07 2018
Überlegungen zur Geschichte der „Gastarbeit“
„Le Gastarbeiter à la française“
Das Kapitel „Gastarbeiter“ aus Gérard Noiriels Le creuset français, einem Standardwerk der französischen Migrationsgeschichtsschreibung, entfaltet ein Panorama der Tätigkeitsfelder von Arbeitsmigrant*innen in Frankreich.[1] Es spricht von flämischen, später polnischen Saisonarbeiter*innen in den ländlichen Gegenden des Nordens, spanischen Weinlesehelfer*innen im Süden, Saisonniers aus dem Piemont, die sich auf Blumen-, Lavendel- und Olivenernte in der Provence spezialisierten, einer wachsenden Zahl von Arbeitskräften ungenannt bleibender Herkunft in Chemieindustrie, Minenbau, Nahrungsmittelverarbeitung und Bauwirtschaft, jüdischen Hutmacher*innen im Pariser Viertel Marais, armenischen Textilarbeiter*innen in an Paris angrenzenden Banlieue-Gemeinden, später jugoslawischen und türkischen Konfektionsarbeiter*innen im Quartier du Sentier, und schließlich dem Bereich der Hausarbeit, die, im Unterschied zu den anderen genannten Bereichen, vor allem von Frauen ausgeübt wurde.
In statistischer Analyse hebt Noiriel drei Konstanten hervor, durch die sich die Bevölkerungsgruppe der „Gastarbeiter“ von der etablierten französischen Bevölkerung strukturell unterscheidet: 1) eine generelle, wenngleich nicht in allen Bereichen bestehende Überrepräsentation von männlichen Arbeitskräften; 2) eine Überrepräsentation bestimmter Altersgruppen, nämlich derer, die „am produktivsten“ sind; und 3) eine Überrepräsentation hinsichtlich bestimmter „Pole der verachteten Arbeit“, als die Noiriel a) körperlich besonders anstrengende Arbeiten, b) von zunehmender Automatisierung geprägte Arbeitsfelder sowie c) eben den Bereich der Hausarbeit identifiziert.
Ich werde auf Details der Analyse Noiriels hier nicht weiter eingehen, sondern mich stattdessen dem Umstand zuwenden, dass er in der Tat das deutsche Wort „Gastarbeiter“ als Titel für das betreffende Kapitel wählt, obwohl in diesem an keiner Stelle von Migrationsverhältnissen in deutschsprachigen Ländern die Rede ist. Noiriel erklärt sich nicht über diese Entscheidung. Und auf den ersten Blick mag an ihr vielleicht auch nichts merkwürdig erscheinen, wenn wir beispielsweise im Hinblick auf „le Gastarbeiter à la française“ lesen: „[…] man lädt ihn ein, man wirbt ihn an, man behält ihn, damit er in Tätigkeitsbereichen arbeite, die von den Einheimischen abgelehnt werden“[2] – womit wohlbekannte Aspekte dessen angesprochen sind, was sich auch in den deutschsprachigen Ländern mit der Figur des „Gastarbeiters“ verband.
Merkwürdig ist unterdessen, dass die Verwendung des deutschen Wortes auf das Fehlen eines Namens schließen lässt, der sich im Französischen als Übersetzung von „Gastarbeiter“ eignen würde. Tatsächlich scheinen Begriffe wie travailleur étranger („ausländischer Arbeiter“) oder travailleur immigré („eingewanderter Arbeiter“) nicht zureichend, um die Sache zu benennen, um die es geht, und noch weniger, um die Existenz, das Leben zu benennen, um das es geht. Andererseits wirft ein Ausdruck wie „travailleur invité“ – der im Französischen mitunter als wörtliche Übersetzung von „Gastarbeiter“ vorgeschlagen wird, ansonsten aber durchaus ungebräuchlich ist – Fragen auf, die in der oben zitierten Stelle aus Noiriels Buch mit einer gewissen Deutlichkeit anklingen: Wie soll man sich einen „Gast“ vorstellen, dessen zentrale Aufgabe es ist, zu arbeiten? Was bedeutet es, jemanden „einzuladen“, um ihn oder sie auf Tätigkeiten zu verpflichten, die man selbst ablehnt und verachtet?
