie eine fremde Kultur hatten oder überhaupt keine.
Dieser Ausschluss ist ökonomisch zweischneidig. Einerseits ist der absolute Ausschluss von Fremden aus einem nationalen Territorium, das heißt, die Unmöglichkeit der Migration, schädlich. Andererseits war dieser absolute Ausschluss in der politischen Realität, in der Realpolitik niemals möglich oder beabsichtigt. Und der relative Ausschluss von Fremden von politischen und sozialen Rechten sowie von einer Integration in die Gesellschaft schafft ein Arbeitskräftepotenzial, das überausgebeutet werden kann, und verringert das Problem der Arbeitslosigkeit, da diese Arbeitskräfte im Falle von Arbeitslosigkeit oder Arbeitsunfähigkeit weggeschickt werden können.
Heutzutage sehen wir eine ähnliche oder gar verschärfte Situation für Sans Papiers oder Migrant_innen mit irregulärem Status – für „illegale Migrant_innen“, wie sie in der Alltagssprache heißen. Im Gegensatz zu den Gastarbeiter_innen wurden sie nie gerufen, sie sollten einfach nicht da sein. Diese strukturelle Betrachtung beschreibt allerdings nicht die individuelle Situation aller Migrant_innen mit irregulärem Status , da es viele Gründe dafür gibt, dass jemand „illegalisiert“ wird – negative Asylentscheidungen, Verlust des Aufenthaltsrechts aufgrund von Arbeitsplatzverlust oder Scheidung, Überschreiten der zulässigen Aufenthaltsdauer etc. So können sich auch jene, die einst gerufen wurden, später in einer irregulären Situation wiederfinden.
Migrant_innen mit irregulärem Status sind nicht nur eine – sehr vielfältige – soziologische Gruppe, sie sind auch oft ein Sündenbock. Sie verkörpern all das, was im Hinblick auf Migration als problematisch angesehen wird. Sie können nicht gezählt, nicht kontrolliert werden – als Gruppe. Individuell werden sie ständig kontrolliert. Sie tun nicht nur, was sie nicht tun dürfen (zum Beispiel arbeiten), sie sind und dürfen nicht sein. Wenn jede Migrant_in eine Störung der nationalen Ordnung darstellt, dann verkörpern Sans Papiers diese Störung, sie sind die Migrant_inen par excellence (vgl. Sayad 2015, S. 42). Und zugleich können sie genau so – oder vielleicht sogar mehr – überausgebeutet werden wie Gastarbeiter_innen.
Wie aber verhält es sich mit Geflüchteten? Mit ihrem individuellen sowie universellen Recht auf Schutz? Wie bereits erwähnt, stand dieses Recht lange Zeit offiziell außer Streit, aber es handelt sich um ein exklusives Recht für Geflüchtete.. Daher wurden Zweifel am Recht auf den Status als Geflüchtete allgemein zum integralen Bestandteil der rechtlichen Verfahren und öffentlichen Diskurse in der EU. Auf kollektiver Ebene wird dies daran deutlich, dass offiziell immer mehr Länder als „sichere Herkunftsländern“ gelten, wie etwa seit kürzerer Zeit Afghanistan. Nicht nur sind diese Einschätzungen zumindest zweifelhaft, zusätzlich ist Asyl ein individuelles Recht und die Gründe für Asyl müssen individuell beurteilt werden: Viele Länder sind relativ sicher für manche Leute, aber nicht sicher für andere, wie etwa sexuelle Minderheiten. (Afghanistan ist für niemanden sicher – daher wurde auch die deutsche Botschaft in Kabul am 31. Mai 2017 auf unbestimmte Zeit geschlossen und Österreich hat eine Reisewarnung auf dem höchstmöglichen Niveau für seine Staatsbürger_innen ausgegeben – aber sowohl Deutschland wie Österreich schieben weiterhin Leute nach Afghanistan ab.)
