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04 2008

Kritik und Wahrheit

Für einen neuen Modus der Kritik

Alex Demirović

1. Mit der Kritik von vorn beginnen

Das Verhältnis von Kritik und Wahrheit scheint einer langen ideologiekritischen Tradition gemäß sehr einfach zu sein. Die Kritik spricht im Namen einer Wahrheit und weist nach, dass sich eine Erscheinung vor sie schiebt. Die Erscheinung hat zwar noch etwas mit dem Wesen der Dinge zu, deren Erscheinung sie ist; trotzdem ist sie falsch, entweder weil sie nur ein begrenzter Aspekt ist oder aber, weil sie eine Täuschung darstellt. Jene Hinterwelt des Wesentlichen kann als Wahrheit bestimmt werden: Die Menschen sind eigentlich gleich und frei, sie sind wesentlich kommunikativ oder politisch. Die Kritik erscheint selbst bloß als ein negativer Akt des Freilegens, ein Akt, dem als solchem wenig Aufmerksamkeit gezollt werden muss. Das ganze Modell dieser Art von Kritik und Wahrheit erscheint uns heute nicht mehr plausibel: Die Oberfläche des Scheins nehmen wir ernster, an die Hinterwelt einer tieferen Wahrheit glauben wir nicht mehr, denn Wahrheit ist eine kollektive Praxis, die wir vollziehen. Vor allem aber hat die Aktivität der Kritik ihre Selbstverständlichkeit verloren. In einer materialistischen Perspektive nehmen wir heute die Praktik der Kritik selbst in den Blick und fragen uns, was wir tun, wenn wir kritisieren, welche Macht wir ausüben und wohin uns die Kritik führen wird. Diese Wendung im Verhältnis zur Kritik hat offenkundig in den 1960er Jahren stattgefunden.

Wohl zu Recht behauptet dies Michel Foucault in seiner Vorlesung vom 7. Januar 1976. „Seit zehn oder fünfzehn Jahren sind Dinge, Institutionen, Praktiken, Diskurse in einem ungeheuren und ausufernden Maße kritisierbar geworden; die Böden sind irgendwie brüchig geworden, selbst und vielleicht vor allem jene, die uns am vertrautesten und festesten erschienen und uns, unserem Körper, unseren alltäglichen Gesten am allernächsten.“ (Foucault 1977a, 217) In diesem Prozess sei etwas Unvorhergesehenes geschehen. Die Theorien, die die lokal verwendbaren Instrumente der Kritik zur Verfügung gestellt haben, also Marxismus und Psychoanalyse, erweisen sich insofern als hemmend, als sie umfassende, umhüllende Theorien sein wollen. Mit der Entfaltung der lokalen Kritik wurde die diskursive Einheit jener Theorien jedoch zerstört, zerfetzt, zerrissen, verschoben, karikiert, theatralisiert. In einem im selben Jahr geführten Gespräch weist Foucault auf die Folgen hin. Es gebe keine Orientierung mehr, Vorbilder des politischen Handelns seien entwertet durch die im Namen der Theorie ausgeübte Gewalt. „Die Linke, das ganze Denken der europäischen Linken, das revolutionäre europäische Denken, das seine Bezugspunkte in der ganzen Welt hatte und sie auf ganze bestimmte Weise ausarbeitete [...], dieses Denken hat [...] zum ersten Mal die historischen Bezugspunkte verloren, die es bisher in anderen Teilen der Welt fand. [...] Wir müssen wieder ganz von vorn anfangen und uns fragen, worauf wir die Kritik unserer Gesellschaft in einer Situation stützen können, in der die bisherige implizite oder explizite Grundlage unserer Kritik weg gebrochen ist. [...] Es muss möglich sein, von vorn anzufangen. Nochmals von vorn anzufangen mit der Analyse und Kritik.“ (Foucault 1977b, 514)

Foucault bringt mit seinen Überlegungen dreierlei zur Sprache: 1) Die Kritik hat ihre Grundlage verloren, weil sie auf eine bestimmte Weise mit der Geschichte verbunden war − dies wirft die Frage auf, was die Kritik ist. 2) Das Redegenre der Kritik wird nicht aufgegeben, vielmehr gibt es einen Willen zur Kritik, der von uns verlangt, von vorn anzufangen und weiterzumachen. Aber wie ist dieser Wille zu erklären, der mit einer Stimmung, einer Leidenschaft, einem Gefühl, mit einer Moral oder Ethik der Kritik verbunden ist? 3) Wenn die Kritik ihre Stütze in der Wirklichkeit verloren hat, wir aber den Willen und die Leidenschaft zur Kritik verspüren, dann bedarf sie einer neuen Begründung. Diesem letzten Problem will ich mich im folgenden vor allem widmen und zeigen, dass unsere Kritik immer noch einem alten, um nicht zu sagen, bürgerlichen Modell verhaftet geblieben und zu bescheiden ist.

Seit den 1970er Jahren hat es einige anspruchsvollen Ansätze zur Analyse der Kritik und, darauf gestützt, zu ihrer Neubegründung gegeben: Was ist unsere Praxis, wenn wir Kritik äußern, welche objektive Gedankenform nehmen wir damit in Anspruch? Beides, die Analyse ebenso wie die Begründung folgt wiederum disziplinären Spielregeln. PhilosophInnen tendieren dazu, die Kritik in universellen und moralischen Begriffen zu reformulieren und eine letzte Grundlage zu suchen, SoziologInnen dagegen, fragen eher nach typologischen Mustern der Kritik, ihrer Verbreitung sowie ihren Auswirkungen.

