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01 2011

Inventionen

Zur Aktualisierung poststrukturalistischer Theorie

Isabell Lorey, Roberto Nigro, Gerald Raunig

„Das Wesentliche einer Invention ist, die Verbindung von Kräften herzustellen,
die vor der Invention einander entgegengesetzt waren.
Die Invention ist eine Assoziation von Kräften, die sich an die Stelle einer
Opposition oder sterilen Gegenüberstellung der Kräfte setzt.“
Gabriel Tarde, L’opposition universelle


I.

Inventionen: Unter diesem Titel haben wir im März 2010 in der Zürcher Shedhalle eine Vortragsreihe begonnen und ein Jahr später eine neue Buchreihe im Verlag diaphanes initiiert. Nun folgt die multilinguale Ausgabe der Texte des ersten Jahres im eipcp-Webjournal transversal. Zunächst schließt der Titel Inventionen an die Interventionen an, jene erfolgreiche Vortrags- und Publikationsreihe, mit der Jörg Huber und seine KollegInnen seit den frühen 1990er Jahren den diskursiven Raum Zürichs mitgeprägt haben. Wir setzen uns also bewusst in eine genealogische Linie des Versuchs, lokale Theorie-Kompetenzen durch internationale Inputs zu erweitern, zu irritieren, zu rekontextualisieren. Was das Zürcher Institut für Theorie in den Jahren zwischen 1992 und 2005 so erfolgreich in Szene gesetzt und über die letzten Jahre auf vielfältigem Terrain immer wieder kontextualisiert hat, möchten wir aufs Neue und auf neue Weise instituieren.

Wir sehen unsere organisatorische, konzeptuelle und instituierende Praxis in dieser Genealogie der Interventionen, möchten aber dennoch auch den begrifflichen Unterschied herausarbeiten. Von den Interventionen zu den Inventionen, das scheint ein kleiner Schritt, ein kurzer Weg; und dennoch hat es die kleine begriffliche Differenz durchaus in sich: Während eine Intervention einen ‚Zwischen-Fall’ auf bekanntem Grund darstellt, betont die Invention das Vermögen der Neuerfindung. Während die Intervention einen Bruch hervorrufen will, fügt die Invention diesem Bruch die Dauer der Erfindungskraft hinzu. Während eine Intervention in vorhandenes Terrain einbricht, gründet die Invention ein neues Terrain. Das natürlich nicht einfach als creatio ex nihilo: Wie das hier als Motto an den Anfang gestellte Zitat von Gabriel Tarde klarstellt, ist die Invention eine „Assoziation von Kräften“, die sich wohl auch früher schon entwickelt haben, aber eben vorerst nur als Opposition, als Entgegensetzung, als sterile Gegenüberstellung. Die Invention ist in dieser Hinsicht als Verbindung von Kräften dem Dazwischen-Kommen der Intervention nicht unverwandt, doch die Betonung liegt hier auf dem Neubeginn. Es geht um mehr als um den Bruch mit Vorhandenem, es geht zugleich um die Erschaffung einer neuen Kräftekonstellation, einer neuen „Verbindung von Kräften“.

Wir wollen uns auch nicht ganz zufriedengeben mit der Vorstellung einer Reihe von internationalen Interventionen in bekannte Terrains des Zürcher Diskurses; es geht uns vielmehr um eine nachhaltige De-Lokalisierung der Diskurse, und zwar vor verschiedenen lokalen Hintergründen. Unterschiedliche Inventionen aus allen möglichen lokalen Kontexten – hier konkret aus Paris, Venedig, Berlin, Sydney, London, Frankfurt/M., Montreal, Wien, Sofia, Manchester und New York – möchten wir dabei in Austausch bringen, in der Absicht, damit eine Praxis der Vielstimmigkeit und der Translokalität zu ermöglichen. Vielleicht ist dabei auch unsere eigene Position zwischen Instituierung und Institution produktiv. Im Sinne eines uns nahe stehenden Autoren-Gefüges könnten wir sagen: Wir haben diese Reihe zu zweit, das Buch zu dritt und diesen Issue zu mehrt entwickelt. Da jede/r von uns mehrere war, ergab das schon eine ganze Menge. Um diese Mannigfaltigkeit nun zu einer veritablen Maschine auszubauen, bedarf es nicht einfach vieler lokaler Punkte, die in Zürich als Theory-Drop-Sculptures abgesetzt werden. Was wir erreichen wollen, ist ein translokaler Diskurs, eine translokale Praxis, eine translokale Maschine, in deren Werden die Zürcher Veranstaltungsreihe, die deutschsprachige Buchreihe und das mehrsprachige Webjournal jeweils eine spezifische Intensität, eine Verdichtung darstellen.

