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08 2005

Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen

John Holloway

Transkription eines Videos von O. Ressler,
aufgenommen in Wien, Österreich, 23 Min., 2004


Wenn man sich die Erfahrungen des letzten Jahrhunderts ansieht, von revolutionären Regierungen in Russland, China, Kuba - obwohl Kuba ein komplizierterer Fall ist - oder von reformistischen Regierungen, die durch Wahlen an die Macht gekommen sind, dann bietet sich das Bild einer herben Enttäuschung, einer schrecklichen Desillusionierung. In keinem Fall war eine linke Regierung in der Lage, die Art von Veränderungen vorzunehmen, die sich die Leute, die für sie gekämpft haben, gewünscht hatten. In allen Fällen ist die Reproduktion der Machtverhältnisse herausgekommen, vielleicht eine Veränderung der Machtverhältnisse, aber eine Reproduktion der Machtverhältnisse, die Leute ausschließen, die materielle Ungerechtigkeit reproduzieren, und eine Gesellschaft, die nicht selbstbestimmt ist. Sie reproduziert immer eine Gesellschaft, in der die Leute selbst nicht die Entwicklung der Gesellschaft bestimmen können. Man kann es historisch analysieren: In Russland geschah es aus diesem und jenem Grund, in China aus diesem und jenem Grund, in Albanien, Kuba, Brasilien etc. Aber irgendwann kommt der Punkt, wo es nicht mehr ausreicht, darüber im Sinne spezifischer historischer Fälle zu sprechen, und wir verallgemeinern müssen. Die naheliegendste Schlussfolgerung ist wohl, dass an der Idee der gesellschaftlichen Transformation mithilfe des Staates an sich etwas falsch ist. Das Scheitern der Gesellschaftsveränderung durch den Staat hat mit dem Wesen des Staates selbst zu tun, damit, dass der Staat nicht einfach eine neutrale Institution ist, sondern eine spezifische Form von sozialem Verhältnis, die mit der Entwicklung des Kapitalismus aufkommt. Und dass er eine Form von sozialem Verhältnis ist, die auf dem Ausschluss der Menschen von der Macht basiert, die auf der Trennung und Fragmentierung der Menschen beruht.

"Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen" bedeutet das, was es sagt, nämlich dass wir die Welt verändern müssen, das ist klar. Und dass wir es auf eine Art und Weise machen müssen, die den Kampf um die Weltveränderung nicht als einen um den Staat und die Macht konzentrierten Kampf denkt. Es ist wichtig, unsere eigenen Strukturen zu entwickeln, unseren eigenen Weg, die Dinge zu tun. Ein zentraler Aspekt des Arguments ist, dass es wichtig ist, zwischen zwei Konzepten der Macht zu unterscheiden. Dass der Begriff der Macht einen Antagonismus beinhaltet, zwischen unserer Macht, Dinge zu tun und unserer kreativen Macht auf der einen Seite, und der Befehlsmacht, der instrumentellen Macht des Kapitals, auf der anderen Seite. Mit anderen Worten ist die naheliegendste Antwort auf die Frage, was Macht ist, dass Macht unsere Fähigkeit, Dinge zu tun, bedeutet. Diese Macht ist immer eine soziale Macht, einfach weil das Tun einer Person immer vom Tun von anderen abhängt. Es ist völlig klar, dass unser Tun hier im Moment vom Tun von Hunderten oder Tausenden von Menschen abhängt, die die Technologie geschaffen haben, mit der wir arbeiten, die die Begriffe geschaffen haben, die wir verwenden etc. Unsere Macht zu tun ist immer eine soziale Macht, immer eine kollektive Macht, unser Tun ist immer Teil eines sozialen Flusses des Tuns. Im Kapitalismus wird dieser Fluss gebrochen, weil der Kapitalist sich das Tun von anderen aneignet. Und da das Tun einer Person die Voraussetzung des Tuns einer anderen ist, wird die Aneignung des Tuns durch das Kapital zur Voraussetzung der Fähigkeit, über das Tun von anderen zu bestimmen. Dadurch wird die soziale Macht zu handeln durchbrochen, in ihr Gegenteil verkehrt, in die Macht des Kapitalisten, über das Tun von anderen zu bestimmen.
Kapitalismus ist im wesentlichen der Prozess der Unterbrechung dieses sozialen Flusses des Tuns, Brechung der Gesellschaftlichkeit des Tuns und Brechung unserer Macht zu Tun, sowie Umwandlung in eine Macht über, in etwas, was uns fremd ist. Wir müssen deshalb über unseren Kampf nicht als Machtkampf denken, was bedeuten würde, deren Macht zu übernehmen, sondern als Kampf, unsere Macht des Tuns aufzubauen, die unvermeidlich eine soziale Macht ist. Und es ist wichtig, in diesem Kampf zwei grundverschiedene Begriffe der Macht zu sehen, die beide ihre eigene Logik besitzen. Die Logik des Kapitals ist eine Logik der Herrschaft, der Hierarchie und Fragmentierung. Eine Logik, die Subjektivität verneint, das Subjekt objektiviert. Unsere Logik steht dem entgegen, es ist die Logik des Zusammenkommens, des Wiederaufbaus der Subjektivität, die vom Kapital verneint wird. Subjektivität nicht als individuelle, sondern als gesellschaftliche Subjektivität. Das sind zwei verschiedene Denk- und Handlungsformen. Für uns bedeutet der Versuch, Gesellschaftsveränderung zu denken, Vertrauen in die selbstkritische Entwicklung unserer eigenen Handlungs- und Denkformen zu haben. Wenn wir den Kampf um Gesellschaftsveränderung als Klassenkampf betrachten, dann ist es grundlegend, diesen Kampf als asymmetrisch zu sehen. Und sobald wir ihre Formen reproduzieren und unseren Kampf als Spiegelbild ihres Kampfes zu sehen, dann machen wir nichts weiter als die Macht des Kapitals in unseren eigenen Kämpfen zu reproduzieren.

