05 2002
Reclaim the Streets! Globale Proteste und lokaler Raum
Wer sich die Aktivistenvideos von Seattle über Prag bis Göteborg und Salzburg angeschaut hat (bei der diesjährigen Diagonale in Graz bestand dazu Gelegenheit), wird immer wieder die gleichen Bilder in Erinnerung behalten: die tanzende Menge in Pink und Silber, Gestalten in schwarzer Tracht im Gefolge der ironisch-martialischen Infernal Noise Brigade, weiße Overalls, junge Gesichter im sonnenbeschienenen Demozug, bunte Transparente. Dann der Umschlag - Robocops marschieren auf, Müllcontainer werden zu Blockaden umfunktioniert, Prügelorgien. Nur selten erhält die Betrachterin einen Einblick in die Vorbereitungen für diese Großproteste, sei es vor Ort oder in den unterschiedlichen Szenen in den Städten Europas. Es entsteht der Eindruck einer Bewegung, deren Ausdrucksformen unabhängig von den spezifischen sozialen Strukturen ihrer Herkunftsregionen zwischen Nordamerika und Südspanien zu einer einheitlichen Protestkultur verschmolzen sind - einer Form, die vor der Szenerie des nordamerikanischen Seattle, der alten mitteleuropäischen Hauptstadt Prag und dem südlichen Genua gleichermaßen zum Einsatz kommen kann. Ausdruck eines globalisierten Aktivismus in einer globalisierten Welt, Ausdruck einer nomadischen Bewegung, die ohne Bindung an reale soziale Orte auskommt?
Die immer gleiche Bilderflut täuscht. Am Beispiel der Anfang der 90er Jahre in London entstandenen Aktionsform "Reclaim the Streets" lässt sich zeigen, wie eng eine weltweit erfolgreich eingesetzte Taktik zunächst an konkrete lokale Gegebenheiten gebunden war.
Das überall anwendbare Grundkonzept der Reclaim the Streets Party ist denkbar einfach: die zeitlich begrenzte Aneignung von öffentlichem Raum unter Einsatz von Körper, Kreativität und Musik - zu freundlich und fröhlich, um umstandslos eingekesselt und geräumt zu werden, gleichzeitig jedoch als Störung des Autoverkehrs und des Konsumentenalltags wirksam genug, um nicht wie beispielsweise die Berliner Love Parade in den Reigen der erlebnisgesellschaftlichen Kulturevents eingegliedert zu werden.
In London ist der Slogan "Reclaim the Streets" und die Kritik am Automobilverkehr in ein dichtes Gewebe aus sub- und volkskulturellen, politischen, ökonomischen und alltagskulturellen Konnotationen eingebettet: Vom Umweltprotest gegen Straßenbau zum Auto als Symbol urbaner Zumutungen, von der Subkultur der freien Parties zum Repressionsinstrument des Criminal Justice Act, von offiziellen Traditionen wie den Feierlichkeiten zum Krönungsjubiläum der Queen bis zum kollektiven Trauma des Frühkapitalismus und wieder zurück in den Alltag der gegenwärtigen Metropole.
Anfang der 90er Jahre begann in England die Umsetzung eines umfangreichen Straßenbauprogramms - und damit entstand in abgelegenen Landschaften eine Reihe von Protestcamps, deren Aktionsformen für Außenstehende manchmal seltsam anmuten: Man kreuzt auf, richtet sich ein Baumhaus ein und nimmt damit "Squatter's Rights" in Anspruch, gräbt Tunnel unter den Baustellen, kettet sich dort an Betonblöcke und wartet auf die Räumung [1]. Diese Camps konnten den Straßenbau bestenfalls verzögern, ihr Erfolg wurde oft am verursachten finanziellen Schaden (Räumungskosten, Kosten für beschädigte Maschinen oder "befreites" Baumaterial) gemessen. Nachhaltiger ist vielleicht ihre Wirkung als Experimentierfeld eines solidarischen Zusammenlebens und -agierens außerhalb des "Rat Race", der ständigen Jagd nach dem zum Überleben in der Stadt nötigen Cash. Mit der kreativen Besetzung der Baustelle für die mittlerweile eröffnete Zugangsstraße zur Autobahn M11 quer durch ein Wohngebiet im Nordosten Londons im Jahr 1993 zog der Protest vom Land in die Stadt. Damit rückten neben den ökologischen Anliegen die sozialen in den Vordergrund. In einer Verschmelzung von Kunst, Körper und Medientechnik gelang es einer Handvoll AktivistInnen, eine monatelange Dauerperformance in der durchgängig besetzten Claremont Road abzuhalten. Kunstobjekte wurden installiert und bei Bedarf zu Barrikaden umgebaut. Sofas, Sessel, und was sich sonst in den Wohnzimmern fand, wurden vom privaten Innenraum in die Öffentlichkeit der Straße gebracht. Selbst bei der unvermeidlichen Räumung im November 94 behielten die Besetzer symbolisch die Oberhand: 1300 Mann Riot Police tanzten auf der Bühne der Besetzerinnen, ein Theaterstück, das den Staat über 2 Mio £ kostete. Ein Aktivist erklärt: "Wir wussten die ganze Zeit, dass alles eines Tages in Trümmern liegen würde. Dieses Bewusstsein von Flüchtigkeit gab uns enorme Stärke - es war unmöglich zu unterliegen -, die Stärke, diese Temporäre Autonome Zone woanders wieder entstehen zu lassen." [2]
Tatsächlich gelang es Reclaim the Streets, die Aktionsform der Straßenbauproteste in ländlicher Umgebung an die Gegebenheiten der Metropole anzupassen, den Protest gegen die Umweltzerstörung durch Straßenbau unter Anknüpfung an Londoner Alltagserfahrungen in einen Protest gegen "das Auto" als Symbol der kapitalistischen Zurichtung des urbanen Lebens zu verwandeln.