Zugleich ist mit dem Begriff der translokalen Maschine auch das hochgesteckte Ziel unserer Reihe genannt: Wir wollen beitragen zu einem ansteckenden Strom der Invention, der nicht von einer Vorstellung lokaler Verwurzelung als Quelle des Diskurses ausgeht. Der Titel Inventionen bezieht sich auch insofern auf ein Prinzip der Erfindung als Assoziation von Kräften, nämlich als Assoziation von Translokalität und lokalen Verdichtungen, als Ko-emergenz der Singularitäten und ihrer Verkettung. Und zugleich ist die Invention auch eine implizite Komponente jenes Theoriegefüges, das wir mit unserer Reihe aufs Neue befeuern wollen.


II.

Das wahrscheinlich einflussreichste Theoriegefüge des 20. Jahrhunderts ist in die Jahre gekommen: Entstanden im politischen Kontext und den sozialen Milieus der 1960er und 1970er Jahre, war es keine Schule, und seine ProtagonistInnen arbeiteten nicht notwendigerweise zu denselben theoretischen Fragen. Es war eine intellektuelle Hochkonjunktur, die tiefgehende Umformungen des Lebensstils und der Wissensformen, neue diskursive Ordnungen und soziale Praxen hervorbrachte. Die begriffliche Bezeichnung ‚Poststrukturalismus’ für dieses Gefüge von Wissensproduktion und Sozialität war schon immer eine zu homogene und daher problematische Bestimmung. Der Poststrukturalismus ist aber kein homogenes Denksystem. Mehr noch, er ist überhaupt kein System.

Der Begriff ‚Poststrukturalismus’ ist paradoxerweise zuerst in den englischsprachigen Ländern aufgetaucht, und zwar als Wort, das philosophische, literarische, politische und künstlerische Theorien bezeichnet, die insbesondere in Frankreich in den 1960er und 1970er Jahren entstanden sind. Das Wort ist also erstens eine Zuschreibung von außen; zweitens ist es interessant zu unterstreichen, dass keine/r der AkteurInnen dieser Bewegung, und auch keine/r von denjenigen, die, ob sie wollten oder nicht, das Etikett ‚PoststrukturalistInnen’ verpasst bekamen, wirklich genau wusste, um was es sich dabei handelte.

Der Poststrukturalismus ist also alles andere als eine Schule und schon gar nicht eine nationale Schule, er kann vielmehr als intellektuelle Hochkonjunktur beschrieben werden. Das Kennzeichen einer Konjunktur aber ist es, dass kein kausaler Determinismus, keine hierarchische Ordnung zwischen den Elementen hergestellt werden kann. Wenn wir heute die begriffliche Bezeichnung ‚Poststrukturalismus’ benutzen, wissen wir dennoch ungefähr, auf welche Konstellation des Denkens wir uns gerade beziehen. Dem Poststrukturalismus werden TheoretikerInnen wie Foucault, Deleuze, Guattari, Derrida, Spivak, Althusser, Lefort, Lyotard, Laclau, Mouffe, Barthes, Butler und viele mehr zugerechnet. Aber was bedeutet ein solches Amalgam von theoretischen Positionen? Was definiert die Grenzen, außerhalb derer eine Denkerfahrung nicht mehr als poststrukturalistisch bezeichnet werden kann?