Die Revolution, an die ich denke, muss mehr als Frage denn als Antwort gedacht werden. Auf der einen Seite ist klar, dass wir eine grundlegende Veränderung der Gesellschaft brauchen, auf der anderen Seite ist es klar, dass die Art und Weise auf die wir im letzten Jahrhundert versucht haben, die Gesellschaft durch den Staat zu verändern, gescheitert ist. Nun bleibt uns nur, es anders zu versuchen. Wir können nicht einfach die Idee der Revolution aufgeben. In den letzten Jahren sind viele Leute zu dem Schluss gekommen, dass aufgrund des Scheiterns der staatlichen Gesellschaftsveränderung die Revolution unmöglich ist. Doch das Gegenteil ist der Fall, die Revolution ist dringender als je zuvor. Aber man muss darüber nachdenken, wie wir es tun können, wir müssen andere Wege finden. Im Moment bedeutet das die Fähigkeit, die Frage zu stellen und darüber nachzudenken, wie man diese Frage entwickeln kann. Aber es ist wichtig, dass die Revolution eine Frage ist statt einer Antwort. Der Weg des revolutionären Prozesses ist selbst als Frage zu verstehen, im Laufe dessen den Menschen nicht Antworten verkündet werden, sondern sie in einen Prozess der Selbstbestimmung einbezogen werden.
Über diese sehr allgemeine Antwort hinaus kommt man zu den Einzelheiten über eine Analyse der tatsächlich stattfindenden Kämpfe. Nicht durch deren Kopie, sondern deren kritische Analyse, wie in bestimmten Bewegungen autonome Formen des Handelns zu entwickeln versucht wurden, Konzepte der Würde, der Aufhebung der Trennung zwischen Politik und Ökonomie, der Entwicklung neuer Organisationsformen.
Der Aufstand der Zapatistas war für mich von enormer Bedeutung, ab 1994 und die ganze Erfahrung der letzten zehn Jahre. Aus zwei Gründen: Zum Teil, weil sie sich zu einer Zeit erhoben und rebelliert haben, als es in der modernen Gesellschaft keinen Platz mehr für Revolten zu geben schien. Aber auch und vor allem, weil sie vorgeschlagen haben, die ganze Konzeption dessen, was Rebellion, Revolte und Revolution bedeuten, zu überdenken. Ein Teil dessen ist genau die Frage, eine andere Logik vorzuschlagen, sowie eine andere Sprache, Zeit, und Räumlichkeit, die nicht symmetrisch zu der Sprache und Zeit von Kapital und Staat liegen. Zum Beispiel war nach dem anfänglichen Aufstand einer der ersten wichtigen Ereignisse der "diálogo de San Andrés", der Dialog zwischen der Mexikanischen Regierung und den Zapatistas in San Andrés, dieser Stadt in Chiapas. Normalerweise würde man darüber als Dialog denken, eine Verhandlung als symmetrischen Prozess zwischen zwei Seiten. Eines der wichtigsten Dinge ist, dass die Zapatistas von Anfang an klar gemacht haben, dass sie erstens nicht verhandeln werden, und dass es zweitens kein symmetrischer Prozess sei. Das haben sie durch ihre Kleidung klargemacht, dadurch dass sie darauf bestanden, ihre traditionelle Kleidung zu tragen, und bei zumindest einer Gelegenheit auch darauf, ihre eigene Sprache zu verwenden, statt sich der Verwendung von Spanisch zu beugen. Und einer der interessanten Punkte der aufkam war z.B. die Frage der Zeit. An einem Punkt, an dem die zwei Seiten, die Regierung und die Zapatistas, eine provisorische Übereinkunft erreicht hatten, sagten die Zapatistas, sie würden das nun mit ihren Leuten diskutieren. Die Regierung forderte hingegen eine Entscheidung binnen zwei Tagen. Die Zapatistas aber beharrten darauf, dass sie eine andere Zeit und Diskussionsprozesse hätten. Den Hinweis des Regierungsbeamten, sie hätten ja die gleiche japanische Armbanduhr, beantwortete der zapatistische Repräsentant mit dem Hinweis, dass das für sie nicht die Bedeutung von "Zeit" sei, für sie sei "Zeit" etwas anderes. Und sie ließen sich mit der Antwort zwei Monate Zeit.