Im Deutschen mag die Sensibilität gegenüber diesen Fragen der sprachlichen Gewöhnung zum Opfer gefallen sein. Im Französischen wie auch in anderen Sprachen hingegen kann von einer diesbezüglichen sprachlichen Desensibilisierung nicht ausgegangen werden. Das merkwürdige deutsche Wort „Gastarbeiter“ lässt sich daher ins Französische zwar gewissermaßen „übertragen“ (in einem Sinn, den ich hier offenlassen muss), aber nicht durch ein „gleichwertiges“ französisches Wort wiedergeben. Und doch scheint es einen Grund zu geben, es zu verwenden, um „le Gastarbeiter à la française“ zu verstehen. Kurz, seine Präsenz in Noiriels Buch zeigt ein Problem an. Aber welches Problem?
Einbeziehung und Abstoßung
Es geht mir hier nicht in erster Linie darum, an die – berechtigte – Kritik des Wortes „Gastarbeiter“ als Euphemismus zu erinnern oder an den Umstand, dass seine Prägung in die späte Nazi-Zeit bzw. den Kontext der Mobilisierung ausländischer Arbeitskräfte seitens einer bis zum Kollaps expandierenden Kriegswirtschaft zurückreicht. So wichtig diese Erinnerung einerseits ist, so sehr bestätigt sie doch andererseits einen bestimmten historisch-politischen Rahmen, in den die Figur des „Gastarbeiters“ gewöhnlich eingeordnet wird. Diesem Rahmen entsprechend handelt es sich bei der Periode der „Gastarbeit“ um einen begrenzten Zeitraum, der sich grob gesprochen zwischen der Mitte der 1950er-Jahre und der durch den Ölpreisschock ausgelösten Wirtschaftskrise 1973 erstreckte, der durch ein „Entwicklungsgefälle“ zwischen nord(west)europäischen und südeuropäischen bzw. zum Teil nordafrikanischen Ländern in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg geprägt war und in dem zwischen den betreffenden Staaten bilaterale Anwerbeabkommen über den (mehr oder weniger temporären) Transfer von Arbeitskräften abgeschlossen wurden.[3] Die geographische Reichweite dieses „Transfers“ geht selbstverständlich, bei unterschiedlichen Bezeichnungen, über den deutschsprachigen Raum weit hinaus. Seine historische Reichweite bleibt in diesem Narrativ jedoch eng umrissen. Und so erscheinen das Unbehagen und die Fragen, die sich an das Wort „Gastarbeiter“ knüpfen, einerseits als Besonderheiten insbesondere der deutschen und österreichischen Geschichte, während andererseits die emblematische Assoziation des Wortes mit der Periode des „Wiederaufbaus“ unbefragt bleibt.
Noiriels „Übertragung“ des deutschen Wortes in den Kontext einer französischen Migrationsgeschichtsschreibung beinhaltet indessen nicht nur eine geographische Verschiebung. Sie verschiebt auch den historischen Referenzrahmen der „Gastarbeit“: Eine Vielzahl der eingangs wiedergegebenen Beispiele betreffen das späte 19. oder frühe 20. Jahrhundert, der überblickte Zeitraum erstreckt sich von etwa 1850 bis in die Mitte der 1980er Jahre und Noriels Analyse konzentriert sich vor dem Hintergrund der Auswertung verfügbarer Zensusdaten auf „drei Momente, die die Kurve als Höhepunkte der ausländischen Präsenz in Frankreich erscheinen lässt: 1891–1901 (erste professionelle Einwanderungsstatistiken), 1931 und 1975.“[4] Diese Ausweitung des historischen Referenzrahmens hat, so scheint mir, ebenfalls mit einem Unbehagen an dem Wort „Gastarbeiter“ zu tun – einem Unbehagen jedoch, das weniger in deutschen als in französischen sprachlichen Sensibilitäten begründet liegt oder vielmehr in den Fragen, die durch die seltsame Figur eines „travailleur invité“ aufgeworfen werden, für die das Französische keinen passenden Namen bereitstellt.