 
2. Die philosophische Analyse der Kritik

Eine gewisse Nähe zu Foucaults Forderung nach lokaler Kritik scheinen auf den ersten Blick die Überlegungen von Michael Walzer zu haben. Seine Überlegungen zur Kritik will ich philosophisch nennen, weil sie von vornherein nach der Grundlage der Kritik fragen. Diese Grundlage sieht Walzer in moralischen Normen, und er meint, dass diese moralischen Grundsätze für Gesellschaftskritik in unserer alltäglichen Welt zu finden seien und dass die Kritik einen Grundzug der Alltagsmoral darstelle. Wenn er im Weiteren die Praxis der KritikerIn untersucht, dann handelt es sich um die Analyse der unterschiedlichen Modi der Beziehung zu moralischen Normen. Walzer arbeitet drei Möglichkeiten heraus, die Gesellschaftskritik normativ zu begründen. Die erste Strategie nennt er den Pfad der Entdeckung. In diesem Fall nimmt die KritikerIn für sich in Anspruch, dass sie die Moralgesetze, die Prinzipien der Kritik, entdeckt habe. Das kann eine Offenbarung oder Lehre der wahren und falschen Bedürfnisse, natürlichen Rechte der Menschen oder der allgemeinen Vernunftprinzipien sein. Jedenfalls sind die moralischen Prinzipien eine objektive Wahrheit, die die EntdeckerIn nur verkünden muss. Die moralische Welt erscheint wie ein neuer Kontinent, und die EntdeckerIn ist die FührerIn. Es liegt auf der Hand, dass die EntdeckerIn für sich das Privileg der Führung und der Durchsetzung des einmal Erkannten beanspruchen wird. Wird aber die neue moralische Welt einmal von vielen besiedelt sein, werden die moralischen Prinzipien ihre Fähigkeit zur Kritik einbüßen. Es bleibt nur, die einmal entdeckte moralische, aber mittlerweile verlorene und korrumpierte Lehre wieder zu entdecken. Die Entdeckung will also wiederholt werden, aber sie lässt sich nicht wiederholen. Deswegen kommt es zum Streit um die richtigen moralischen Prinzipien und um die richtige Führung.

Auf dem zweiten Pfad der Gesellschaftskritik werden die Moralprinzipien erfunden. Es handelt sich um das Werk von Männern und Frauen, die uns repräsentieren und die eine Methode erfinden, nach der wir alle am Verfahren beteiligt sind, das uns zu einem Konsens gelangen lässt. Die Autorität liegt nicht in der objektiven Welt, sondern im Verfahren. Gleich einer gesetzgebenden Körperschaft wollen die ErfinderInnen eine moralische Welt erschaffen, in der alle repräsentiert sind und in der Gerechtigkeit, politische Tugend und gutes Leben verwirklicht wären. Sie erschaffen das, was Gott erschaffen hätte, wenn es ihn gäbe. Die Menschen müssten sich von jedem Partikularismus reinigen, die moralischen Prinzipien, nach denen sie alle leben, wären Elemente einer Minimalmoral, die Gleichheit und Schutz gewährt. Aber es handelte sich nicht um eine dichte moralische Kultur, in der die Menschen das Gefühl der Zugehörigkeit entwickeln könnten.

Diese beiden angeführten Arten der Kritik haben die Tendenz, autoritär zu werden. In beiden Fällen beruft sich die Kritik auf allgemeine Prinzipien, die von den konkreten Individuen und ihrem Alltagsleben absehen. Es handelt sich um Prinzipien, die zunächst einmal den PhilosophInnen zugänglich sind und die sie den anderen insinuieren müssen. Aber das, was erreicht werden soll, das moralische Leben, wird schon unterstellt, wenn die Individuen nur als universalistisch motivierte in den Blick kommen. Die Prinzipien der Kritik kommen von außen. Anders verhält es sich im Fall des dritten Pfades, der von Walzer selbst favorisiert wird, der Pfad der Interpretation oder Rechtsprechung. Das moralische Argumentieren nimmt die der lokalen Gemeinschaft schon seit Langem zur Verfügung stehenden moralischen Prinzipien in Anspruch. Es ist unser Moralverständnis, das wir nicht erst entdecken oder erfinden müssen, sondern auf das wir uns im Alltag ohnehin beziehen, das wir im Lichte besonderer Probleme interpretieren und über das wir mit den anderen Mitgliedern der Gemeinschaft sprechen. Die Kritik des Bestehenden beginnt mit Grundsätzen, die dem Bestehenden innewohnen, weil es unsere Gemeinschaft ist − und deswegen kann die Kritik Autorität gewinnen, denn sie verpflichtet allein wegen des Vorhandenseins der von ihr in Anspruch genommenen Moral.

