01 2011
Ereignisgewimmel
Über das Neue in der Geschichte und die Politiken der Äußerung
Ereignisse gibt es nur im Plural. Das heißt zunächst: Es gibt sie nur dort, wo auch andere Ereignisse stattfinden, stattgefunden haben und stattfinden werden, sodass jedes Ereignis, mit dem wir es zu tun haben oder an dem wir vielleicht beteiligt sind, sich eigentlich immer schon inmitten eines Gewimmels von Ereignissen zuträgt. Und Ereignisse können sich buchstäblich von weit her zutragen. Irgendwo und irgendwann mögen Dinge vorgefallen sein, an die sich Ereignisverkettungen angeschlossen haben, welche sich in bestimmten ‚Merkwürdigkeiten’ manifestieren, in Abhebungen vom gewohnten Lauf der Dinge. Diese Abhebungen können ihrerseits an dem einen oder anderen Punkt in ‚einem’ Ereignis zusammenlaufen, sich vielleicht davor noch als ‚ein’ Ereignis – dessen Bedeutung und Tragweite es indessen erst noch herauszufinden gilt – darzustellen beginnen.
Es ist beispielsweise ein veritables Ereignis, wenn sich mitten durch die Pyrenäen eines Tages ein Bruch auftut, der schließlich dazu führt, dass sich die iberische Halbinsel vom europäischen Kontinent ablöst und in den offenen Atlantik driftet. Und wer, wie Jose Saramago,[1] von einem solchen Ereignis sorgfältig zu erzählen weiß, der weiß auch von den verstreuten kleinen Bizarrerien zu erzählen, in denen es sich ankündigt: Ein aufs Meer hinaus geworfener Stein fliegt viel weiter, als es sein Gewicht und die Körperkraft des Werfers üblicherweise zulassen würden; eine Frau ritzt mit einem Rüsterstecken eine Linie in die Erde, und schon bellen in einem weit entfernten Dorf die dort eigentlich seit jeher stummen Hunde; ein Mann tritt beim Aufstehen von einem Stuhl mit den Füßen auf, um fortan als weit und breit Einziger die Erde unter sich beben zu spüren; ein anderer wird unversehens tagein, tagaus von einem Schwarm von Staren begleitet … Es handelt sich um Vorkommnisse, die auffällig genug sind, um einige Wenige in Unruhe zu versetzen und sie auf die Suche zu schicken nach anderen, die gewiss nicht dieselbe Bizarrerie wahrgenommen haben, aber doch immerhin irgendetwas, das sich aus dem gewohnten Lauf der Dinge eben nicht erklären lässt und daher Fragen aufwirft, die vielleicht neu und unerhört sind. Vorkommnisse, von denen man überdies nicht sagen können wird, dass keinerlei Handlungen in sie und ihre Genese involviert wären – aber ebenso wenig, dass sie durch bestimmte Handlungen gänzlich ‚bewirkt’ worden wären.
Dass es Ereignisse immer nur im Plural gibt, ist demnach in letzter Konsequenz nicht allein so zu verstehen, dass jedes Ereignis immer eines unter mehreren ist. Jedes Ereignis ist vielmehr in sich selbst immer schon eine Mannigfaltigkeit, eine Komplexität, in die Handlungsfaktoren ebenso eingehen können wie Ereigniskomponenten, die dem Handeln voraus liegen oder aber über seine Tragweite hinausreichen. Wenn hier und dort dennoch sinnvollerweise von ‚einem’ Ereignis gesprochen werden kann, so verdankt sich diese Möglichkeit immer auch bestimmten Deutungsprozeduren, die ihrerseits zur Voraussetzung haben, dass die das ‚eine’ Ereignis konstituierenden Ereignisherde und Ereignisverkettungen bestimmte Perzeptions- und Benennbarkeitsschwellen überschreiten und zugleich als zusammenhängend erscheinen, sodass ‚diesem einen’ Ereignis sein spezifisches Profil verliehen werden kann. In diese Prozeduren aber gehen selbst Mannigfaltigkeiten ein: Mannigfaltigkeiten der Erfahrung, der Perspektive, des interpretativen Verfahrens, Mannigfaltigkeiten der Nähe oder des Abstands zum Ereignis oder der Positionierung innerhalb der Ereignisverkettungen, mitunter Mannigfaltigkeiten des Zugangs zu ‚Quellen’ oder ‚Dokumenten’, die sich auf es beziehen, etc.; kurz, Mannigfaltigkeiten, die durch keine noch so gebieterische ‚repräsentative’ Darstellung des ‚einen’ Ereignisses vollständig eingeholt werden können.