Die weiter oben gestellte Frage ist in diesem Sinne beim Wort zu nehmen: Was bedeutet es, jemanden „einzuladen“, um ihn oder sie auf Tätigkeiten zu verpflichten, die man selbst ablehnt und verachtet? Oder anders: Wie ist ein Modus der Einbindung oder der Einbeziehung zu verstehen, der seine Bedingung in etwas hat, das gleichzeitig aus dem eigenen Leben abgespaltet wird? Begriffe wie travailleur étranger oder travailleur immigré drücken ein Verhältnis der Einbeziehung nicht aus, weil sie bloß die Fremdheit oder andere Herkunft benennen, über die Aktivität der „Einladung“ aber Stillschweigen bewahren. Andererseits drückt noch nicht einmal „travailleur invité“ die mit der Einladung verbundene Abspaltung deutlich aus, es sei denn dadurch, dass die Einladung eben einem „Arbeiter“ gilt und nicht etwa einem convive, mit dem zusammen man lebt oder Leben teilt.
Und das deutsche „Gast“? Ein Gast kann willkommen geheißen werden oder als jemand betrachtet werden, der oder die über eingeschränkte Rechte verfügt, unabhängig davon, ob eine Einladung ausgesprochen wurde oder nicht. Im Falle des „Gastarbeiters“ haben wir es indessen in jedem Fall mit einem „Gast“ zu tun, der eingeladen wurde und sich zugleich auf eingeschränkte Rechte verwiesen sieht. Mit anderen Worten, die Figur des „Gastarbeiters“ wird konstituiert durch eine Einschließungsbedingung, die zugleich durch eine Ausschließungsbedingung (oder jedenfalls eine Einschränkung der Einschließung) überlagert wird. Es ist diese Überlagerung von Inklusion und Exklusion – der Einbeziehung von Arbeitskräften, die von bestimmten Rechten ausgeschlossen sind –, der ich in den folgenden Überlegungen nachgehen möchte.
Lohnarbeit und Arbeitsmigration
Um diese Überlagerung zu verstehen, erscheint es mir zunächst unerlässlich, an jenen Prozess zu erinnern, den André Gorz als „Erfindung der Arbeit“ bezeichnet hat.[5] Arbeit, wie sie in modernen Verhältnissen zusehends erfahren wurde, ist demnach nicht unabhängig von einer tiefgreifenden Umwälzung der Lebensweisen zu verstehen, die zum einen im scharfen Kontrast zur Trennung von Arbeitssphäre (als Sphäre der Notwendigkeit) und öffentlich-politischer Sphäre (als Sphäre der Freiheit) in der europäischen Antike steht. „Arbeiten hieß Sklave der Notwendigkeit sein“[6], schrieb Hannah Arendt (auf deren Analysen sich Gorz zentral stützt) in Bezug auf die griechische Polis, weswegen die Einrichtung der Sklaverei als Konstitutionsbedingung einer Gesellschaft freier männlicher „Bürger“ Arendt zufolge noch nicht einmal der Rechtfertigung bedurfte. In der Moderne hingegen, so Gorz, werde Arbeit nicht nur zu einem Teil der öffentlichen Sphäre, sondern zu einer wesentlichen Vorbedingung sozialer Anerkennung.
Zum anderen, und im unmittelbareren historischen Zusammenhang, geht der Prozess der Durchsetzung moderner Arbeitsregime mit der Auflösung von Wirtschafts-, Produktions- und sozialen Lebensformen einher, wie sie etwa in der landwirtschaftlichen Produktion oder in den Hausindustrien bestanden, solange Orte des sozialen Lebens und Arbeits- bzw. Produktionsorte nicht zusehends voneinander getrennt und den Imperativen der Rationalisierung und Profitmaximierung unterworfen wurden. Gorz’ zentrale Referenz in dieser Hinsicht ist Max Webers exemplarische Beschreibung des Wandels der Tätigkeiten von Textilunternehmern seit Mitte des 18. Jahrhunderts, der mit einer Erhöhung unternehmerischer Mobilität, wachsendem Konkurrenzkampf sowie einer tiefgreifenden Transformation der Beziehungen sowohl zu landwirtschaftlichen Produzent*innen (Kontrolle der Produktivität) als auch zu Kund*innen (persönliche Werbung) einherging.[7]