Auf individueller Ebene bestehen Asylverfahren hauptsächlich darin, Zweifel an der „wohlbegründeten Furcht vor Verfolgung“ des_der jeweiligen Asylwerber_in zu äußern. Entscheidungen über Asylanträge lesen sich manchmal eher wie eine Form literarischer Kritik denn wie eine rechtliche Entscheidung: Der_Die Asylwerber_in war zu emotionslos, als sie_er über Folter gesprochen hat. Oder zu emotionsgeladen, sodass es nicht authentisch schien. Oder sie_er konnte diejenigen nicht beschreiben, die verfolgt, gefoltert, die Familie ermordet haben etc. Sie_Er konnte nicht beweisen, dass dies wirklich aus politischen Gründen geschah. Vielleicht war es nur eine Familienfehde, die nicht als Fluchtgrund gilt. Vielleicht wäre es möglich gewesen, sich in einem anderen Landesteil niederzulassen, sodass es keinen Grund gab, nach Europa zu kommen. Oder sie_er hatte lediglich ökonomische Gründe (wie etwa die Angst, zu verhungern), was den_die Geflüchteten in eine_n Migrant_in ohne Bleiberecht verwandelt (vgl. Mokre 2015).
Ökonomisch und politisch macht es Sinn, Geflüchtete von Europa fernzuhalten. Jemand mit denselben Arbeits- und sozialen Rechten wie ein_e Bürger_in, bringt keinen zusätzlichen Nutzen und könnte sogar dem öffentlichen Budget zur Last fallen. Es macht auch Sinn, Asylwerber_innen für eine lange Zeit in dieser Situation halten. Zwar muss der Staat während dieser Zeit für sie sorgen – aber das tut er auf eine immer eingeschränktere Weise. Und ein_e Asylwerber_in hat zwar das Recht auf Aufenthalt, doch üblicherweise nicht oder nur in sehr eingeschränkter Form das Recht auf Beschäftigung – was uns zur Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit der Überausbeutung auf dem illegalisierten Arbeitsmarkt zurückbringt.
Universalismus als Ausschluss
Wie aber verhält es sich mit den universellen Menschenrechten? Immerhin ist Realpolitik niemals nur Realpolitik. Politik braucht eine Art von moralischer Untermauerung und eine Vision, auf die eine Gesellschaft hinarbeitet, zum Beispiel die Illusion des Erbes der Aufklärung und demokratischer Revolutionen. Offensichtlich sind diese universellen Rechte im Hinblick auf die betroffenen Individuen zahnlos. Seit Hannah Arendt wissen wir, dass das grundlegendste Menschenrecht jenes Recht wäre, Rechte zu haben, das heißt ein politisches Recht, für die eigenen Rechte zu kämpfen, einschließlich jener Rechte, die bis jetzt nicht gewährt wurden. Und gerade dieses Recht wird Nicht-Bürger_innen vorenthalten (Arendt 2001, S. 607).
Andererseits sind Menschenrechte und Demokratie für Europa äußerst wichtig. Europa hat sie angeblich erfunden und setzt sie auch um – im Gegensatz zu anderen Ländern und im Gegensatz zu vielen Migrant_innen, die etwa die Rechte von Frauen und sexuellen Minderheiten nicht respektieren oder gar das Staatsmonopol auf Gewaltanwendung in Frage stellen. Universelle Menschenrechte, so ließe sich argumentieren, verbürgen die Überlegenheit der europäischen Kultur (oder der westlichen Kultur oder der Kultur des globalen Nordens).
Sichtbar werden
Das ist ein Dilemma – universelle Rechte sind als kultureller Marker vonnöten, sind aber, wenn sie wirklich umgesetzt werden, politisch und ökonomisch kontraproduktiv. Allerdings ist das kein neues Dilemma. Immerhin basiert der Wohlstand der aufgeklärten Staaten des globalen Nordens seit langer Zeit auf der mehr oder weniger unbeschränkten Ausbeutung durch Kolonialismus und Postkolonialismus, das heißt darauf, dass die universellen Rechte der Aufklärung in anderen Weltteilen keine Geltung haben. Das Geheimnis dieser Strategie besteht darin, dass Menschenrechtsverletzungen unsichtbar bleiben, was verhältnismäßig leicht möglich ist, wenn diese Verletzungen in fernab gelegenen Teilen der Welt geschehen. Diese Unsichtbarkeit lässt sich in manchen Fällen sogar auf produktive Weise mit einer spezifischen Form von Sichtbarkeit verbinden, zum Beispiel im Fall von Menschenrechtsverletzungen durch Regime postkolonialer Staaten, die neuerlich die Überlegenheit „unserer“ politischen Kultur unter Beweis stellen. So können alle Arten von Gewalt legitimiert werden, selbstverständlich auch Krieg.