Einer Beantwortung dieser Fragen wollen wir näherkommen, indem wir zunächst die Beziehung der beiden Begriffskomponenten untersuchen: Wie stehen der ‚Strukturalismus’ und sein Danach zueinander? Was hat das Präfix ‚post-’ hier genau zu bedeuten? Zunächst wohl einfach ein zeitliches Danach, das eine Kontinuität, vielleicht sogar eine Affirmation im Verhältnis zu den Theorieströmungen des Strukturalismus bedeuten könnte, soweit diese sich wenigstens im Nachhinein auf den Namen ‚Strukturalismus’ festlegen lassen. Doch so einfach lässt sich nicht einmal dieses ‚post-’ in ‚Poststrukturalismus’ festmachen. Wir sollten wohl immer ein wenig misstrauisch sein gegenüber linearen Denkschemata, gegenüber einer Repräsentation der französischen Philosophie, die in den 1960er Jahren strukturalistisch gewesen und dann post-strukturalistisch geworden wäre; gegenüber einem Denken, das zuerst hegelianisch und dann freudo-marxistisch gewesen wäre und schließlich Nietzsche entdeckt hätte.

Verpflichtet uns diese Vorsicht, nur negative Definitionen des Poststrukturalismus vorzuschlagen? Können wir nur sagen, dass er keine Schule ist, keine nationale Bewegung, kein neues Denksystem? Wenn die Invention der Versuch ist, die Verbindung von Kräften herzustellen, die Assoziation von Kräften zu entwickeln, gerät notwendigerweise auch die Frage in den Vordergrund, ob es möglich wäre, einen oder mehrere Konvergenzpunkte zwischen diesen theoretischen Kräften zu finden. Können wir davon ausgehen, dass es eine oder mehrere gemeinsame Fragestellungen zwischen den Leuten gibt, die als ‚PoststrukturalistInnen’ bezeichnet werden? Können wir formulieren, worin gewisse Konvergenzen des Poststrukturalismus bestehen?

Wir bejahen das. Einige dieser Kräfte können bestimmt werden, insofern sie ein neues Denkgefüge mit sich brachten und vielleicht immer wieder neue Assoziationen, neue Denkgefüge erzeugen. Aber wir wollen einen Umweg nehmen: Vielleicht wird die Antwort klarer ausfallen, wenn wir beschreiben, worin der Konvergenzpunkt des Strukturalismus lag. Es gibt einen gemeinsamen Punkt zwischen denen, die in den 1960er Jahren als ‚Strukturalisten’ bezeichnet worden sind und – mit Ausnahme von Lévi-Strauss – trotzdem keine waren, nämlich Althusser, Lacan und Foucault. Der gemeinsame Punkt lag in einem gewissen Nachdruck, die Frage des Subjekts neu und anders zu stellen, sich von dem Grundpostulat zu befreien, das die französische Philosophie – seit Descartes und verstärkt durch die Phänomenologie – niemals aufgegeben hatte.

Aus der Perspektive der Psychoanalyse warf Lacan das Problem auf, dass die Theorie des Unbewussten nicht mit der Theorie des Subjekts kompatibel ist. Die Linguistik und die Studien von Lévi-Strauss stellten dieser neuen Problemstellung neue Instrumente zur Verfügung. Die literarischen Arbeiten von Blanchot und Bataille formulierten eine Einladung, die Kategorie des Subjekts, seine Vormachtstellung, seine gründende Funktion in Frage zu stellen. Und Althusser forderte die Philosophie des Subjekts heraus, weil der französische Marxismus von Elementen der Phänomenologie und des Humanismus überdeckt war. Althussers Arbeit bestand in der Wiederaufnahme von Marx’ Analysen, allerdings in der Infragestellung von Konzepten der menschlichen Natur, des Subjekts, des entfremdeten Menschen.