Hinzu kommt: Jedes Ereignis ist kontingent. Es ist nur Ereignis, indem es auch nicht oder aber auch anders geschehen sein könnte – so wie die iberische Halbinsel etwa sich ebenso gut auch nicht vom europäischen Kontinent abgelöst oder aber sich in einem beispiellosen Manöver ins Mittelmeer gedrückt und dort an den nächstliegenden Inseln gestoßen haben könnte. Saramagos Romane schärfen unsere Wachsamkeit für diesen Punkt, entfalten sie doch wieder und wieder detaillierte Schilderungen von Ereignissen und Ereignisverkettungen, die so ‚unwahrscheinlich’ sind, dass sich alles stets in einer gewissen Verwunderung darüber abspielt, dass es um die Welt so und nicht anders steht. Und sie demonstrieren zugleich – indem das Ereignis es um die Welt nichtsdestotrotz gerade so stehen lässt – sehr deutlich die Implikationen der grundlegenden Kontingenz des Ereignisses für jegliches Handeln. Denn dieses erfährt an ihm seine eigene Kontingenz: Nicht nur hat kein bestimmtes Handeln das Ereignis als solches bewirkt (auch wenn mancherlei Handlungen in seine Genese involviert gewesen sein mögen), sondern es gibt auch kein noch so sehr mit ‚Macht’ ausgestattetes Handeln, das ihm zuverlässig Einhalt gebieten könnte. Die ‚Effekte’ bestimmter Handlungen bemessen sich im Angesicht des Ereignisses also nicht unbedingt an der Autorität ihrer UrheberInnen, und zwar selbst dann nicht, wenn die in Reaktion auf das Ereignis mobilisierten Maßnahmen eine Verschärfung bestehender Herrschafts- und Ungleichheitsgefälle in Szene setzen. Im Gegenteil sind es viel eher die Ereignisverkettungen, die vermeintlich unbedeutende Handlungen mitunter mit erstaunlichen Konsequenzen zu verknüpfen scheinen und die umgekehrt dazu führen mögen, dass sich gerade am Gewicht, mit dem sich vermeintlich bedeutende AkteurInnen ins Zeug werfen, um dem Ereignis zu trotzen, zugleich ihre Ohnmacht und sogar Lächerlichkeit bemisst.
Ereignisdenken als Geschichtsmythologie
Wenn ich die beiden Aspekte der konstitutiven Mannigfaltigkeit und der Kontingenz des Ereignisses einleitend in den Vordergrund gestellt habe, dann deshalb, weil ich von allem Anfang an einer bestimmten Übertreibung, ja sogar Fetischisierung des Ereignisbegriffs entgegenwirken wollte, der heute gelegentlich zu begegnen ist. Als Beispiel dafür sei hier nur eine Passage aus einem zuerst in der israelischen Zeitung Ha’aretz erschienenen Interview mit Alain Badiou wiedergegeben. Nach dem Ereignischarakter sowohl der israelischen Staatsgründung als auch des palästinensischen Aufstands gefragt, antwortet Badiou, indem er beide von vornherein in ein übergeordnetes Raster aus „Ereignis“ und „Gegen-Ereignis“ einliest:
„Die Gründung des zionistischen Staates ist eine gemischte, zutiefst komplexe Realität. Einerseits ist sie ein Ereignis, das Teil eines umfassenderen Ereignisses ist: des Auftauchens der großen revolutionären Projekte, kommunistisch und sozialistisch. Der Idee, eine völlig neue Gesellschaft zu begründen. Andererseits ist es ein Gegen-Ereignis, das Teil eines umfassenderen Gegen-Ereignisses ist: des Kolonialismus, der von Menschen aus Europa betriebenen brutalen Eroberung neuer Landstriche, in denen andere Menschen, andere Völker lebten.“[2]
Ich möchte mich hier nur kurz damit aufhalten, der Verwunderung über einen Begriff von ‚Komplexität’ Ausdruck zu verleihen, der sich ganz offensichtlich in der Konstruktion einer binären Opposition erschöpft: Man könnte ihm den an Goethe und mehr noch an dessen bildungsbürgerlichen Anhang adressierten Spott Nietzsches angesichts eines Verstands von konfliktiven Seelenverhältnissen angedeihen lassen, der an der Feststellung sein Auslangen findet, jemand habe „zwei Seelen in seiner Brust“. Wichtiger hier jedoch ist, dass in Badious eigenwilliger und doch zugleich reichlich unorigineller Lektüre der Konflikte, die sich mit und seit der Gründung des israelischen Staates entsponnen haben, das „Ereignis“ samt seinem Konterpart, dem „Gegen-Ereignis“ (und samt den Einordnungen beider in „umfassendere“ Ereignisse und Gegen-Ereignisse), zu einer allzu bequem handhabbaren Folie wird: einer Folie, auf der dann geschichtliche Prozesse einem Orientierung versprechenden Lektüreraster unterworfen werden können, ohne dass sie selbst einer eingehenderen Untersuchung bedürften. Anders gesagt, es sind gar nicht mehr die konkreten geschichtlichen Prozesse selbst und die in sie intervenierenden, ihnen möglicherweise eine andere Richtung gebenden Ereignisse, die von Interesse sind. Vielmehr hängen das „Ereignis“ des revolutionären Kommunismus/ Sozialismus einerseits sowie das „Gegen-Ereignis“ des Kolonialismus andererseits über der Geschichte wie eherne seinsgeschichtliche[3] Tafeln, die zwar ihre je eigenen Entstehungen haben, aber fortan als Geschicke über den Dingen walten – um zugleich anzuzeigen, was an Handlungen und Geschehnissen jeweils in welches Deutungsschema einzutragen ist.