Die Ökonomie Londons ist davon abhängig, dass Menschen stundenlange Autofahrten zum Arbeitsplatz in Kauf nehmen - und damit auch eine massive Einschränkung der Lebensqualität. [3] Die durchschnittliche Verkehrsgeschwindigkeit liegt in etwa bei der des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die berühmte Rush Hour findet permanent statt und der öffentliche Nahverkehr ist trotz der Bemühungen des Bürgermeisters Ken Livingstone überteuert und überaltert. Vor diesem Hintergrund gelang es, das Anliegen der unangemeldeten Straßenparties den bürgerlichen Medien und damit einer breiteren Öffentlichkeit plausibel zu machen.
Die Reclaim the Streets Parties in London nutzten eine ähnliche Choreographie wie die Free Parties [4] der Rave Communites seit den späten 80er Jahren: Die Parties waren nicht angemeldet; der Ort wurde erst im letzten Moment über eine unter der Hand zirkulierende Telefonnummer oder durch Flüsterpropaganda bekannt gegeben; die Party, ob in einem ausgedienten Lagerhaus im urbanen Brachland des englischen Nordens [5] oder in den belebten Straßen der Londoner Stadteile, konnte mit einem Schlag und zur völligen Überraschung eventuell anwesender Ordnungsschützer losbrechen. Was in dem hervorragenden Band "DiY-Culture" [6] über die radikalen Umweltschützer von Earth First! gesagt wird, trifft auch auf Reclaim the Streets zu: Straßenbaugegner werden Tierschützer, radeln bei Critical Mass mit, werden urbane Hausbesetzer, werden Raver "ad infinitum, einfach durch ihre Präsenz bei dieser speziellen Gelegenheit. (...) So ist es unmöglich, zum Beispiel über Earth First! und die Protestbewegung gegen Straßenbau zu reden, als wären sie voneinander getrennte Erscheinungen: Individuen bewegen sich durch beide Bewegungen hindurch, und in vielen Fällen würden sie sich nicht als Mitglied einer dieser Gruppen definieren" (Übers.d.A.).
Die nicht kommerziellen Raves mit ihrer hedonistischen Ideologie und ihrer Gegenläufigkeit zur kapitalistischen Profitlogik stellten offensichtlich eine massive Bedrohung der öffentlichen Ordnung dar. 1994 wurde das als "Criminal Justice Act" bekannt gewordene Gesetz eingeführt. Unter anderem erhielt damit die Polizei die Befugnis, Rave Parties aufzulösen. "Rave" wurde definiert als "gänzlich oder vorwiegend durch die Wiedergabe einer Abfolge von sich wiederholenden Beats gekennzeichnete Musik".
Der CJA wurde zur Räumung von unzähligen Parties, wie
auch der besetzten Claremont Road eingesetzt. Gleichzeitig
führte dieses Gesetz zur Politisierung der Raver Community
und zur Solidarisierung verschiedenster subkultureller
und politischer Szenen. Die Botschaft eines Rave DJ
an die Regierung: "Cheers, thanks a lot for bringing
us all together. We're a lot more networked now than
we ever were." [7].
Der von Reclaim the Streets 1997 ausgerufene "March
for Social Justice" wurde von der Rave Szene als
"bester illegaler Rave der Geschichte" [8]
und "eine der bemerkenswertesten Parties seit Castlemorton
1992" [9] gesehen.
Und im Juni 02, pünktlich zum 10jährigen Jubiläum dieser
denkwürdigen Party, wurde in Castlemorton trotz massivem
Polizeiaufgebot wieder geravt.
Neben den aktuellen politischen und kulturellen Konnotationen
bezieht sich Reclaim the Streets auch auf ein nationales
kollektives Gedächtnis, nicht nur im Verweis auf die
Aneignung von Volksfesten, wie sie etwa zum Regierungsjubiläum
der Queen veranstaltet werden.