Der Gegenstand von Gorz’ Analyse ist vertraut: Es handelt sich um die Etablierung eines immer weitere Bereiche durchdringenden Systems der Lohnarbeit, wie es am machtvollsten in der Entwicklung des Industriekapitalismus in Erscheinung trat; oder, mit den Worten Marx’, eines vermittels der Lohnarbeit durchgesetzten Regimes der „abstrakten Arbeit“, die „absolut gleichgültig gegen ihre besondere Bestimmtheit, aber jeder Bestimmtheit fähig“[8] ist. Es ist diese Kombination von Unbestimmtheit und endloser Bestimmbarkeit, die charakteristisch ist für das moderne Regime der Arbeit und es zugleich ins Zentrum der Konstitution gesellschaftlicher Verhältnisse rückt. Deshalb ist Arbeit in der Moderne etwas, das „wir ‚haben‘, ‚suchen‘ oder ‚anbieten‘“ (Gorz), wobei die Bestimmung und Anerkennung von Arbeit nicht länger von der verrichteten Tätigkeit selbst oder ihrer Nützlichkeit abhängt, sondern von der Entlohnung, die für sie in wechselnden Verhältnissen in Aussicht gestellt wird. Und deshalb auch beginnen mit dem modernen Lohnarbeitsverhältnis Produktion und Konsumtion zusehends auseinanderzutreten, indem ihr Zusammenhang von Geld und Warenzirkulation bestimmt wird, ohne dass das konkrete soziale Subjekt produziert, was von ihm konsumiert wird, oder konsumiert, was von ihm produziert wird.[9]
Bemerkenswert ist indessen, dass sich Gorz’ Buch über den Zusammenhang zwischen dieser „Erfindung der Arbeit“ und der Frage der Migration weitgehend ausschweigt. Das ist umso merkwürdiger, als die Etablierung des kapitalistischen Lohnarbeitsregimes nicht unabhängig von einer Vielzahl von Wanderungsprozessen gesehen werden kann, die eng mit der – von Gorz betonten – Auflösung „traditioneller“ Lebens- und Wirtschaftsformen verknüpft waren.
Dies hat einerseits mit den Effekten der Kapitalisierung der Landwirtschaft zu tun, die Saskia Sassen folgendermaßen zusammengefasst hat: „Kapitalismus transformiert Land in eine Ware. Denn Land war die Grundlage für nicht-kapitalistische Formen der Subsistenz, seine Kommodifizierung ließ eine Masse an Landbevölkerung ohne Land zurück, der wenig anderes übrig blieb, als Teil der städtischen Arbeitskraftreserve zu werden.“[10] Hinzuzufügen bleibt, dass Zuwanderung in die im 19. Jahrhundert entstehenden industriellen Zentren nicht die einzige Form der Arbeitsmigration war, die in diesem Zusammenhang zu nennen ist; es entwickelte sich auch eine Intensivierung von saisonalen Wanderungen im Bereich der Landarbeit selbst, deren Charakter sich vor dem Hintergrund der Einhegung und Privatisierung von Land und der Entstehung landwirtschaftlicher Großbetriebe zusehends von der Möglichkeit der Subsistenzsicherung hin zur Einbindung in – kurzfristige – Lohnarbeitsverhältnisse verschob.[11] Andererseits entstanden intensivierte Prozesse der Arbeitsmigration aber auch in Verbindung mit der allmählichen Auflösung der Hausindustrien und einer Entwicklung des ländlichen Gewerbes, die durch wachsende Ausdifferenzierung von armen und reichen Regionen, die zunehmende Konzentration der Weiterverarbeitung und Vermarktung von Produkten in Städten und schließlich durch die Dominanz industrieller Produktions- und Verarbeitungszentren geprägt war.
Ohne den konkreten Formen dieser Migration hier auch nur ansatzweise nachgehen zu können: Entscheidend für unseren Diskussionszusammenhang ist, dass die von Gorz beschriebene „Erfindung der Arbeit“ nicht unabhängig von einer Mobilisierung von Arbeitskräften im buchstäblichen, physischen Sinn verstanden werden kann, die sowohl innerstaatliche als auch zwischenstaatliche Wanderungsbewegungen betraf. Man sollte sich die Einbeziehungsmaschine, die das moderne Arbeitsregime konstituiert, nicht ausschließlich am Leitbild von lokalen Einschließungsmilieus wie den Manufakturen oder industriellen Fabriken vorstellen, sondern von Anfang an auch als Mobilitätsmaschine. Ebenso sind die von Marx beschriebenen Charakteristika „Wechsel der Arbeit, Fluss der Funktion, allseitige Beweglichkeit des Arbeiters“ nicht ausschließlich durch die „Natur der großen Industrie“ bedingt[12], sondern kennzeichnen das moderne Lohnarbeitsregime als solches. „Abstrakte Arbeit“ und Migration sind in ihm von Beginn an aufs Engste miteinander verknüpft, auch wenn die Modalitäten dieser Verknüpfung historischen Transformationen unterliegen (und auch wenn es selbstverständlich vormoderne Formen der arbeitsbezogenen Wanderung gab).