Wir können also sagen, dass der Begriff ‚Strukturalismus’ auf einzelne TheoretikerInnen angewandt wurde, die völlig unterschiedliche Studien durchführten, aber ein gemeinsames Element bearbeiteten: Sie versuchten, Philosophien, Reflexionen und Analysen in Frage zu stellen, die wesentlich um das Primat des Subjekts angeordnet waren. Das betraf den Marxismus, der zu dieser Zeit auf den Begriff der ‚Entfremdung’ fixiert war, das betraf den phänomenologischen Existenzialismus, der auf die gelebte Erfahrung fokussierte, und das betraf auch jene Strömungen der Psychologie, die das Unbewusste zugunsten einer authentischen menschlichen Erfahrung verwarfen – einer Erfahrung des Selbst sozusagen.

Aber es gab noch einen etwas tiefer gehenden Hintergrund. Man begreift den Strukturalismus als französische Erfindung, als eine Debatte, die sich im Frankreich der 1960er Jahre entfaltete. Doch wenn wir eine Genealogie des Strukturalismus entwerfen, bemerken wir, dass der Strukturalismus keineswegs eine rein französische Erfindung war. Seine Spuren reichen zurück auf eine ganze Reihe von Untersuchungen, die in den 1920er Jahren in der Sowjetunion und Mitteleuropa durchgeführt wurden. Schon vor und während der Russischen Revolution von 1917 breitete sich der Strukturalismus (damals und dort allerdings unter anderem Namen) in so verschiedenen Feldern wie der Linguistik, der Mythologie oder der Folklore aus, die erst durch die große stalinistische Dampfwalze eingeebnet wurden. Erst dann verlor er sich in marginale Underground-Netzwerke in Frankreich. Der Strukturalismus war eines der großen kulturellen Opfer Stalins. Doch zugleich ließ er das Totengeläut für die traditionelle marxistische Lehre erklingen. Eine neue Linke, eine neue politische Konstellation musste geboren werden. Das war allerdings – wie auch Foucault bemerkte – nicht einfach.

Zunächst versuchte man, den Marxismus mit der Phänomenologie zu verheiraten. Und anschließend, und zwar gerade dadurch, dass sich eine bestimmte Form strukturalen Denkens, strukturaler Methode zu entwickeln begann, sah man, wie der Strukturalismus sich an die Stelle der Phänomenologie setzte, um mit dem Marxismus ein Paar zu bilden, daraus wurde ein Freudo-Strukturalo-Marxismus. Der funktionierte nicht sehr gut.

Der Poststrukturalismus entsteht in jenem Klima der Suchbewegungen, das durch entscheidende philosophische und politische Kämpfe und Entwicklungen geprägt war: von der Debatte um die Humanwissenschaften und den Strukturalismus, von der Entwicklung des nouveau roman und der filmischen Neuerung der nouvelle vague, von der Krise der alten Ideologien und von neuen politischen und existenziellen Experimenten – und vor allem: Wäre der Poststrukturalismus überhaupt möglich gewesen ohne 1968 und die Ereignisse, die auf 1968 folgten? Oder waren diese Bewegungen vielleicht sogar der Poststrukturalismus?

Jedenfalls gab es in dieser Konjunktur ein intellektuelles Ereignis, das wir doch hervorheben wollen. Es ist dies die französische Nietzsche-Renaissance, die die Ordnung des Denkens erschütterte, die Richtung der Politik- und Sozialwissenschaften und sogar die Form des politischen Aktivismus. Diese Nietzsche-Renaissance der 1960er und 1970er war ein Angelpunkt im Entstehen der poststrukturalistischen Konstellation. In den 1960er Jahren war Nietzsches Philosophie zentral für eine Abwendungsbewegung von der phänomenologischen Erfahrung. In den 1970er Jahren war sie entscheidend für eine Neuinterpretation der Werke von Karl Marx. Sie erlaubte die Ausarbeitung der Mikrophysik der Macht, die eine zentrale Rolle für die Interpretation des Widerstands, des Antagonismus, des Klassenkampfs spielte. Durch diese Genealogie konnten die Debatten um die Begriffe ‚Klasse’, ‚Rasse’, ‚Geschlecht’ und/oder ‚Sexualiät’ neu bestimmt werden.