Die Verwendung des Begriffs "enclosures" [10] im Sprachgebrauch von RTS verweist auf ein im kollektiven Unterbewußten des Vereinigten Königreichs latentes Trauma der ursprünglichen Akkumulation: Seit dem 16. Jahrhundert wurde das bis dahin dem 'common good', dem 'gemeinen Nutz' zugängliche Land zum Zweck der Schafzucht eingezäunt - enclosed. Mit dem entstehenden Kapitalismus war Textilproduktion profitabler geworden als Landwirtschaft. Das Land wurde ein- und damit die Menschen ausgeschlossen. Heute sind in der Logik von Reclaim the Streets die Straßen "enclosed". Was in einer mythischen Vergangenheit "the commons of the city" war, gemeinschaftlich nutzbarer Raum für Diskussion und Austausch innerhalb einer sozialen Gemeinschaft, ist heute dieser Nutzung entzogen. Waren früher die Schafe Anlass zur Privatisierung des Landes, so sind es heute die Autos, die den urbanen öffentlichen Raum der Nutzung durch die Bewohner entziehen.
Für denjenigen, der den konnotativen Text der Flugblätter zu lesen vermag, war damit der Protest gegen die Zumutungen des Autoverkehrs von Anfang an keine "Single Issue" Kampagne, sondern enthielt eine implizite Kapitalismuskritik, lange bevor Reclaim the Streets sich am 18. Juni 1999 im Rahmen des globalen Aktionstags in den Finanzzentren der Welt ausdrücklich als "antikapitalistisch" outete (und damit Medien und Polizei Anlass zu abenteuerlichen Spekulationen über angebliche terroristische Aktivitäten von Reclaim the Streets gab).
Es ist kein Zufall, dass Reclaim the Streets von Anfang an diesen antikapitalistischen Touch hatte - entstanden weniger aus der Lektüre des Kapitals, sondern aus den täglich erlebten Zumutungen einer durchkapitalisierten Metropole. Das Alltagsleben ist in London wahrscheinlich mehr als in jeder anderen europäischen Großstadt vom Kapitalismus durchdrungen: Wohnraum gilt nicht nur Investoren als Spekulationsobjekt. Für einen Kinobesuch gehen zwei Mindeststundenlöhne drauf - mit Fahrkarte ins Stadtzentrum sind es drei. Gemeindezentren, in denen Veranstaltungen für wenig Miete selbst organisiert werden könnten, wurden unter der Thatcher-Regierung weitgehend abgeschafft. Bleibt für bezahlbare (aktivistische) Geselligkeit die sich ständig verändernde Szene der offenen Squats, die selten länger als einige Monate existieren. Nicht nur die Treffpunkte sind ständig im Fluss, auch die Akteure wechseln - denn für viele ist London nur temporär ein Zuhause. Die Flüchtigkeit des Londoner Alltags spiegelt sich in der temporären, unangemeldeten Besetzung öffentlichen Raumes mit den Mitteln von Menge, Musik, Karneval und Tanz wider.
Die Aktionsform der Reclaim the Streets Party wurde in vielen Städten weltweit eingesetzt, verändert, an die jeweiligen Gegebenheiten angepasst. Viele der in Großbritannien allgemein bekannten Konnotationen werden in diesem Prozess unsichtbar, neue kommen hinzu. In London ist es um Reclaim the Streets seit der Repressionswelle im Gefolge des globalen Aktionstags am 18. Juni 1999 ruhiger geworden. Statt sich auf dem Ruhm vergangener Interventionen auszuruhen, und statt sich einer Kriminalisierung auszusetzen, konzentrieren sich die AkteurInnen auf andere Bereiche, gehen auf in neuen Gruppierungen und Zusammenhängen und passen ihre Artikulationsformen den gegenwärtigen politischen und sozialen Bedingungen an. Ein schönes Nebenprodukt dieser Praxis ist es, dass Reclaim the Streets sich treu geblieben ist: Eine Disorganisation, die keine SprecherInnen oder HeldInnen brauchen kann - aber: "We are Everywhere!"
[1] Vgl. Going Underground. Some Thoughts on Tunneling as a Tactic. In: Do or Die 8 (1999), S. 60-61
[2] John Jordan: The art of necessity: the subversive imagination of anti-road protest and Reclaim the Streets. In: . In: George McKay (Hg.): DiY Culture. Party & Protest in Nineties Britain. London 1998, S. 129-151, hier S. 139
[3] Vgl. dazu Patrick Field: The Anti-Roads Movement: the Struggle of Memory Against Forgetting. In: Tim Jordan/Adam Lent (Hg.): Storming the Millenium. London 1999, S. 68-79
[4] Vgl. Rupa Huq: the Right to Rave: Opposition to the Criminal Justice and Public Order Act 1994. In: Tim Jordan/Adam Lent (Hg.): Stoming the Millenium. London 1999, S. 15-33
[5] Drew Hemment: The Northern Warehouse Rave Parties. In: George McKay (Hg.): DiY Culture. Party & Protest in Nineties Britain. London 1998, S. 208-227
[6] George McKay (Hg.): DiY Culture. Party & Protest in Nineties Britain. London 1998, hier S. 159
[7] Rupa Huq: The Right to Rave, 1999, S. 24
[8] Mixmag 73, Juni 1997, S.101
[9] Muzik 25, Juni 1997, o.S.
[10] In einem frühen Flugblatt heißt es etwa: "Es geht darum, die Straßen als einen öffentlichen, inklusiven Raum zurückzuerobern und von der privaten, 'enclosed' Nutzung durch das Auto (zu befreien)"