Die Nähe Walzers zu Marx‘ Konzeption von Kritik, den Verhältnissen ihre eigene Musik vorzuspielen, ist offenkundig. Doch möchte ich gegen Walzers Überlegung Vorbehalte anmelden (vgl. auch Demirović 1993, 505f). Erstens wäre einzuwenden, dass Walzers Argument unterstellt, was zu beweisen und zu begründen wäre: dass es nämlich die kritische Aktivität gibt. Walzer entnimmt vor allem dem, christlich gesprochen, Alten Testament, dass es eine jahrtausendelange Praxis der Kritik gibt. Er gewinnt daraus den Eindruck, dass es sich immer nur um die immanente Kritik im Kontext einer jeweiligen Gemeinschaft und ihrer moralischen Tradition gehandelt habe. Diese Lektüre nimmt die jüdisch-christliche Kontinuität als gegeben. Damit wird aber das Spezifische übergangen, das mit der Kritik im zweifachen Sinn verbunden ist: Der Wille zur Kritik ist selbst etwas historisch Neues; und die Kritik fordert nicht nur die Verwirklichung von in der Vergangenheit bekundeten Absichten und festgelegten Prinzipien, sondern sie befragt die Vergangenheit und öffnet die Bahn für eine neue Zukunft. Sie zielt auf alltägliche Verbesserungen und grundlegende Veränderungen der Lebensverhältnisse der Vielen. Dafür kann sie sich aber nicht auf die Vergangenheit berufen; ihre Aufgabe besteht gerade darin, den Anstoß für neue Maßstäbe zu geben. Marx hat das früh erkannt. Die radikale Kritik schlägt um von einer bloß immanenten in eine transzendente Kritik: „Wir treten dann nicht der Welt doktrinär mit einem neuen Prinzip entgegen: Hier ist die Wahrheit, hier kniee nieder! Wir entwickeln der Welt aus den Prinzipien der Welt neue Prinzipien.“ (Marx 1843, 345) Indem abgelehnt wird, dass die Kritik immer auch von sich zu einem externen Maßstab treibt, um Distanz zum Kritisierten zu finden, wird die dialektische Bewegung zwischen Innen und Außen abgewehrt. „In der Tat darf die dialektische Wendung der Kulturkritik nicht die Maßstäbe der Kultur hypostasieren. Sie hält sich dieser gegenüber beweglich, indem sie ihre Stellung im Ganzen einsieht. Ohne solche Freiheit, ohne Hinausgehen des Bewusstseins über die Immanenz der Kultur wäre immanente Kritik selbst nicht denkbar: der Selbstbewegung des Objekts vermag nur zu folgen, wer dieser nicht durchaus angehört.“ (Adorno 1951, 23)

Das zweite Argument richtet sich gegen den lokalen Charakter der Kritik. Es mag sein, dass man innerhalb einer Gemeinschaft die moralischen Prinzipien der Kritik findet, aber es sind die Prinzipien eben dieser begrenzten Gemeinschaft. Was aber wäre, wenn diese Gemeinschaft sich durch eine religiöse Identität oder durch eine biologische Affiliation von anderen abschließen und damit auch gegen Kritik immunisieren würde? Was wäre, wenn Kritik nur von den Dazugehörigen geäußert werden dürfte und allen anderen KritikerInnen vorgeworfen würde, dass sie sich nur vorurteilsvoll und feindselig gegenüber der kritisierten Gemeinschaft verhalten wollten? Da in diesem Punkt eine gewisse Nähe zwischen Walzer und Foucault zu bestehen scheint, ist interessant, festzustellen, dass Foucault selbst die Schwäche der lokalen Kritik sieht. Wenn er über die lokale Kritik der spezifischen Intellektuellen spricht, betont er, dass diese sich der Gefahr aussetzen, „sich auf umständebedingte Kämpfe, auf sektorbezogene Forderungen zu beschränken. Dem Risiko, sich von politischen Parteien oder gewerkschaftlichen Apparaten bei der Führung dieser lokalen Kämpfe manipulieren zu lassen. Vor allem dem Risiko, mangels einer globalen Strategie und äußerer Stützen diese Kämpfe nicht weiterentwickeln zu können.“ (Foucault 1977c, 209) Soweit lässt sich ein erstes Fazit ziehen. Kritik ist in doppelter Weise riskant: Nicht nur setzen sich die KritikerInnen mit ihrer Aktivität der Kritik Risiken aus, die Kritik kann auch ihrerseits usurpatorisch und autoritär werden. Die Kritik kann eine solche Distanz zum Kritisierten einnehmen, dass sie ihre Verbindlichkeit verliert, oder sie kann zu nahe am Gegenstand bleiben. Daraus folgt, dass Kritik in sich beweglich sein muss, sie muss gleichzeitig lokal und global sein, sie muss immanent und transzendent sein.