Deleuze beschrieb die nietzscheanische Erfahrung als eine radikale, vor allem insofern, als sie einen Ausweg aus all den Formen der Bürokratisierung und Strukturalisierung in den dominanten Strömungen von Marxismus und Psychoanalyse zu finden vermochte. Nietzsches Philosophie kam als mächtige Maschine der De-Kodifizierung, De-Bürokratisierung und Transversalisierung gerade recht. Foucault, Deleuze, Guattari und viele andere nutzten sie auch dafür, Marx’ Theorien der Entfremdung für Untersuchungen darüber zu entwenden, auf welche Weise wir in unsere Geschichte eingeschlossen sind und wo sich mögliche Fluchtlinien entwickeln. Und es war natürlich auch die anti-akademische Funktion von Nietzsches Philosophie, die das elitäre akademische System in Frankreich erschüttern konnte. Die Wiedererfindung von Nietzsches Denkerfahrung erlaubte es, aus der dominanten akademischen Kultur auszubrechen, inhaltlich, stilistisch und in der Absicht, die Begriffsmaschinen mit den sozialen Maschinen zu verketten.

Damit lässt sich auch das Gegenteil der Nachfolgethese von Strukturalismus und Post-Strukturalismus behaupten: Der ‚Poststrukturalismus’ setzt sich grundlegend vom Strukturalismus ab, er setzt einen Bruch, eine Grenze, er könnte als Strukturalismus ohne Strukturen bezeichnet werden. Das ‚post-’ bekommt hier den Charakter – wenn schon nicht jenen einer Negation – einer Fluchtlinie aus bestimmten Festlegungen des Strukturalismus. Schon allein die zentrale Kategorie der Struktur und noch mehr ihr dichotomes Verhältnis zum Subjekt sind jene basalen Vorwegnahmen, die poststrukturalistische Positionen hinterfragen, von denen sie sich absetzen, denen sie sich entziehen.

Einerlei, wie man sich nun zu diesen Interpretationsversuchen stellt: Der Name ‚Poststrukturalismus’ hat mindestens zwei große Schwächen in Bezug auf das, was er bezeichnen soll: Erstens ist das Bezeichnete keinesfalls eine kohärente oder nur annähernd homogene ‚Schule’. Unter dem paradoxen Label ‚Poststrukturalismus’ wurden äußerst unterschiedliche Theorien auf den einen Begriff gebracht, die nicht in eins gesetzt werden können. Sie stellen sich nicht nur empirisch, sondern auch konzeptuell fast zum Bersten divers, vielfältig und widersprüchlich dar. Mit den Inventionen versuchen wir daher auch nicht ansatzweise, eine ‚Wahrheit’ des Poststrukturalismus zu etablieren. Unsere Aktualisierung des Poststrukturalismus hat wenig mit der Frage zu tun, was die PoststrukturalistInnen eigentlich gesagt haben. Unsere Frage hat vielmehr etwas mit der Kontextualisierung des Poststrukturalismus zu tun, und mit den Kampfplätzen, auf denen hier und jetzt Theorien entstehen.