Der Ereignisbegriff wird auf diese Weise zur Schaltzentrale, von der aus sich eine ganze historisch-politische Hermeneutik organisiert, ohne dass man sich mit den geschichtlichen Geflechten aus konkreten Verhältnissen, Handlungen, Subjektivitäten, Experimenten, Verhandlungen und Konflikten oder auch nicht zuletzt mit Ereignissen, die nicht in das Schema Kommunismus/Sozialismus vs. Kolonialismus passen, auch nur ein einziges Mal auseinandergesetzt haben müsste.[4] Und daran ist nicht nur problematisch, dass zu diesen schematisch nicht vorgesehenen Ereignissen – oder der badiouschen Binärordnung folgend: „Gegen-Ereignissen“ – im gegebenen Fall vor allem auch die Shoah gehört. Daran ist nicht minder problematisch, dass ein solches geschichtsmythologisches Raster wenig Raum lässt für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Mannigfaltigkeit und Plastizität der genannten geschichtlichen Geflechte, mit dem also, was Gershom Scholem (dem im Übrigen als „religiösem Anarchisten“ keineswegs eine Staatsgründung vor Augen stand, als er in den 1920ern nach Palästina ging) als „plastische Momente“ in der Vorgeschichte und Geschichte Israels und der jüdisch-arabischen Beziehungen bezeichnet hat; und dass es folglich ebenso wenig Raum lässt für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit jenen zum Teil „ereignishaften“ Schließungen von plastischen Momenten, die sich nicht allein mit den Folgen der nazistischen Massenverfolgung und Massenvernichtung verknüpfen.[5] Kurz, ein solches Raster erlaubt gerade das nur allzu schematisch zu entwerfen, was der eigentliche Einsatz eines Ereignisdenkens sein könnte: nämlich die Verständigung über einen geschichtlichen Raum und Ereignisraum, der von Mannigfaltigkeiten und Kontingenzen, von Öffnungen und Schließungen, von der Entstehung von Neuem und von Irreversibilitäten durchzogen ist und in dem die Aufgabe nicht darin bestehen kann, Ereignis und Gegen-Ereignis fein säuberlich voneinander „zu trennen“,[6] sondern inmitten all dessen neue Plastizitäten selbst dort zu schaffen, wo das soziale und politische Terrain ausweglos verhärtet zu sein scheint.
‚Schwacher’ und ‚starker’ Ereignisbegriff des
Poststrukturalismus
Badious Ereignisbegriff mutet an der zitierten Stelle letztlich geradezu wie eine Karikatur dessen an, was sich in den Theorie- und Diskussionsfeldern insbesondere des französischen Poststrukturalismus als Frage des Ereignisses herausgebildet hat. Denn er spielt zwar auf das Neue und Unerhörte des Ereignisses an, aber nur um dieses Neue und Unerhörte nahezu gänzlich der in Frage stehenden Geschichte und Gegenwart vorzulagern. Und er führt zwar eine Differenz zwischen dem Ereignishaften und dem einfachen geschichtlichen Ablauf der Dinge ins Feld – die Frage einer solchen Differenz wird uns noch beschäftigen –, aber nur um diese Differenz zur Differenz zwischen die Geschichte überwölbenden und ihr eigentlich ganz und gar entzogenen Großereignissen einerseits sowie buchstäblich „unter sie fallenden“ Ereignissen ohne eigenes ontologisches Gewicht andererseits zu überhöhen.
Hingegen lassen sich im poststrukturalistischen Denken des Ereignisses ein ‚starker’ und ein ‚schwacher’ Begriffsaspekt unterscheiden, die – so meine These – gleichermaßen bedeutsam sind. Ich spreche bewusst von Aspekten, denn wohlverstanden erlauben diese es meines Erachtens nicht, einen starken und einen schwachen Begriff des Ereignisses gänzlich voneinander zu isolieren. Sie gehen vielmehr als unabdingbare Komponenten in den Ereignisbegriff ein, sodass von starkem und schwachem Ereignisbegriff nur im Sinne der einen oder anderen Akzentuierung gesprochen werden kann. Anders gesagt, die ‚Stärke’ des Ereignisbegriffs lässt sich nur vor dem Hintergrund seiner ‚Schwäche’ verstehen, und umgekehrt seine ‚Schwäche’ nur im offenen Horizont seiner ‚Stärke’.
Der starke Aspekt des Ereignisbegriffs sei hier zunächst mit einer Überlegung von Derrida belegt, die jene Art von Ereignis betrifft, deren Name über der Reihe von Zusammenkünften steht, in die sich dieser Beitrag einschreibt – nämlich die Erfindung, die Invention: „Die Erfindung ist ein Ereignis; das sagen schon die Worte selbst. Es handelt sich darum, zu finden, eintreten und sich ereignen zu lassen, was noch nicht da war.“[7] In seinem starken Aspekt unterstreicht der Begriff also das Neue, und zwar das unerhört Neue, das, „was noch nicht da war“ – ja das, was noch nicht einmal in seiner Existenzmöglichkeit vorgezeichnet war: „Damit es ein Erfindungsereignis gibt, muss die Erfindung zunächst unmöglich erscheinen; das Unmögliche muss möglich werden. Die einzige Möglichkeit der Erfindung ist also die Erfindung des Unmöglichen.“[8] Es ist nicht notwendig, Derridas aufs Paradox zielendem Spiel mit den Modalitäten von Möglichkeit und Unmöglichkeit zu folgen, um die zentrale Pointe festzuhalten: Wenn es auch in der Erfindung bzw. im Ereignis um die „Möglichkeit“ des Hervorgangs von etwas Neuem geht, so ist diese Möglichkeit doch nicht im Sinne der alten metaphysischen (aristotelischen) Tradition zu verstehen, der zufolge alle Möglichkeit in einer vorgängigen Wirklichkeit gründet, um danach nur noch umgesetzt, ‚verwirklicht’ werden zu müssen (wonach der Hervorgang von grundlegend Neuem gerade ‚unmöglich’ wäre). Es handelt sich vielmehr um eine Möglichkeit, die zwar sehr wohl ihre Ausgangsbedingungen hat und in die unterschiedliche Elemente und Handlungen eingehen, deren Effektuierung sich aber nicht oder jedenfalls nicht gänzlich aus diesen Bedingungen, Elementen und Handlungen erklärt oder auf sie zurückführen lässt. Genau deshalb und in diesem Sinn ist, was sie hervorgehen lässt, neu – und die Bedingungen, Elemente und Handlungen, die am Hervorgang dieses Neuen beteiligt sind, verändern sich dabei gewissermaßen selbst, weil sie zu Bedingungen, Elementen und Handlungen von etwas werden, das sie zuvor nicht (auch nicht als vorzeichnende Potenzialität, ‚Intelligent Design’, Absicht usw.) in sich enthielten. Kurz, der Ereignisbegriff in seinem ‚starken’ Aspekt beschreibt einen Zusammenhang von Emergenz.