 
3. Zur Soziologie der Kritik

Es gibt soziologische Versuche, die soziale Praxis der Kritik zu untersuchen und die Art und Weise zu bestimmen, wie kritisiert wird und welche Auswirkungen die jeweiligen Modi der Kritik haben. Umfangreich wurde dies von Boltanski und Chiapello getan. Sie vertreten die Ansicht, daß die antikapitalistische Kritik so alt ist wie der Kapitalismus und vier Aspekte Anlass zur Empörung geben: a) Der Kapitalismus wird als Quelle fehlender Authentizität von Dingen, Menschen und Gefühlen verstanden. b) Der Kapitalismus wird als Quelle der Unterdrückung, Kontrolle und Disziplin betrachtet, er beeinträchtige Freiheit, Autonomie und Kreativität. c) Der Kapitalismus gelte als die Quelle von Armut und Ungleichheit. d) Insofern er den Egoismus fördere, zerstöre er Solidarität und den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Boltanski und Chiapello meinen, dass sich diese verschiedenen Empörungsmotive nicht in einen kohärenten Rahmen integrieren ließen und gruppieren sie zu zwei Arten der Kritik: die KünstlerInnen- und die Sozialkritik. Die KünstlerInnenkritik beanstandet den Sinnverlust, die Standardisierung der Warengesellschaft, die Entfremdung der Menschen, sie richtet sich gegen Planung, rationale Organisation oder Arbeitsteilung. Die Sozialkritik wendet sich gegen egoistischen Partikularismus, Gleichgültigkeit und Verarmung. Beide Arten der Kritik können zusammengehen, sich aber auch feindlich gegenüberstehen. Die sozialen Proteste von ’68 werden als Resultat einer Verbindung beider Arten von Kritik verstanden. Die eher kulturelle Kritik an fehlender Authentizität und Entfremdung, an Sinnlosigkeit, Disziplin und Kontrolle ging einher mit der sozialen Kritik an Ausbeutung und Ungleichheit. Aus der Artikulation dieser Kritiken gewannen die Proteste ihre Stärke, in der Folge resultierte aber auch daraus ihre Schwäche. Denn KünstlerInnen- und Sozialkritik konnten durch gezielte Gegenstrategien von der Seite der Kritisierten, also des UnternehmerInnenlagers und der Regierung, wieder auf gespalten werden. Beide Formen der Kritik wurden absorbiert. Die Sozialkritik an Arbeitsroutine, Disziplinarformen, Hierarchie, Leistungsvorgaben wurde in eine Reihe von ökonomischen Kompromisslösungen umgewandelt: lohnpolitische Zugeständnisse wie Mindestlohn, geringere Einkommensunterschiede, Gewinnbeteiligung oder längere bezahlte Urlaubszeiten, Beschäftigungssicherheit, Weiterbildung. Durch solche Maßnahmen kam es zu einer Reihe von sozialen Verbesserungen, die allerdings an den zentralen Unzufriedenheitsmotiven vorbeigingen. Die KünstlerInnenkritik, die in der Revolte gegen die herrschenden Arbeitsbedingungen ihren Niederschlag fand, wurde aufgenommen in der Weise, dass die Unternehmen den individuellen Bedürfnissen der Beschäftigten mehr Aufmerksamkeit schenkten, ihnen im Rahmen von Qualitätszirkeln, halbautonomen Fertigungsgruppen oder Meinungsgruppen mehr Verantwortung übertrugen und ihre Autonomie und Mitspracherechte stärkten. Boltanski und Chiapello resümieren, dass das wichtigste Ziel der ArbeitgeberInnen, nämlich die Herrschaft in den Unternehmen wieder an sich zu reißen, nicht dadurch erreicht wurde, dass die klassischen Instrumente der Kontrolle ausgebaut wurden, sondern Forderungen nach Autonomie und Eigenverantwortung in der Form von Selbstkontrolle endogenisiert wurden.

Im Vergleich zu Walzer lässt sich zweierlei festhalten. Erstens: Es kommt unter kapitalistischen Bedingungen immer wieder zur Formierung von radikaler und externer Kritik, die ihre Grundlage offenkundig in der Kontingenz des kapitalistischen Reproduktionsmusters hat. Es stellt sich immer als ein Doppeltes dar: einerseits naturhaft und andererseits gesellschaftlich hergestellt und damit auch völlig anders denkbar. Zweitens: Diese Kritik, die von außen kommt und umfassend ist, hat Wirkungen. Allerdings hat sie bislang nicht den naturhaften Zusammenhang kapitalistischer Gesellschaft aufgelöst, sondern zu einem höheren Niveau von Ausbeutung und Unterdrückung geführt, die es den überkommenden Formen der Kritik schwer machen, weil sie sie entwerten. Damit wurde nicht gerechnet. Horkheimer und Adorno hatten erwartet, dass angesichts der Tendenz zur verwalteten Welt Gesellschaftskritik in eine zunehmend exzentrische sowie marginalisierte Position ohne weitere Auswirkung rutschen würde, konnten dann aber doch eine spezifische Wirkungsweise der Kritik feststellen. Die kritische Gesellschaftstheorie und die Protestbewegung hätten die Entwicklung hin zur totalen Integration zwar nicht abgebrochen, aber doch unterbrochen. Die Kritik konnte die Funktion des Aufhaltens übernehmen, intermittierend Ungleichzeitigkeit stiften, den Rhythmus der Entwicklung verändern und damit Zeit schaffen, Reste eines gesellschaftlichen Lebens bewahren, das zum Ausgangspunkt neuer Kritik werden könnte. Dafür gibt es Beispiele an den Universitäten oder in den Gewerkschaften. Boltanski und Chiapello gehen weiter und argumentieren gramscianisch. Die Kritik hat zu einer passiven Revolution des fordistischen Kapitalismus geführt. Die mächtigen AkteurInnen haben sowohl die Sozial- als auch die KünstlerInnenkritik aufgenommen und mittels dieser Kritik die sozialen Verhältnisse strategisch derart reorganisiert, dass das Resultat in der langfristigen Tendenz eine neue Form kapitalistischer Vergesellschaftung ist, von der wir mit der Praxis des Neoliberalismus in den vergangenen zwanzig Jahren die korporatistische Phase mitbekommen haben (vgl. Demirović 2008). Boltanski und Chiapello beobachten an diesem Punkt die Erneuerung beider Formen von Kritik. Es entstehen neue Formen der Ungleichheit durch Ausbeutung, die nun mit Ausgrenzung aus den Netzwerken von Mobilität und Kommunikation verbunden ist; und es entstehen neue Formen von Konsumismus, Entfremdung und Sinnlosigkeit.