Zweitens aber, und vielleicht noch wichtiger: Das Präfix ‚post-’ zeichnet sich selten durch besondere Aussagekraft aus, aber im Fall des Poststrukturalismus ist es grundlegend irreführend. Es geht hier gerade um die Nicht-Nachfolge, um die kontinuierliche Neu-Schaffung, um die creatio continua vor allem von Begriffen und Begriffsgefügen. Die hervorstechendste Eigenschaft der als ‚poststrukturalistisch’ etikettierten AutorInnen ist die Fülle ihrer Neuerungen, ihrer Erfindungen, ihrer Inventionen; sei es als Erfindung von Begriffen, wie Gilles Deleuze und Félix Guattari die Aufgabe der Philosophie umschreiben, sei es als Erfindung eines neuen Stils im virtuosen Umgang mit den verschiedensten Disziplinen wie etwa bei Michel Foucault, sei es als Entwicklung einer umfassenden Methode wie bei Jacques Derridas Dekonstruktion, sei es als theoretische Aufnahme und zugleich Befeuerung einer sozialen Bewegung wie in den so unterschiedlichen Fällen der italienischen Autonomia mit Antonio Negri, der Neuen Sozialen Bewegungen mit Ernesto Laclau und Chantal Mouffe oder des queeren Aktivismus mit Judith Butler.

 
III.

Einige der bedeutenden ProtagonistInnen des Poststrukturalismus sind heute nicht mehr am Leben. Umso leichter gelingt es auf sehr verschiedenen Ebenen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern, ihre Theoriebildung zu vereinnahmen, zu dekontextualisieren, zu entpolitisieren, nach Jahrzehnten der Hegung an den subkulturellen Rändern politisch zu zerreiben oder zum akademischen Mainstream zu verharmlosen.

Wenn wir im Folgenden vier dieser Felder in aller Kürze skizzieren, dann können wir uns keineswegs von deren problematischen Entwicklungen ausnehmen. Es scheint kein Außen in diesem vielfältigen Prozess der An- und Enteignung zu geben. Oft genug stehen wir vor den Scherben unserer Begriffsgefüge, oft genug entleeren sich unsere zentralen Begrifflichkeiten vor unseren Augen, im selben Moment, wenn wir sie in den Mund nehmen, noch während wir sie aussprechen. Und dennoch steht in jedem Neuformulieren etwas auf dem Spiel, ein Kampf um die Aktualisierung, die neue Kontextualisierung, die Repolitisierung der Begriffsmaschinen – und der sozialen Maschinen, die mit ihnen im Austausch stehen. Es macht einen Unterschied, ob wir um die Bedeutungszusammenhänge der Begriffe kämpfen, ob wir sie kampflos aufgeben oder ob wir sie willfährig in die Aneignungsapparate einspeisen. Und diese Aneignungsapparate sind vielfältig.

1. In den schnelllebigen Diskursterrains des Kunstfelds ist es ein gängiges Phänomen, dass die gerade neuesten Formen der Theoriebildung rasch angeeignet, möglichst rückstandslos und widerstandsfrei verdaut werden. Im Fall der poststrukturalistischen Strömungen entstand deren Attraktivität zunächst aus ihrer marginalen Position an den Rändern der Wissensproduktion. Vor allem aber versprachen sie in ihrem häufig nicht-akademischen Duktus, in ihrer oft poetisch anmutenden Sprache und experimentellen Form gerade im Kunstfeld über Jahrzehnte höchsten Gewinn an Aufmerksamkeit. So kam es, dass Theorie-Versatzstücke und aus dem Zusammenhang gerissene Zitate aus poststrukturalistischen Quellen einen noch immer strömenden Fluss von Bezugspunkten formten, die oft auf Unverständnis beruhten. Manchmal war das sogar produktiv.

2. Im Gegensatz dazu will die hegemoniale akademische Philosophie auch fünfzig Jahre nach deren Emergenz nicht viel mit diesen ‚neuen’ theoretischen Debatten zu tun haben, die zu fern von der akademischen Domestizierung und zu nah an den aktuellen gesellschaftlichen Veränderungen agieren. Die wichtigsten poststrukturalistischen Positionen wurden und werden zum großen Teil von den Kanons und Milieus der akademischen Philosophie ferngehalten. Die europäische Entwicklung scheint sich hier sogar noch weiter zuzuspitzen. Die dominanten Positionen bunkern sich ein, verstärken die Mauern ihrer disziplinären Burgen und instrumentalisieren die neoliberalen Reformen der universitären Institutionen zur Abschottung.