Der ‚schwache’ Aspekt des Ereignisbegriffs wiederum hat präzise mit der konstitutiven Mannigfaltigkeit des Ereignisses und mit seiner grundlegenden Kontingenz zu tun. Er ist schwach nur in dem Sinn, dass er für sich besehen noch nicht den Aspekt der Neuheit, der Invention usw. ausdrücklich benennt bzw. in den Vordergrund rückt. Doch er ist von der starken Begriffskomponente zugleich nicht zu trennen, zumal die Frage und das Problem des Neuen und seines Hervorgangs erst vor dem Hintergrund der Mannigfaltigkeit und der Kontingenz des Ereignisses ihren vollen und präzisen Sinn erhalten. Und eben diese stehen in der schwachen Akzentuierung der Ereignisbegriffs im Vordergrund: Er besagt, dass die Dinge, Geschehen und auch Bedeutungen, mit denen wir es zu tun haben, ‚Ergebnisse’ von Zusammensetzungen sind, die keinerlei höherer Notwendigkeit folgen und deren Effekte, so bindend sie auch scheinen mögen, stets von Unwägbarkeiten durchzogen bleiben; dass sie nicht Realisierungen eines ihnen eingeschriebenen ‚Wesens’ sind, sondern Effekte einer bestimmten Dynamisierung heterogener Komponenten, die sich zu einem spezifischen und niemals vollständig stabilen Gefüge verknüpft haben.
Es ließe sich daher sagen, dass der schwache Aspekt des Ereignisbegriffs genau gegen jene Art von Mythologemen in der Betrachtung geschichtlicher Verhältnisse gerichtet ist, die ein Statement wie dasjenige Badious (diesmal ausgerechnet unter Berufung auf das Ereignis) aufs Neue einzurichten droht. Denn er erstattet der Geschichte gewissermaßen genau jene Ereignisse zurück, die sie durchwirken, die es an ihr und ihren Bahnungen möglichst – und zwar mit allen Komplexitäten und ‚Zufälligkeiten’ – zu verstehen gilt und die es ihr erlauben, in ihrem Fortgang mehr und anderes zu sein als die bloße weitere Entfaltung des Bestehenden. Diese Rückerstattung des Ereignishaften kann daher im Übrigen nicht nur als Rückerstattung an die Geschichte verstanden werden, sondern auch als Rückerstattung der Geschichtlichkeit an Zeiten, Phänomene und Verhältnisse, die von der Geschichte angeblich ausgenommen sind. Und dies wiederum ist nicht nur auf Zeiten, Phänomene und Verhältnisse zu beziehen, die man am proklamierten „Ende der Geschichte“ angekommen zu sein wähnt, sondern auch auf solche, die in ihr angeblich noch nicht oder jedenfalls nicht zureichend angekommen seien.[9] Die ‚Differenz’, die zwischen Geschichte und Ereignis besteht, ist daher letzten Endes als eine Differenz zu verstehen, die nicht so sehr zwei realiter unterschiedliche Ordnungen betrifft. Sie stellt vielmehr das Denken von geschichtlichen Verhältnissen selbst vor die Herausforderung, auf der Geschichte enthobene Hilfskonstruktionen zu verzichten – ob diese nun etwa in der Konstruktion eines Anfangs oder Endes der Geschichte bestehen mögen oder auch in der Konstruktion von Zwangsläufigkeiten und Determinismen, denen die geschichtlichen Prozesse vermeintlich unterliegen.