Die Analyse von Boltanski und Chiapello gibt Anlass zu zwei kritischen Überlegungen. Erstens müssen die Bedeutungselemente der Kritik in ihrer Streuung, ihrer Artikulation und in ihrer hegemonialen Verdichtung genauer in den Blick genommen werden. Wenn, wie Boltanski und Chiapello es vorschlagen, die Artikulation der Kritiken allein in zwei Signifikantenketten und die Bildung von zwei leeren Signifikanten, das Soziale und das Ästhetische, in den Blick genommen wird, dann wird die Vielfalt der Kritiken reduziert. Ebenso problematisch ist, dass Boltanski und Chiapello ein Verständnis von Kritik vertreten, wonach die Empörungs- und Unzufriedenheitsmotive a priori die beiden Formen von Sozial- und KünstlerInnenkritik annehmen müssen und legen damit selbst eine gleichsam objektiv bestehende Distanz zwischen beiden nahe. Es wird damit die kulturelle Bedeutung der Sozialkritik ebenso ignoriert wie die soziale Dimension der KünstlerInnenkritik. Zudem bleibt außer Betracht, dass es unterschiedliche soziale Kräfte gibt, die mit diesen Kritiken verbunden sind. Die intellektuellen Auseinandersetzungen und die Prozesse der Verallgemeinerung, in denen Kritiken ausgearbeitet und durchgesetzt werden, bleiben außer Betracht. Richtig ist die Schlussfolgerung, dass sich verschiedene Formen der Kritik zu einer Einheit verbinden müssen, soll eine soziale Bewegung entstehen können und erfolgreich sein. Doch werden der Artikulationsprozess und die Dynamik hegemonialer Verdichtung unnötigerweise beschnitten. Problematisch ist auch die Schlussfolgerung, dass eine Desartikulation der Kritikmomente nur entlang der einen Spaltungslinie zwischen Sozial- und KünstlerInnenkritik vorkommen könnte.

Zweitens muss die Kritik ihre zukünftige Absorption und Funktion in einer passiven Revolution mit bedenken. Kapitalistische Gesellschaften sind durch interne und externe Kritik gekennzeichnet. Es verhält sich nicht so, dass die kapitalistische Gesellschaft sich zunehmend zu einem System schließt und Kritik unmöglich macht; es kommt aber demgegenüber auch nicht zu immer größerer Öffnung und Möglichkeit der Kritik. Vielmehr handelt es sich bei der bürgerlichen Gesellschaftsformation um einen sich selbst ständig revolutionierenden und transformierenden Organismus. Es ist das konstitutive Merkmal der Modernität der bürgerlichen Gesellschaft, dass sie sich in widersprüchlichen Prozessen ununterbrochen selbst überholt. Diese auf Dauer gestellte Revolution nimmt verschiedene Formen an, neben der Wissenschaft und der permanenten Falsifikation von Erkenntnissen oder der Kunst und ihren Prozessen ständiger Selbstradikalisierung der Avantgarden vor allem die politische Form der Demokratie.

 
4. Die politische Theorie der Kritik

An diesem Punkt können wir zum dritten disziplinären Bereich, dem der politischen Theorie übergehen und dem Gedankengang von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe folgen. Ihnen zufolge konstituieren Freiheit und Gleichheit einen symbolischen Raum der Demokratie. In diesem Raum bewegen sich die Individuen und sozialen Gruppen, sie nehmen die Normen von Freiheit und Gleichheit zum Bezugspunkt für ihre Kritik, sie befragen die Verhältnisse, unter denen sie leben, darauf, ob sie gleich und frei leben, und sie nehmen in Anspruch, diese Freiheit und Gleichheit zu verwirklichen. Freiheit und Gleichheit werden zur Matrix des sozialen Imaginären, das die Individuen antreibt und sie immer wieder einen Antagonismus zwischen den demokratischen Kämpfen und der Herrschaft konstruieren lässt. Konstruktion eines Antagonismus bedeutet: Die Bedeutungselemente in einem Diskurs zu artikulieren, so dass wenigstens temporär eine Bedeutung fixiert wird. In diesem Fall erscheint die Bedeutung als logisch notwendig und gleichsam natürlich, so dass ein Verhältnis oder ein Gegenstand gerade nur diese eine und keine andere Bedeutung zu haben scheint − was für diesen besonderen Diskurs, in dem das diskursive Element eine Bedeutung annimmt, auch tatsächlich der Fall ist. Doch bei dieser Artikulation in einem hegemonialen Diskurs bleibt es nicht. Die Vielfalt der Bedeutungen überbordet jeweils die Äquivalenzbildung innerhalb eines Diskurses. In immer neuen Aspekten des alltäglichen Lebens werden Ungleichheit und Unfreiheit aufgespürt und zum Ausgangspunkt des Antagonismus gegenüber denjenigen genommen, die im Prozess der Äquivalenzbildung als AntagonistInnen und als diejenigen gelten, die die Freiheit und Gleichheit verhindern. Es handelt sich nicht um den einen und grundlegenden Gegensatz, die demokratischen Kämpfe bestehen gerade darin, dass in hegemonialen Prozessen immer neue Antagonismen konstruiert werden, sich immer neue Subjekte bilden, die Freiheit und Gleichheit in immer neuen Facetten verwirklichen wollen. Denn jeder hegemoniale Erfolg bei der Durchsetzung von Freiheit und Gleichheit wird notwendigerweise neue Formen des Ausschlusses, der Ungleichheit und Unfreiheit schaffen und damit zur Bildung von Identitäten beitragen, die vorher unbekannt waren. Es kommt mithin zu einer Vervielfältigung der Kritik und der Konfliktualität, die Kritik treibt die Gesellschaft gleichsam vor sich her, löst vorhandene Interessenlagen, Institutionen und Identitäten auf und trägt zur Bildung neuer bei. Dieser Prozess lässt sich als Institutionalisierung der demokratischen Revolution begreifen. Der Kritik kommt in diesem Zusammenhang die Funktion zu, unter Berufung auf Freiheit und Gleichheit geronnene, verdinglichte, naturalisierte Verhältnisse zu verflüssigen, das Moment der Dynamik zur Geltung zu bringen.