Bedingung(en) der Vertraglichkeit
Umso mehr gilt es Gorz’ Argument näher zu diskutieren, dass in modernen Verhältnissen, anders als in der Antike, gerade die Arbeit zur Bedingung der Zugehörigkeit zur öffentlichen Sphäre wird. Denn im Hinblick auf die genannten Prozesse der Arbeitsmigration stellt sich die Frage, inwiefern sich die Inklusion in das Lohnarbeitsverhältnis tatsächlich mit einer Inklusion in eine politische Öffentlichkeit verbindet – und zwar insbesondere dann, wenn es sich um staatliche Grenzen überschreitende Migrationsprozesse handelt und sich folglich das Regime der Inklusion in Arbeitsverhältnisse mit staatlich begründeten Regimen der juridisch-politischen Exklusion (bzw. der Einschränkung von Inklusion) überlagert.
Das Wort „Gast“ mag in diesem Zusammenhang zunächst an den (in jüngerer Vergangenheit oft zitierten) „Dritten Definitivartikel“ aus Kants Schrift Zum ewigen Frieden denken lassen, der sowohl ein überstaatliches Weltbürgerrecht als auch dessen zwischenstaatliche Einschränkung formuliert: „Das Weltbürgerrecht soll auf Bedingungen der allgemeinen Hospitalität eingeschränkt sein.“[13] Allerdings bedeutet „Hospitalität“ für Kant bloß „das Recht eines Fremdlings, seiner Ankunft auf dem Boden eines andern wegen, von diesem nicht feindselig behandelt zu werden“ und wird ausdrücklich von einem Gastrecht unterschieden: „Es ist kein Gastrecht, worauf dieser Anspruch machen kann (wozu ein besonderer wohltätiger Vertrag erfordert werden würde, ihn auf eine gewisse Zeit zum Hausgenossen zu machen), sondern ein Besuchsrecht, welches allen Menschen zusteht, sich zur Gesellschaft anzubieten […].“ Vor allem aber: Kant spricht die Frage der Arbeit an keiner Stelle an, weder in seinen Ausführungen zum „Dritten Definitivartikel“ noch auch anderswo in seinem Entwurf Zum ewigen Frieden. Der „wohltätige Vertrag“, von dem im Zitat die Rede ist, gehört für ihn in den Bereich der Philanthropie und eignet sich somit kaum dazu, auf die Frage der Arbeitsmigration angewandt zu werden. Die eingeschränkte rechtliche Inklusion des „Fremdlings“ begründet sich für Kant aus „[dem Recht] des gemeinschaftlichen Besitzes der Oberfläche der Erde, auf der, als Kugelfläche, [die Menschen] sich nicht ins Unendliche zerstreuen können, sondern endlich sich doch neben einander dulden zu müssen“ – und nicht aus den aktiven Modalitäten eines Inklusionsregimes wie der Lohnarbeit.
Ich erinnere daher daran, dass der Kontrast zwischen der modernen „Erfindung der Arbeit“ und der antiken Trennung von Arbeit und Öffentlichkeit Gorz zufolge mit der Abkehr von der strikten antiken Trennung zwischen einer durch die Öffentlichkeit der Polis konstituierten Sphäre der Freiheit und einer Sphäre der Notwendigkeit zu tun hat, die nicht durch die Kugelfläche der Erde, sondern durch Arbeit bedingt ist. Wie aber, so ist im Gegenzug zu fragen, verbinden sich Notwendigkeit und Freiheit im modernen Lohnarbeitsverhältnis? Ich möchte hier nur einen Aspekt hervorheben, der für unseren Zusammenhang allerdings zentral ist, weil er spezifisch die Frage der rechtlichen Inklusion betrifft: den vertraglichen Charakter der Lohnarbeit, der historisch zugleich einen gewissen Zugang zur öffentlichen Sphäre in Gestalt des öffentlichen Rechts sicherstellt (und andererseits jenen verwehrt, die außerhalb des Lohnarbeitsverhältnisses tätig sind).