Oder schließlich auch in der Konstruktion eines oder mehrerer ‚Subjekte’ oder ‚Sub-Subjekte’ der Geschichte, die der Etablierung von Mythologemen der geschichtlichen Verständigung erheblichen Vorschub geleistet hat. An der erbarmungslosen Kritik an solchen Subjekten und Sub-Subjekten lassen sich die Einsätze des ‚schwachen’ poststrukturalistischen Ereignisbegriffs vielleicht am deutlichsten ablesen. Diese Kritik beginnt sich schon im Strukturalismus zu artikulieren (und zwar selbst hier schon mitunter unter dem Hinweis auf Ereignisse), und sie nimmt im poststrukturalistischen Denkfeld nur umso klarere und unmissverständlicher mit der Frage nach Ereignissen verknüpfte Konturen an. Hier einige Beispiele, die nacheinander Arbeiten von Lévi-Strauss, von Foucault und von Deleuze/Guattari betreffen:[10] Man spricht von „archaischen Kulturen „, die geschichtslos in ihrer „Authentizität“ vor sich hin existieren? Vielleicht hat man ja nur keinen Zugang zu ihrem Wandel gefunden, aus methodischen Gründen oder weil bestimmte Ereignisse diese „Kulturen“ der Mittel beraubt haben, eine Dynamik zu entfalten, wie sie andernorts sehr wohl beobachtet werden kann. Man konstruiert eine zeitliche Schwelle zwischen Natur und Kultur, die es erlaubt, Letztere an den Anfang alles Geschichtsfähigen zu stellen (auch wenn sich die „primitiven“ oder „archaischen“ Varianten der „Kultur“ ihr noch nicht geöffnet haben mögen)? Vielleicht handelt es sich nur um eine analytische Schwelle, die den historisch-sozialen Phänomenen aufgedrängt wird, ohne dass man sich ihrer Eindeutigkeit versichern könnte? Man spricht von der „Humanisierung“ der Strafjustiz im Zuge der Aufklärung des 18. Jahrhunderts? Vielleicht handelt es sich ja eher um die Herausbildung eines neuen politisch-ökonomischen Machtdispositivs, das die Individuen zu disziplinieren trachtet (anstatt sie zu töten und zu martern). Man stellt überhaupt den Menschen ins Zentrum der Geschichte? Vielleicht ist er ja nur das Ergebnis bestimmter ökonomischer, philologischer und biologischer Wissensdispositionen und es ist ein „Ereignis“ vorstellbar, das darauf wetten ließe, dass er eines Tages wieder „verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“. Man betrachtet die Sexualität als einen Vektor der Befreiung von Repression? Vielleicht handelt es sich ja auch dabei um ein spezifisches Machtdispositiv, das schon dort, wo man es angeblich mit nichts als Unterdrückung zu tun hat, paradoxerweise ein unablässiges Sprechen über den Sex hervorbringt. Man möchte das Brodeln von Trieb und Libido im Untergrund der Geschichte und vor allem ihrer AkteurInnen aufspüren? Vielleicht ist Begehren ja nur als maschinisches Gefüge, als Verkettung heterogener Elemente denkbar, Produktionen von Produktionen, von Anti-Produktionen und Konsumtionen hervorbringend – ohne dass das Begehren dabei seinen bevorzugten Ort in oder in der rätselhaften Tiefe von „Subjekten“ hätte.
Den verschiedenen Kampfzonen, die jene Angriffe auf vermeintliche Selbstverständlichkeiten eröffnet haben, kann und muss hier nicht im Einzelnen nachgegangen werden. Einer der zentralen Einsätze, um die sich der Streit in ihnen dreht, ist indessen klar zu benennen: Es werden Ereignisse behauptet, die eigentlich keine sind oder zu denen man keinerlei Zugang hat (wie etwa der Übergang von der „Natur“ zur „Kultur“), oder auch Ereignisse, die schlecht gedeutet werden, weil ihnen unkritisch ein keineswegs evidentes Subjekt (wie eben die „Kultur“ oder auch der „Mensch“) unterlegt wird; dabei werden andere Ereignisse ignoriert, die beispielsweise die konkrete Geschichte dieser vermeintlichen Subjekte betreffen oder die Genese eben jener Wissensdispositionen, die sie plausibilisieren; und zuletzt werden Ereignisse, die eines Tages geschehen könnten – wie etwa das „Ende des Menschen“ als Subjekt der Geschichte –, schlicht und einfach unvorstellbar gemacht, weil man Geschichte nie ohne die Substruktion eines solchen Subjekts zu denken gelernt hat.
Die Emergenz neuer politischer Subjektivitäten
Womit uns das poststrukturalistische Ereignisdenken also konfrontiert, ist ein offenes Feld von Mannigfaltigkeiten und Kontingenzen, das einen neuen, sich bestimmter Mythologeme entledigenden Blick auf geschichtliche Prozesse erfordert. Doch wenn diese kritische Entledigung auch in hohem Maße bereits Angelegenheit des ‚schwachen’ Aspekts des Ereignisbegriffs sein mag, so bedeutet dies doch keineswegs, dass auf seinen ‚starken’ Aspekt verzichtet werden kann. Einen solchen Verzicht kennen wir indessen heute nur allzu gut. Er durchzieht einen nicht unwesentlichen Teil beispielsweise dem „Cultural Turn“ verpflichteter Untersuchungen, die es sich mitunter bereits als große Erkenntnis anrechnen, mit der Einsicht in die kontingente Gewordenheit von „Machtstrukturen im kulturellen Feld“ auch deren „Veränderbarkeit“ zu demonstrieren. In Gegenrichtung zu Badious Abnabelung des starken Aspekts des Ereignisbegriffs wird hier sein schwacher Aspekt abgenabelt, und wir sehen uns vor ein diffus als „Kultur“ konzipiertes Aufzeichnungsfeld der Veränderlichkeiten und Veränderbarkeiten gestellt, das zwar Scharen von ForscherInnen zu beschäftigen vermag, von dem am Ende aber niemand mehr so recht weiß, wie in ihm das Auftauchen von Neuem eigentlich vonstatten gehen soll.
Dagegen sei hier abschließend ein besonderer Fall von Ereignissen angesprochen, der das Auftauchen, die Emergenz von neuen politischen Subjektivitäten betrifft. In ihm geht es nicht bloß um das Auftreten einer weiteren Spielart von „kulturellen Artikulationen „ und auch nicht bloß um das neueste Gewand, das sich im Prinzip wohlbekannte politische Haltungen und Strömungen überzieht, sondern präzise um eine Art von Äußerung, die ein neues ‚Subjekt’ der Äußerung hervorgehen lässt, und das heißt eigentlich: eine neue Subjektivierung, die sich nicht zuletzt über und durch die Äußerung ihrer selbst vollzieht: „ich, Angehöriger des dritten Standes und also der Nation“; „ich, Frau und Bürgerin“; ich „Sansculotte und als solcher Bürger“; „ich, Sans-Papiers und …“. Ich beschränke mich ersichtlich auf wenige Beispiele und beziehe zumindest die ersten drei von ihnen auf ein und denselben Kontext, nämlich den der Französischen Revolution, die ich weniger als ‚ein’ Ereignis denn vielmehr als Gewimmel von Ereignissen begreifen möchte.