Doch das Bild wäre unvollständig, wenn nicht noch zusätzlich folgender Gesichtspunkt bedacht würde, der die Performanz der Analyse selbst betrifft. Man kann sagen, dass den Kritiken im Vollzug eine noch wesentlichere Kritik übergeordnet ist, die als Demokratietheorie gilt: Die Theorien von Habermas, Walzer oder Mouffe sollten weniger als eine objektive Aussage über das verstanden werden, was Demokratie ist oder sein soll, als vielmehr als Redeereignisse, als eine spezifische Äußerungspraxis. Sie bewacht und reguliert die Dynamik der Kritik, indem sie sich um deren Ökonomie und Einsatz kümmert, indem sie die Warnung ausspricht: Keine Forderung nach Gleichheit und Freiheit darf sich absolut setzen. Das heißt, es muss durch Hegemonie zu einer Äquivalenz kommen, die eine Vielzahl von Signifikanten zu einem Diskurs vereinheitlicht. Doch diese hegemonial gewordene Identität, diese einmal konstituierte Gesellschaft darf sich nicht totalitär abschließen gegenüber dem Spiel der Differenzen, die in der Kritik zur Geltung gebracht werden, den Ausschluss, die Ungleichheit oder die Unfreiheit skandalisieren und auf eine neue Artikulation der Signifikanten, eine neue Hegemonie drängen. Es kommt zu einem Spiel von Dynamik und Statik, und das Spiel selbst wird bewacht − es wird von der Demokratietheorie darüber gewacht, dass es gespielt und richtig gespielt wird, dass alle es mit der richtigen Einstellung spielen: Auflösung des Gewordenen, erneute Herstellung einer hegemonialen Bedeutungskette und Fixierung der Bedeutungen, schließlich erneut die Verflüssigung des Sinns. Nur um den Preis, sich niemals zu verwirklichen, werden Freiheit und Gleichheit als Ziele verfolgt. Die Kritik wird darauf beschränkt, das, was zur Naturalisierung, zur Verdinglichung tendiert, wieder aufzulösen.

 
5. Der neue Modus der Kritik: zur Kritik der demokratischen Revolution

Wir können hier einen Schritt zurücktreten, um den Begriff der Kritik noch weiter radikalisieren zu können. Adorno hat darauf hingewiesen, dass in jenen von der Kritik immer von neuem bewirkten Veränderungen selbst etwas Statisches liegt. Über die permanenten kritischen Anstöße und Veränderungen kann man mit Leidenschaft und Begeisterung sprechen − und viele AutorInnen haben das getan, um das Totalitäre, Traditionale, Fundamentalistische sich festsetzender, sich jeder Befragung verweigernder gesellschaftlicher Verhältnisse zurückzuweisen und die Gesellschaft und ihre Mitglieder in Bewegung zu setzen. Doch haftet dieser Dynamik selbst etwas blind Naturwüchsiges. an Das Antagonistische der antagonistisch fortschreitenden Gesellschaft sei ihr Statisches, das, woran sich seit der Vorgeschichte nichts geändert habe. „Statisch invariant war bislang der Drang, sich auszubreiten, immer neue Sektoren zu verschlucken, immer weniger auszulassen. Damit reproduziert sich erweitert das Verhängnis. [...] Das war ihre Ewigkeit. Fortschritt, der die Vorgeschichte beendete, wäre das Ende solcher Dynamik. [...] Eine richtige Gesellschaft höbe beides auf. Sie hielte weder bloß Seiendes, die Menschen Fesselndes um einer Ordnung willen fest [...], noch besorgte sie weiter die blinde Bewegung, den Widerpart des ewigen Friedens, des Kantischen Ziels der Geschichte.“ (Adorno 1961, 232) Die Kritik operiert als Katalysator in diesem Spiel von Statik und Dynamik, die Kritik wird absorbiert, durch die Kritik hindurch erneuert sich die kapitalistische Gesellschaftsformation und setzt die Kritik von neuem frei, um die Verhältnisse aufzustören. Sie trägt auf ihre Weise dazu bei, diese Verhältnisse auf einem immer höheren Niveau zu reproduzieren. Die Individuen wiederum werden durch die Kritik subjektiviert. Denn wenn Freiheit und Gleichheit mit der bürgerlichen Gesellschaft und der Französischen Revolution das soziale Imaginäre werden, dann bedeutet dies, dass die Individuen immerzu diesem Ziel einer Freiheit und Gleichheit nachlaufen, das sie niemals erreichen können. Doch indem sie dieses Ziel zu erreichen suchen, subjektivieren sie sich als freie und gleiche Individuen, die sich auf der Suche befinden. Das Subjekt kann demnach auf die Ideen der Freiheit und Gleichheit und das Ziel ihrer Verwirklichung nicht verzichten, weil es selbst durch den Anspruch auf deren Verwirklichung konstituiert ist − ein Subjekt zu sein, das nicht frei und gleich sein wollte, wäre undenkbar.