Robert Castel hat diese Frage des vertraglichen Charakters der Lohnarbeit ins Zentrum seiner Studie Die Metamorphosen der sozialen Frage gestellt und dabei nicht nur ihre Herkunft aus Systemen der Fronarbeit und Vormundschaft betont, sondern auch die Widersprüchlichkeiten der Neuanordnung von „Freiheit“ und „Notwendigkeit“ unter den Vorzeichen des Liberalismus und des politisch-juridischen Formalismus der Aufklärung. Der moderne Arbeitsvertrag garantiere zwar formell Freiheit – im Sinne eines freien Zugangs zum (Arbeits-)Markt, auf dem die individuelle Arbeitskraft selbst zur handelbaren Ware wird, sowie der Möglichkeit der Aufkündigung des Vertragsverhältnisses seitens beider Parteien. Doch ist nicht nur der Handel mit der eigenen Arbeitskraft in dem Maße zunehmend der Notwendigkeit unterworfen, wie andere Möglichkeiten der Subsistenzsicherung schwinden, sondern „die Situation des Lohnarbeiters [bleibt] über lange Zeit mit Prekarität und Unglück konnotiert“[14].
Zu Recht stellt Castel die Genese des modernen Arbeitsvertrages in den Zusammenhang einer „liberalen“ Aufklärung, die sich von transzendent begründeten Ordnungen vor allem vermittels zweier gesellschaftsimmanenter Legitimationsstrategien zu befreien sucht – das Recht bzw. die Idee der vertraglichen Verfasstheit der Gesellschaft sowie die Rationalität der politischen Ökonomie:
„Im Denken der Aufklärer hört die Gesellschaft auf, Ausfluss einer transzendenten Ordnung zu sein, sie trägt das Prinzip ihrer Organisation in sich selbst. Der Markt und der Vertrag sind die Operatoren dieses Übergangs von einer transzendenten Grundlegung zur Immanenz der Gesellschaft. Der Rückgriff auf den Vertrag – die einzig vom Willen der citoyens hervorgebrachte Grundlage der Gesellschaftsordnung, der contrat social Rousseaus – bedeutet, dass die gesellschaftlichen Subjekte sich selbst als Kollektiv schaffen, anstatt von einem äußeren Willen überragt zu werden, der sie von oben beherrscht. […] Fast gleichzeitig entdeckt Adam Smith die ausschlaggebende Rolle des Marktes, ‚des vom Willen der Individuen unabhängigen autonomen Prinzips gesellschaftlicher Kohäsion, das durch sein völlig unbewusstes Funktionieren ihre Versammlung bewirkt‘.“[15]
Die Spannung zwischen diesen beiden immanenten Prinzipien gesellschaftlicher Ordnung ist unübersehbar: Während die Idee des vertraglich begründeten Rechts im Falle Rousseaus auf der kollektivbildenden Artikulation individueller Willen beruht (oder, im Falle Kants, immerhin auf der vernunftmäßigen Möglichkeit einer durch das öffentliche Recht garantierten „Einhelligkeit der Politik mit der Moral“, wie sie in den Anhängen von Zum ewigen Frieden behauptet wird), stellt Smith’ Markt ein Prinzip überindividueller Ordnung dar, das zwar gesellschaftsimmanent, aber weder an Willensartikulation noch auch an individuelle Vernunfteinsicht gebunden ist. Die „Freiheit“ des Individuums ist bei Smith durch eine „Notwendigkeit“ garantiert, die – als ökonomische Selbstregulierung des Marktes – die Verfolgung des Eigenwohls letztlich zum Motor des Wohls aller macht, ohne dass es eines anderen Prinzips der Verbindung von Individuum und Allgemeinheit bedürfte.