Rufen wir uns zunächst den ‚Plan’ der im Januar 1789 in Umlauf gebrachten Streitschrift Qu’est ce que le tiers-état? von Emmanuel Sieyès in Erinnerung: „1. Was ist der dritte Stand? – Alles. 2. Was war er bisher in der politischen Ordnung? – Nichts. 3. Was verlangt er? – Etwas zu sein.“[11] Wir wissen längst, dass sich die Sprengkraft, von der diese Sätze Zeugnis ablegten und die sie zugleich anheizten, dahingehend entladen sollte, dass sich das „Etwas“, das der dritte Stand in der politischen Ordnung zu sein verlangte, zu jenem „Alles“ aufschwang, das zumindest Sieyès zufolge der dritte Stand im Grunde schon war: nämlich dem „Alles“ der „Nation“, die – mit Sieyès als politische Ökonomie der Erwirtschaftung und des Handels mit unterschiedlichen Reichtümern, der personenbezogenen Sorgeleistungen und der Ausfüllung öffentlicher Funktionen betrachtet[12] – keiner anderen „Stände“ bedarf. Doch genau genommen können wir nicht sagen, dass der „dritte Stand“ bereits die „Nation“ war, bevor es zu den Umwälzungen der Revolutionsjahre kam: Die Revolution wird die alte Ständeordnung über Bord werfen, es wird in der politischen Ordnung keinen „dritten Stand“ mehr geben, und eben darin wird sich das politische Leben der „Nation“ entfalten; die Bedingungen des Ereignisses ‚vor’ dem Ereignis sind nicht dieselben wie die Bedingungen ‚nach’ dem Ereignis, vielmehr ist das, was sie im Ereignis aktualisieren, zugleich eine Transformation ihrer selbst. Worauf wir bei Sieyès treffen, ist eine Antizipation, ein Schreiben im Horizont der aufziehenden Revolution, das im Grunde die folgende Logik entwirft: Wenn dem Verlangen des dritten Standes danach, etwas zu sein, nachgegeben sein wird, dann wird er alles sein, weil er im Grunde alles gewesen ist; doch er wird nur alles gewesen sein, indem er alles sein wird, nämlich die „Nation“, und indem die Leute sagen können werden: „ich, Angehöriger der Nation, Bürger“. Nun lässt sich ein Ereignis aber nicht vollständig antizipieren, auch wenn bestimmte Anzeichen – erinnern wir uns an Saramago – darauf hindeuten mögen, dass etwas, irgendetwas oder auch etwas mehr oder weniger (aber eben nicht gänzlich) Bestimmtes, geschehen wird. Und mag sich Sieyès’ Antizipation auch als eine von großer Triftigkeit herausgestellt haben (und sein Text daher heute als ein Klassiker der französischen Revolutionsliteratur gelten), so bedeutet dies doch nicht, dass sie eine verlässliche Auskunftsquelle über das ‚eine’ Ereignis abgibt. Denn Antizipation kann sie überhaupt nur sein, indem sie zunächst eine seiner Äußerungen ist, als solche ungefähr und vorläufig und, wenn auch vielleicht ex post als besonders ‚zutreffend’ erscheinend, vor allem nicht allein und noch weniger allein bleibend.
Im Zuge der revolutionären Umwälzungen wird 1789 eine „Déclaration des droits de l’homme et du citoyen“ („Erklärung über die Rechte des Menschen/Mannes und des Bürgers“) proklamiert, die die erkämpften neuen Rechte (politische Rechte, Eigentumsrechte usw.) Männern vorbehält? Olympe de Gouges schleudert dem 1791 entgegen:
„Absonderlich, verblendet, wissenschaftlich aufgeblasen und degeneriert will er [der Mann, SN] in diesem Jahrhundert der Aufklärung und des Scharfsinns in gröbster Unwissenheit als Despot über ein Geschlecht befehlen, das alle intellektuellen Fähigkeiten besitzt; er beabsichtigt, in den Genuss der Revolution zu kommen und seine Rechte auf Gleichheit einzufordern, um darüber hinaus nichts zu sagen.“[13]
Es ist die ökonomisch dominante Bourgeoisie, die sich als tonangebende Speerspitze der Revolution installiert, und man will dann auch noch wissen, wer denn eigentlich die Sansculotten sind, die keine knielangen Hosen [culottes] tragen, sondern knöchellange, die für die Arbeit geeigneter sind? Ein 1793 verfasster anonymer Text aus den Kreisen der Sansculotterie, in deren Namen sich u.a. Handwerker und kleine Gewerbetreibende zusammengeschlossen hatten, erteilt als Antwort auf diese „unverschämte“, „an Triftigkeit mangelnde“ Frage:
„Ein Sansculotte, Ihr Herren Schufte? Das ist einer, der immer zu Fuße geht, der keine Millionen besitzt, wie Ihr sie gerne hättet [.]. Er ist nützlich, denn er versteht ein Feld zu pflügen, zu schmieden, zu sägen, zu feilen, ein Dach zu decken, Schuhe zu machen und bis zum letzten Tropfen sein Blut für das Wohl der Republik zu vergießen.“[14]