Kant hat dem Prinzip nach diese sich immer verfehlende Dynamik der Freiheit ausgearbeitet (vgl. Kant 1788, 48f). In psychologisch-empirischer Hinsicht ist selbstverständlich, dass Menschen nicht frei, sondern kausal bestimmt sind; demgegenüber erscheint der Begriff der Freiheit in transzendentaler Hinsicht ebenso unentbehrlich wie unbegreiflich und erweist sich als ein regulativer Begriff der Vernunft: Wir benötigen den Begriff der Freiheit, um in der empirischen Welt eine frei handelnde Ursache, eine selbst bestimmende Kausalität denken zu können, obwohl es doch gerade eine solche nicht gibt und alles physisch bedingt ist. Von Ursache zu Ursache fortschreitend, kann die Vernunft kein außerkausal handelndes Wesen denken und sichert einen entsprechenden Platz in der intelligiblen Welt durch den Begriff einer ans moralische Gesetz gebundenen Freiheit. Wir müssen uns also selbst als in moralischer Hinsicht Freie und darum für unser Handeln Verantwortliche denken und dieser Freiheit nachstreben, nicht weil wir sie erreichen könnten, sondern weil wir sie als Subjekte sind. Marx hat sich an diesem Punkt deutlich von Kant abgesetzt: „Andrerseits zeigt sich ebensosehr die Albernheit der Sozialisten (namentlich der französischen, die den Sozialismus als Realisation der von der französischen Revolution ausgesprochnen Ideen der bürgerlichen Gesellschaft nachweisen wollen), die demonstrieren [...] daß die Geschichte bisher noch verfehlte Versuche gemacht, [Freiheit und Gleichheit] in der ihrer Wahrheit entsprechenden Weise durchzuführen, und sie nun, wie Proudhon, z.B. den wahren Jakob entdeckt haben, wodurch die echte Geschichte dieser Verhältnisse an der Stelle ihrer falschen geliefert werden soll. Ihnen ist zu antworten: daß der Tauschwert oder näher das Geldsystem in der Tat das System der Gleichheit und Freiheit ist.“ (Marx 1857/58, 174) Um es etwas paradox zu sagen: Das Streben nach Freiheit durch Kritik führt nicht zur Freiheit, sondern ist ein Adjustierungsmechanismus, der zu den notwendigen Normalisierungsprozessen in der kapitalistischen Gesellschaft beiträgt, in einer endlich freien Gesellschaft müsste niemand mehr der Freiheit nachstreben. Freiheit im absoluten Sinne gedacht geht einher mit Sklaverei, denn es bedeutet, dass die einen nur deswegen absolut Freie sind, weil alle anderen für sie zu arbeiten. Freiheit lässt sich deswegen nur als eine Befreiung von ... und als eine Freiheit zu ... begreifen, Kritik hat gerade hier ihre lokale, vorwärts treibende Bedeutung. Das ist nicht wenig, aber mehr ist es eben auch nicht. Kritik, die auf das Neue zielt, kann ihre Maßstäbe nicht einfach aus den bisherigen Begriffen gewinnen. Denn das könnte sich selbst als fatal erweisen. „Der Sozialismus einer bestimmten Epoche, nämlich am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, behauptete, dass der Mensch in den kapitalistischen Gesellschaften nicht alle Möglichkeiten der Entwicklung und der Verwirklichung erhielt; dass die Natur des Menschen im System des Kapitalismus tatsächlich entfremdet sei. Und er träumte von einer menschlichen Natur, die schließlich frei sein sollte. Welches Modell benutzte er, um sich diese Natur des Menschen vorzustellen, zu entwerfen, zu verwirklichen? In Wahrheit war es das bürgerliche Modell. [...] Die Universalisierung des bürgerlichen Modells war die Utopie, die die Verfassung der sowjetischen Gesellschaft [und die der Volksdemokratien] inspiriert hat.“ (Foucault 1974, 619) Foucault weist somit darauf hin, dass sich das autoritäre und totalitäre Moment in der Tradition der Linken gerade daraus ergeben hat, dass sie die bürgerlichen Normen der Freiheit, der Selbstentwicklung und Selbstverwirklichung verwirklichen wollte. Das müsste der Gegenstand der Kritik sein. Die Überlegenheit des Bürgertums besteht, so könnte man hegemonietheoretisch weiter spekulieren, nicht zuletzt darin, dass es klug genug ist, diesen Anspruch auf Verwirklichung seiner Normen gar nicht zu beabsichtigen und ihn seinen GegnerInnen zu überlassen, die auf diese Weise immer vor dem folgenden Trilemma stehen: Entweder sie können den Anspruch nicht verwirklichen, aber versuchen immerzu von neuem, den Stein den Berg hinauf zu rollen − entsprechen also dem Kantischen Programm der regulativen Idee; oder sie verwirklichen die Normen der Gleichheit und Freiheit und werden sich als totalitär erweisen; oder sie gewinnen die Einsicht in die totalitäre Tendenz und ziehen die Konsequenz, nämlich die Normen nur in dem idealen Sinn zu begreifen, dass sie zwar angestrebt, aber niemals wirklich verwirklicht und deswegen von innen her begrenzt werden sollten. Eine solche Bescheidenheit diskreditiert die Linke und begrenzt ihre Ziele.