Historisch konkret drückt sich diese Spannung im Regime der Lohnarbeit als Spannung zwischen einer formal-rechtlich garantierten Freiheit und einer ökonomischen Abhängigkeit aus, in welcher der individuell „freie“ Zugang zum Markt nicht nur zum notwendigen Modus der Subsistenzsicherung wird, sondern zugleich den Notwendigkeiten der Marktentwicklung unterworfen ist. Und diese eigentümliche Neuanordnung von Freiheit und Notwendigkeit, die das moderne Arbeitsregime insgesamt kennzeichnet, erfährt im Falle der Arbeitsmigration – die, wie wir gesehen haben, von den Prozessen der Etablierung der Lohnarbeit nicht unabhängig gesehen werden kann, sondern im Gegenteil durch diese intensiviert wird – eine besondere Modifikation. Denn de facto garantiert das Recht, seiner behaupteten Universalität zum Trotz, nicht allen ihre Freiheit, sondern nur denen, die als politische Subjekte in einem Staat aufgrund ihrer „Zugehörigkeit“ zu diesem anerkannt sind.[16]
In der Situation der Arbeitsmigrant*innen wird am deutlichsten sichtbar, dass es sich bei der oben beschriebenen Spannung zwischen rechtlichen und ökonomischen Modellen der Universalität nicht um ein theoretisches Begründungsproblem handelt, sondern um die Überlagerung zweier Regime: einem politisch-juridischen Regime, das Recht konstituiert, indem es zugleich von diesem Recht ausschließt oder Einschränkungen der Inklusion in dieses formalisiert, und einem ökonomischen Regime, das „Arbeitskraft“ einzubeziehen und zu mobilisieren sucht, aber zugleich diese Einbindung an die Bedingung der Entwicklungen und Wechselfälle des Marktes knüpft (die „Katastrophen“ der Industrie, von denen Marx gesprochen hat, der „Ölpreisschock“ der 1970er, etc. etc.).
Es ist mir hier nicht möglich, die Auswirkungen dieser Überlagerung im Einzelnen analysieren, die historisch unterschiedliche Formen angenommen haben und daher eine Auseinandersetzung mit einer kaum überschaubaren Vielzahl an Situationen erfordern würden. Ich beschränke mich daher – gestützt auf einen Systematisierungsversuch von Yann Moulier Boutang – darauf, eine Reihe von „Abweichungen“ anzuführen, in denen sich aufgrund der Überlagerung der genannten Regime (vereinfacht gesagt: des nationalstaatlichen Rechts und der modernen kapitalistischen Ökonomie) die vertragliche Einbindung von Arbeitsmigrant*innen von der durch „Standard“-Arbeitsverträge gewährleisteten Einbindung im Laufe der Zeiten unterschied: anonyme statt individuelle Arbeitsverträge; Einsparung von mit sozialer Absicherung verbundenen Kosten; Beschränkung des Zugangs zum Arbeitsmarkt; drohender Verlust des Aufenthaltsrechts bei Beendung des Arbeitsverhältnisses; einseitige Einschränkung des Rechts zur Aufkündigung des Arbeitsverhältnisses; Befristung von Arbeitsverträgen nach Maßgabe aufenthaltsrechtlicher Bestimmungen; Diskontinuität von Arbeitsverhältnissen und damit Verlust der mit regulärer Beschäftigung verbunden Vorteile; und schließlich, am offensichtlichsten, eingeschränkte bürgerliche und politische Rechte.[17]
Schlussbemerkungen
Ich schließe mit einigen kurzen Bemerkungen:
1. Ich habe die Geschichte des Lohnarbeitsregimes und seiner vertraglichen Verfasstheit hier deshalb in den Vordergrund gestellt, weil sie mit dem, was im Deutschen meist unter „Gastarbeit“ verstanden wird, in sehr direkter Verbindung steht, aber zugleich eine Ausweitung der Perspektive erfordert, in der „Gastarbeit“ zum Gegenstand historischer Erinnerung geworden ist. Gegenstände der Erinnerung sind in aller Regel von Vektoren des Vergessens durchkreuzt, weshalb die Auseinandersetzung mit diesen Vektoren oft erforderlich ist, um überhaupt zu erinnern. Die im Deutschen so genannte Periode der „Gastarbeit“ erscheint mir in der hier vorgeschlagenen Perspektive als Periode der rechtlich formalisierten zwischenstaatlichen Regelung (in keineswegs „weltbürgerlicher“ Absicht) der Einbeziehung in das moderne Arbeitsverhältnis, die in einen größeren Zusammenhang zu stellen ist. Das heißt nicht, dass es nicht andere Formen der exkludierenden Einbeziehung gab und gibt, insbesondere in feministischer Perspektive oder mit Blick auf die transatlantische Sklavenwirtschaft.