Unsichtbarkeit wird jedoch schwieriger, wenn diejenigen ohne Menschenrechte zu einem Teil der Bevölkerung werden. Dennoch ist es nicht unmöglich, Menschen trotz ihrer physischen Präsenz unsichtbar zu machen – Gastarbeiter_innen, die nur eine Arbeitskraft und keine Menschen sind, Sans Papiers, die ignoriert werden können, da sie rechtlich gesprochen, nicht hier sind, oder in Lagern versteckte Asylwerber_innen. Darüberhinaus scheint die EU heute in die koloniale Weise der Produktion von Unsichtbarkeit zurückzufallen, indem sie Geflüchtete fernhält oder abschiebt: Durch die Auslagerung von Asylverfahren und Lager für Asylwerber_innen in Staaten wie etwa Libyen – international nicht wirklich bekannt für seine Rechtsstaatlichkeit – sowie durch die Abschiebung (oder Organisation der „freiwilligen Rückkehr“) von Geflüchteten in „sichere Länder“ wie Afghanistan oder Nigeria.
Während des kurzen Sommers der Migration 2015 wurden Geflüchtete sichtbar – als Individuen und als Kollektiv – mit Erfahrungen, Bedürfnissen und Hoffnungen. Das war wichtig. Zugleich war es nicht genug. Geflüchtete wurden als Opfer sichtbar, als Menschen, die „unsere“ Hilfe brauchen und verdienen, nicht als Träger_innen von Rechten. Möglicherweise war es auch diese Form der Repräsentation, die es erleichterte, die Willkommenskultur zu beenden. Wenn mensch Asyl und Unterstützung verdienen muss, dann werden sie nicht gewährt, wenn sich Asylwerber_innen problematisch verhalten und Asyl und Unterstützung also nicht mehr verdienen.
Aber selbst diese Form der Sichtbarkeit hätte ein Anfang sein können im Kampf um politische Rechte – weil politische Rechte nur von sichtbaren Menschen erkämpft werden können –, aber dieser Kampf braucht keine Sichtbarkeit als Opfer und Wohltätigkeitsempfänger_innen, sondern Sichtbarkeit als Aktivist_innen, die ihre Rechte verteidigen und mehr Rechte fordern. Daher streben Bewegungen von Geflüchteten in Europa seit nunmehr mehreren Jahren nach Sichtbarkeit (und Hörbarkeit). In öffentlichen Räumen. Unter Einsatz ihrer Körper. Bei Besetzungen. In passivem und aktivem Widerstand. Bei Hungerstreiks.
Das sind durch und durch politische Handlungen. Es sind Handlungen, die weitere politische Handlungen ermöglichen, indem sie auf das Recht auf politische Rechte jenseits des Nationalstaats hinweisen und dieses verkörpern, ebenso wie auf das Recht auf Bewegungsfreiheit jenseits der Bedürfnisse des Kapitalismus.
Referenzen
Arendt, H. (2001): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft: Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus. 8. Aufl. München: Piper
Balibar, E. (2012), Gleichfreiheit. Politische Essays. Übers. v. Christine Pries. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Frisch, M. (1967), „Überfremdung I“, in: Frisch, M., Öffentlichkeit als Partner. Berlin: Edition Suhrkamp 209, S. 100.
Genfer Flüchtlingskonvention, Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge. http://www.unhcr.org/dach/wp-content/uploads/sites/27/2017
/03/Genfer_Fluechtlingskonvention_und_New_Yorker_Protokoll.pdf.
Mokre, M. (2015), Solidarität als Übersetzung, Überlegungen zum Refugee Protest Camp Vienna. Wien: transversal texts.
Lee, Everett S. (1966), „A Theory of Migration“. In: Demography, Jg. 5, Nr. 1, 1966, S. 47–57.
Sayad, A. (2015), „Immigration und Staatsdenken“. In: Mennel B./Mokre M. (Hg_innen), Das große Gefängnis. Wien: transversal texts, S. 35–64.
---
[1] Es gibt Ausnahmen von dieser Regel, vor allem die Familienzusammenführung, die eine Form der Migration sein kann, auf die Migrant_innen gemäß Art. 8 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ein Recht haben.
[2] Vgl. http://transversal.at/blog/Autonomy-of-Migration-After-its-Summer.