Will die Kritik dieser Logik etwas entgegenstellen, dann muss sie radikal sein, sie muss nicht nur alle Verhältnisse kritisieren, unter denen die Menschen geknechtet, verlassen und verächtlich sind. Sie muss die Maßstäbe der Kritik, die Kritik selbst auf ihre praktische Funktionsweise und ihre Folgen hin analysieren und dekonstruieren. Das Ziel einer solchen metakritischen Kritik ist es, materialistisch und radikal die Dialektik dieser Begriffe und Normen zu denken, auf die die Kritik sich bezieht, schließlich auch den Begriff der Kritik selbst. Es geht nicht darum, die Begriffe abstrakt zu verwerfen, sondern sie bis an ihre Grenze zu denken, um die mit ihnen verbundenen Praktiken zu begreifen und sie bestimmt zu negieren; von dort aus wird deutlich, dass es so nicht mehr weiter geht und das Neue des Zusammenlebens sich auch nur in neuen Begriffen denken und vollziehen lässt. Marx hat darauf hingewiesen: „Vom Standpunkt einer höhern ökonomischen Gesellschaftsformation wird das Privateigentum einzelner Individuen am Erdball ganz so abgeschmackt erscheinen wie das Privateigentum eines Menschen an einem andern Menschen.“ (Marx 1894, 784) Diese Überlegung gilt auch für Freiheit und Gleichheit insofern, als diese die Festigkeit eines Volksvorurteils, eben objektive Gedankenformen, geworden sein müssen, wenn sich der regelmäßige Tausch von Waren gegen Geld vollziehen können soll (vgl. Marx 1867, 74). Dort, wo die Begriffe der Freiheit und Gleichheit umschlagen und sich selbst aufheben, kommt es − Adorno zufolge − schließlich zu einem Zustand, in dem Individuen nicht mehr an einem Äquivalenzkriterium gemessen würden, die Versöhnung bestünde in maßstabsloser Differenz (vgl. Demirović 2004).

 

Literatur:

Adorno, Theodor W. (1961): Über Statik und Dynamik als soziologische Kategorien, in: ders.: Ges. Schriften, Bd. 8, Frankfurt am Main 1972

Adorno, Theodor W. (1951): Kulturkritik und Gesellschaft, in: ders.: Ges. Schriften, Bd. 10.1, Frankfurt am Main 1977

Boltanski, Luc, Chiapello, Eve (2003): Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz

Demirović, Alex (1993): Intellektuelle und Gesellschaftskritik heute, in: Prokla 92, 23. Jg., September 1993

Demirović, Alex (2004): „Freiheit und Menschheit“, in: Jens Becker/Heinz Brakemeier (Hrsg.): Vereinigung freier Individuen. Kritik der Tauschgesellschaft und gesellschaftliches Gesamtsubjekt bei Theodor W. Adorno, Hamburg

Demirović, Alex (2008): „Neoliberalismus und Hegemonie“, in: Christoph Butterwegge, Bettina Lösch, Ralf Ptak (Hrsg.): Neoliberalismus. Analysen und Alternativen, Wiesbaden

Foucault, Michel (1974): Über die Natur des Menschen: Gerechtigkeit versus Macht, in: ders.: Schriften, Bd. 2, Frankfurt am Main 2002

Foucault, Michel (1977a): Vorlesung vom 7. Januar 1976, in: ders.: Schriften, Bd. 3, Frankfurt am Main 2003

Foucault, Michel (1977b): Folter ist Vernunft, in: ders.: Schriften, Bd. 3, Frankfurt am Main 2003

Foucault, Michel (1977c): Gespräch mit Michel Foucault, in: ders.: Schriften, Bd. 3, Frankfurt am Main 2003

Foucault, Michel (1978): Was ist Kritik?, Berlin 1992

Foucault, Michel (1980): Gespräch mit Ducio Trombadori, in: ders.: Schriften, Bd. 4, Frankfurt am Main 2005

Horkheimer, Max (1937): Traditionelle und kritische Theorie, in: ders.: Ges. Schriften, Bd. 4, Frankfurt am Main 1988

Kant, Immanuel (1788): Kritik der praktischen Vernunft, in: ders.: Werke. Akademie-Textausgabe, Bd. V, Berlin 1968

Laclau, Ernesto, Mouffe, Chantal (1991): Hegemonie und radikale Demokratie, Wien

Marx, Karl (1843): Briefe aus den „Deutsch-Französischen Jahrbüchern“, in: Marx-Engels-Werke, Bd. 1, Berlin 1972

Marx, Karl (1844): Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: Marx-Engels-Werke, Bd. 1, Berlin 1972

Marx, Karl (1857/58): Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, in: Marx-Engels-Werke, Bd. 42, Berlin 1983

Marx, Karl (1867): Das Kapital, Bd. 1, in: Marx-Engels-Werke, Bd. 25, Berlin 1969

Marx, Karl (1894): Das Kapital, Bd. 3, in: Marx-Engels-Werke, Bd. 25, Berlin 1969

Walzer, Michael (1990): Kritik und Gemeinsinn, Berlin