2. Ebenso notwendig ist aber die Aufmerksamkeit auf die Transformationen der Überlagerung von rechtlichen und ökonomischen Regimen in der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart. So hat beispielsweise die EU-Integration neue Konstellationen geschaffen, die einerseits durch eine – vor allem an der Lohnarbeit modellierte – „Freizügigkeit“ innerhalb der Europäischen Union geprägt ist, andererseits aber auch durch eine Verdoppelung des Ausschlusses oder der Einschränkungen der politischen Rechte von Migrant*innen (z. B. durch die verschiedenen Generationen des Dublin-Abkommens). Gleichzeitig haben gerade gegenwärtige kommunikations- und informationsbasierte Ökonomien neue „verachtete“ Arbeitsrealitäten geschaffen, die zum Teil nicht mehr unbedingt physische Mobilität voraussetzen (z. B. Service Call Centers, Content-Moderation für globale „soziale“ Medien), zum Teil auch mit neuen Migrationsprozessen außerhalb Europas oder des „Westens“ verbunden sind (z. B. Zuwanderung in Fertigungszentren von Hardware in China).
3. Die Unterscheidung von politischen und ökonomischen „Flüchtlingen“, die seit zu langem den öffentlichen Diskurs beherrscht, ist zynisch. Nicht nur unterschlägt sie die Verflechtung von rechtlichen und ökonomischen Regimen, sie höhlt auch bestehendes Recht durch legislative und exekutive Maßnahmen permanent aus, um zugleich auf nationalstaatlich geprägtem Recht als Norm zu bestehen, das mit der Anomalie gegenwärtiger Migrationsprozesse „fertigwerden“ müsse. Anstatt die Frage des Rechts an den gelebten Verhältnissen neu zu orientieren, die nicht zuletzt durch einen globalisierten Kapitalismus mehr denn je bestimmt werden.
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[1] Vgl. Gérard Noiriel, Le creuset français. Histoire de l’immigration, XIXe–XXe siècle, aktualisierte und um ein Vorwort ergänzte Ausgabe, Paris: Éditions du Seuil 2006 [Erstaufl. 1988], S. 137–144.
[2] Ebd., S. 140.
[3] Vgl. z. B. Klaus Bade, Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München: Beck 2002 [Erstaufl. 2000], bes. das Kapitel „Arbeitsmigration: ‚Gastarbeiter‘ – Einwanderer – ‚Illegale‘“, S. 314–331.
[4] G. Noiriel, Le creuset français, S. 138.
[5] Vgl. André Gorz, Kritik der ökonomischen Vernunft. Sinnfragen am Ende der Arbeitsgesellschaft, übers. v. Otto Kallscheuer, Zürich: Rotpunktverlag 2010 [Orig.: Métamorphoses du travail, quête du sens, 1988], S. 39–54.
[6] Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München u. Zürich: Piper 1981 [Orig.: The Human Condition, 1958], S. 78.
[7] Vgl. Max Weber, Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus, Wiesbaden: Springer 2016 [1904/05 bzw. 1920], S. 52 f.
[8] Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, MEW 42, Berlin: Dietz 1983 [1857/58], S. 218.
[9] Vgl. A. Gorz, Kritik der ökonomischen Vernunft, S. 53 f.
[10] Saskia Sassen-Koob, „Towards a Conceptualization of Immigrant Labor“, in: Social Problems, Jg. 29, Nr. 1 (Oktober 1981), S. 65–85, hier: S. 67.
[11] Vgl. Saskia Sassen, Migranten, Siedler, Flüchtlinge. Von der Massenauswanderung zur Festung Europa, übers. v. Irmgard Hölscher, Frankfurt/M.: Fischer 32000 [Orig. Guests and Aliens, 1999], S. 53–66.
[12] Vgl. Karl Marx, Das Kapital, Band I, MEW 23, Berlin: Dietz 1962 [1867], S. 511.
[13] Vgl. Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, in: Werke, Band 11, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1977, S. 213–217.
[14] Robert Castel, Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit, übers. v. Andreas Pfeuffer, Konstanz: UVK 2000 [Orig. Les métamorphoses de la question sociale. Une chronique du salariat, 1995], S. 16.
[15] Ebd., S. 161.
[16] Mit diesem Problem ringt z. B. Kant in seinen Texten zum „Weltbürgerlichkeit“, vor allem in Zum ewigen Frieden. Mit diesem Problem ringt aber auch die Französische Revolution: vgl. Sophie Wahnich, L’impossible citoyen. L’étranger dans le discours de la Révolution française, Paris: Albin Michel 1997.
[17] Yann Moulier Boutang, De l’esclavage au salariat. Économie historique du salariat bridé, Paris: PUF 1998, S. 94–101.