Und wenn in solcher Antwort überdies darauf hingewiesen wird, ein Sansculotte habe „immer seinen Säbel blank, um allen Feinden der Revolution die Ohren abzuschneiden“, dann ist das längst nicht mehr nur an die aristokratischen, sondern in kaum geringerem Ausmaß auch an die bürgerlichen „Feinde der Revolution „ gerichtet.[15]
Sicherlich gibt es wichtige Unterschiede zwischen diesen beiden Einsprüchen, wie etwa, dass Olympe de Gouges’ „Déclaration des droits de la femme et de la citoyenne“ trotz der zeitgenössischen Existenz von „patriotischen Frauenclubs“ zunächst in einer verschwindend geringen Auflage von fünf Exemplaren erschien; wogegen die Pariser Sansculotterie (auch wenn der zitierte Text vor seiner Veröffentlichung beschlagnahmt wurde) in „Sektionen“ von erheblichem politischem Gewicht organisiert war. Oder auch, dass Olympe de Gouges die politische Subjektivität der Frauen der übergeordneten politischen Subjektivität der „Nation“ gleichsam als Ergänzung und Vervollständigung einzutragen versuchte (die „Nation“ sei „nichts anderes als die Vereinigung von Frau und Mann“, heißt es wortwörtlich in Artikel 3); während etwa die Sansculotten-Forderungen nach Eigentumsbegrenzung beinhalteten, dass so mancher vermeintliche Angehörige der Nation gar nicht als rechtmäßiger Teil von ihr gelten konnte (wie etwa Leute, die, ohne arbeiten zu müssen, von den Renten leben konnten, die ihr Eigentum abwarf). In mancherlei Hinsicht ließe sich auch sagen, dass Olympe de Gouges’ Deklaration ihrerseits eine Antizipation war, der in Frankreich allerdings – angereichert durch andere Ereignisse und Ereignisverkettungen, durch anders kontextualisierte historisch-politische Subjektivierungen – beispielsweise erst 1946 die institutionelle Verankerung eines Frauenwahlrechts korrespondieren sollte; während die Sansculotterie einen in den Revolutionsjahren und den Jahren der Terreur hochgradig wirksamen politisch-sozialen Antagonismus artikulierte, dessen ‚Ausgang’ indessen nicht nur zuungunsten der Sansculotten entschieden wurde, sondern in seiner Virulenz auch sehr bald durch den Antagonismus zwischen „Arbeiterklasse“ und „Bourgeoisie“ überholt werden sollte.
Im Zusammenhang des Ereignisgewimmels im Resonanzfeld dessen, was oft allzu sehr auf das ‚Kernereignis’ der Französischen Revolution abgeblendet wird, sollte überdies nicht die erste Revolution des 19. Jahrhunderts vergessen werden, die, gewendet gegen Kolonialismus und Sklavenwirtschaft, 1804 mit der Gründung von Haiti zur Entstehung des ersten freien Staates von Schwarzen führte. Entscheidend für unsere Frage ist in all diesen Fällen jedoch die Ereignishaftigkeit der politischen Subjektivierung, die zwar wohl ihre ‚objektiven’ Bedingungen kennt, aber aus diesen nicht vollständig erklärbar ist (bzw. diese selbst transformiert), und die zwar unterschiedliche Inkubations- und Virulenzzeiten kennen mag, dennoch aber eine Verschiebung der Artikulationsgefüge des Politischen anzeigt. Diese Subjektivierung bricht in einen historisch-politischen Zusammenhang ein, der nicht allein durch die Befestigung bestimmter Herrschaftspositionen und durch das Walten bestimmter Machtmechanismen gekennzeichnet ist, sondern auch – in unterschiedlichen Allianzen mit diesen – durch die „Zwänge“, „Notwendigkeiten“, „Unmöglichkeiten“, „natürlichen Gegebenheiten“ und „Kausalketten“, denen er vermeintlich oder tatsächlich unterliegt. Und was diese Subjektivierung daher zuallererst deutlich macht, ist, dass die Bereiche des Historischen und des Politischen gerade nicht auf Verhältnisse der Determinierung reduziert werden können, sondern vielmehr Verhältnisse des Ausdrucks oder der Äußerung sind, einer Äußerung, an der nicht allein das von Bedeutung ist, was in ihr ‚über’ die Welt ausgesagt wird, sondern nicht weniger das, was sich in ihr als verkörperter Weltbezug und differenzieller Selbstvollzug ‚in’ dieser Welt ausspricht. Ein neuer politischer Name, der aus einer solchen Subjektivierung hervorgehen mag, ist in diesem Sinn Äußerung eines Vollzugs in dieser Welt, der die Bedingungen, denen er unterliegt und die insofern geteilte Bedingungen sind, transformiert. Er drückt eine bestimmte Situation aus, doch als neuer Name überschreitet er sie zugleich, indem es nicht die Situation ist, die den Namen determiniert, sondern umgekehrt die in diesen investierte Subjektivierung, die jene Situation als Problem artikuliert.