3. Vielleicht ist die Ignoranz der akademischen Philosophie einer der Gründe dafür, dass poststrukturalistische Philosophie eher in anderen wissenschaftlichen Disziplinen aufgenommen wurde, vor allem in den unterschiedlichen Kultur- und Kunstwissenschaften. In der Kunstgeschichte, den Literaturwissenschaften oder der Filmtheorie entstand eine erkleckliche Anzahl von kleinen universitären Inseln mit poststrukturalistischem Hintergrund. Oft sind deren angewandte Detailstudien aber auch Beispiele für das allgemeinere Problem der akademischen Rasterung und Dekontextualisierung: Im kleinteiligen Transfer in die kulturwissenschaftlichen Einzeldisziplinen verlieren die Theoreme häufig ihre transversalen Ansprüche, ihre Intensität und Explosivität.

4. Zuletzt sind die poststrukturalistischen Theorien auch ein umkämpftes Terrain, wenn es um den Austausch mit sozialen Bewegungen und mikropolitischen Praxen geht. Nach und neben einer an der populär-poststrukturalistischen Lektüre von Empire und Multitude geschulten ‚Generation’ der Globalisierungskritik scheint sich seit einiger Zeit auch eine Wiederkehr unterschiedlicher identitaristischer Positionen auf verschiedenen Ebenen zu ereignen, sowohl was bewegungsnahe Forschung betrifft als auch in den Bewegungen selbst.

Natürlich sind die hier umrissenen Problemfelder keineswegs homogen, und es gibt zahlreiche Ausnahmen von den beschriebenen Problemen. Dennoch: All die Effekte der Ignoranz, der Vereinnahmung und der Akademisierung sind Komponenten einer allgemeineren diskursiven ‚Aufstandsbekämpfung’, in der die Ausschweifungen einer ‚gefährlichen Theorie-Klasse’ möglichst unschädlich gemacht werden sollen.

Die Inventionen sollen dazu beitragen, diese ‚gefährliche Theorie-Klasse’ neu zusammenzusetzen. In diesem Rahmen soll die konkrete Vorstellung aktueller Positionen des Poststrukturalismus ebenso stattfinden wie im Ganzen der Versuch einer erneuten Zusammensetzung, Transversalisierung und Queerung seiner diskursiven wie aktivistischen Ströme; vor allem aus und in eben jenen Gefilden, in denen sie schon Jahrzehnte lang gedeihen: (queer-)feministische Praxis wie Theorie, kritische Kunst- und Wissensproduktion, kritische Migrationsforschung, Bestrebungen der Dekolonisierung und soziale Bewegungen. Wenn es hier dennoch auch um Philosophie geht, dann gerade nicht als Mittel der Bändigung, Bestimmung und Rasterung sozialer Antagonismen und der mit ihnen verbundenen Kämpfe, und schon gar nicht zur Formierung eines weiteren Netzwerks, das in die Arena akademischer Ab- und Aufwertung geschickt wird. Die Invention als kooperative Form der Erfindungskraft soll vielmehr dazu dienen, „die Verbindung von Kräften herzustellen, die vor der Invention einander entgegengesetzt waren“: eine Verbindung von Kräften, aus denen neue Ströme sich entwickeln, temporäre Überlappungen von diskursiven und sozialen Maschinen.

Eine solche Neuzusammensetzung wird schließlich auch neue Begrifflichkeiten erzeugen. Vielleicht wird auf diesem Weg auch das Label ‚Poststrukturalismus’, nie viel mehr als ein unmögliches Hilfskonstrukt, um ganz unterschiedliche theoretische Strömungen zusammenzufassen, nach Jahren zunehmender Aushöhlung und Entleerung gänzlich obsolet und durch ein neues Begriffsgefüge ersetzt. Die Inventionen sollen Anstöße dafür entwickeln, diese Begriffsmaschinen und ihre Assoziationen mit sozialen Maschinen möglich werden zu lassen.