Darin kommt die von Beginn an vorhandene Einsicht zum Ausdruck, dass Rebellion Vertrauen in ihre eigenen Strukturen, Zeit- und Raumgefühl bedeutet. Und diese Vorstellung von "Zeit" z.B. ist sehr eng mit der Frage demokratischer Strukturen verbunden, die ganze Frage des Beharrens darauf, dass Entscheidungen durch einen Prozess der gemeinschaftlichen Diskussion erfolgen müssen. Weil wenn man darauf beharrt, braucht das viel Zeit, einfach eine andere Zeitvorstellung. Die Asymmetrie, dieses Fehlen von Symmetrie zwischen der Herrschaftslogik und der Logik der Revolte ist für die zapatistische Bewegung von Anfang an absolut zentral. Und das wird immer wieder in ihren Kommuniqués, in ihrer Verwendung von Erzählungen, Witzen und Gedichten deutlich. Und all diese Dinge, die auf den ersten Blick wie bloße Dekoration wirken, die für die Revolte nur sekundär sind, erweisen sich als zentral für die Revolte selbst, dass sie eine andere Form des Begreifens der Welt und von Beziehungen zwischen Menschen vorschlagen und darauf beharren. Während die traditionelle Vorstellung von Revolution stark auf einer militärischen Metapher beruhte, auf der Idee, dass es um den Zusammenstoß von zwei Armeen geht. Und dass zur Besiegung des Feinds die Methoden des Feinds akzeptiert werden müssen. Es ist sehr wichtig, dass die Zapatistas damit gebrochen und sich dem verweigert haben. Um zu rebellieren, muss man eine Sprache entwickeln für die Dinge, die man macht, die der Staat einfach nicht versteht. Und das haben sie in den letzten zehn Jahren konsistent immer wieder gemacht.
Sehr oft denken wir über Kapitalismus, über das Problem der Revolution, als "Wie zerstört man den Kapitalismus?". Damit muss gebrochen werden, weil wenn man daran denkt, wie man den Kapitalismus zerstören kann, endet man schnell bei der Einsicht, dass das unmöglich ist. Weil dadurch imaginiert man den Kapitalismus als das riesengroße Monster mit Armeen, Erziehungssystemen, Medienkontrolle und materiellen Ressourcen etc., das für sich existiert. Und auf der anderen Seite stehen wir, verloren, und wie können wir dieses Monster zerstören? Wir müssen uns von dieser Metapher der Zerstörung verabschieden und anders darüber denken.
Der Kapitalismus existiert nicht, weil wir ihn im 19. oder 18. Jahrhundert oder sonst wann geschaffen haben. Der Kapitalismus existiert heute nur, weil wir ihn heute immer wieder neu erschaffen. Wenn wir ihn morgen nicht mehr erhalten, wird er nicht existieren. Er scheint ewiges Leben zu haben, aber das ist nicht wahr. Tatsächlich hängt das Kapital von einem Tag zum anderen von uns ab. Wenn wir morgen alle im Bett bleiben, wird der Kapitalismus aufhören zu existieren. Wenn wir anfangen, über den Kapitalismus in der Weise zu denken, wie wir aufhören könnten, ihn "zu machen", wenn wir über die Revolution auf die Weise denken, wie wir aufhören könnten, sie "zu machen", dann bedeutet das nicht, dass wir das Problem gelöst haben. Es bedeutet nicht, dass der Kapitalismus morgen verschwinden wird. Wenn wir die Revolution so denken "Wie könnten wir aufhören, den Kapitalismus zu machen?", löst sich das Bild des Kapitalismus als übermächtiges gegnerisches Monster auf. Und wir können anfangen, Möglichkeiten zu öffnen, eine neue Hoffnung und neue Formen, über Revolution nachzudenken und unsere Gesellschaft zu ändern.


erschienen in: "Alternative Ökonomien, Alternative Gesellschaften", Kurswechsel 1/2005
Bei den in diesem Band erschienen Texten wurden die Übersetzungen der englischen Originaltranskripte von Waltraud Heinz, Werner Raza, Oliver Ressler, Elisabeth Springler und Beat Weber vorgenommen.