‚Sans-Papiers’ ist ein solcher (relativ) neuer Name unserer Tage. Er verweist nicht zufällig auf eine politische Subjektivität, die sich in jene der „Nation“, von kurzen anfänglichen Regungen der Öffnung abgesehen, am allerwenigsten einschreiben ließ.[16] Er verweist insofern auf eine Inkubationszeit von langer Dauer und auf eine gegenwärtige Virulenz von größter Deutlichkeit. Er verweist zugleich auf eine Zurückweisung jener Namen, die die gegenwärtigen Bedingungen anstelle dieses Namens vorsehen und in denen sich die unerbittliche und politisch letztlich blinde Logik der Determinierung, nicht aber die Logik der Äußerung manifestiert: ‚Klandestine’, ‚Illegale’, ‚Fremde’, ‚Sozialschmarotzer’, ‚Kriminelle’ usw. Er verweist auf soziale Austausch- und Organisationsprozesse wie etwa diejenigen, die 1996 zur Besetzung der Saint-Bernard-Kirche in Paris geführt haben, die am Ausgangspunkt der gegenwärtigen Zirkulationen dieses Namens steht. Er verweist auf einen hochgradig prekären Kreuzungspunkt zwischen Dispositiven der Einbeziehung in gegenwärtige kapitalistische Formen der Produktion und Reproduktion (agrikulturelle und industrielle Produktion, Dienstleistungen, das weite Feld der ‚Sorgearbeit’) und des gleichzeitigen Ausschlusses von politischen und sozialen Rechten. Er verweist auf globale Produktions- und Machtverhältnisse, in denen die Zerstörung von Existenzgrundlagen auf der Tagesordnung steht, man aber darauf besteht, dass sich die Leute gefälligst „bei sich“ neue Existenzgrundlagen erfinden. Er verweist auf billige Tomaten in europäischen Supermärkten und auf billige ‚Hollandblumen’ in europäischen Blumenhandlungen, auf sexuelle Dienstleistungen und auf die Betreuung pflegebedürftiger Eltern und Großeltern. Er verweist auf all das – und doch auf noch mehr: nämlich eine neue politische Subjektivität, die auf all das nicht reduziert werden kann. Es wäre aus allen diesen Gründen unverschämt und an Triftigkeit mangelnd, wollte man darüber hinaus ganz genau wissen, wer denn Sans-Papiers „eigentlich sind“. Doch es ließe sich wohl auf das eine oder andere Ereignis wetten, das die Nation, die dieser Name herausfordert, eines Tages verschwinden lässt „wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“: „Ich, Sans-Papiers und …“?
[1] Vgl. Saramago, Jose: Das steinerne Floß, Reinbek bei Hamburg 1997.
[2] Badiou, Alain: „Entretien dans le journal Haaretz“, in: Ders.: Circonstances, 3. Portées du mot ‚juif’, Paris 2005, S. 87–100, hier S. 89.
[3] Meine Begriffswahl spielt hier natürlich auf Heideggers Denken der ontologischen Differenz an, das nach der sogenannten „Kehre“ Heideggers zu einem „seinsgeschichtlichen“ Ereignisdenken wird und das sich Badiou auf spezifische Weise anverwandelt.
[4] … was wohlgemerkt nicht heißen soll, dass Badiou personlich nicht die eine oder andere solcher Auseinandersetzungen dennoch führt.
[5] Vgl. Biale, David und Scholem, Gershom: „The Threat of Messianism: An Interview with Gershom Scholem“, in: The New York Review of Books, 1980, Nr. 13, S. 22.
[6] Vgl. Badiou: „Entretien dans le journal Haaretz“, in: Circonstances, 3, a.a.O., S. 89: „Das Schicksal Israels muss es sein, zu trennen, was es konstituiert. Der zionistische Staat muss zu dem werden, was er an Gerechtem und Neuem hatte. Er muss der am wenigsten ‚rassisch’, am wenigsten religios, am wenigsten nationalistisch bestimmte unter den Staaten werden. Der universellste von allen.“
[7] Derrida, Jacques: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen, übers. von Susanne Ludemann, Berlin 2003, S. 31. – Derrida spielt auf die etymologische Nähe zwischen invention (‚Erfindung’) und événement (‚Ereignis’) an, die auf die lateinischen Worter invenire bzw. evenire zuruckgehen.
[8] Ebd., S. 32.
[9] Vgl. z. B. die berüchtigte Rede, die der französische Präsident Nicolas Sarkozy am 26. Juli 2007 an der Cheikh-Anta-Diop-Universität in Dakar gehalten hat und die – aus dem europäischen 19. Jahrhundert rührende, etwa bei Hegel oder Victor Hugo anzutreffende Motive aufnehmend – das dortige Publikum darüber belehrte, dass „der afrikanische Mensch noch nicht ausreichend in die Geschichte eingetreten“ sei.
[10] Genauer gesprochen beziehen sich die Beispiele auf Passagen aus „Der Begriff des Archaismus in der Ethnologie“ (in: Strukturale Anthropologie I) und Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft von Claude Levi-Strauss, Überwachen und Strafen, Die Ordnung der Dinge und Der Wille zum Wissen von Michel Foucault sowie Anti-Ödipus von Gilles Deleuze und Félix Guattari.
[11] Sieyes, Emmanuel: Qu’est-ce que le tiers-état?, Paris 1988, S. 31f.
[12] Vgl. ebd., S. 33ff.
[13] Hier zit. nach Gouges, Olympe de: „Die Rechte der Frau. Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin“, http://olympe-de-gouges.info/Erklaerung-der-Rechte-der-Frau-und-Buergerin.htm (aufgerufen: 15. 2. 2011).
[14] „Antwort auf die unverschämte Frage: Was ist denn eigentlich ein Sansculotte?“ (o.V.), in: Markov, Walter und Soboul, Alain (Hg.): Die Sansculotten von Paris. Dokumente zur Geschichte der Volksbewegung, 1793–1794, Berlin 1957, S. 2–5.
[15] Zur Geschichte der Sansculotten vgl. Soboul, Alain: Französische Revolution und Volksbewegung: die Sansculotten, Frankfurt/M. 1978.
[16] Vgl. Wahnich, Sophie: L’impossible citoyen. L’étranger dans le discours de la Révolution française, Paris 1997.