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09 2010

Group Material: Abstraktion als Einbruch des Realen

Doug Ashford

Übersetzt von Birgit Mennel

Wie werden abstrakte Verständigungen und Bilder von der Welt zu Quellen für dringliche demokratische Angelegenheiten? Wenn etwas für die Praxis von Group Material stimmt, dann unsere Überzeugung, dass das Zeigen von Kunst ein politisches Ereignis ist; es geht darum, einen Raum herzustellen, in dem das, was es heißt, ein menschliches Subjekt zu sein, bestärkt und diskutiert wird.

 

Group Material
Democracy: Education. 1988
Dia Art Foundation, NYC


Diese Präsentation gibt mir die Gelegenheit, über zwei jüngere Anliegen meiner Arbeit zu sprechen: Zum einen bin ich mit dem Problem der Umgestaltung des Arsenals, das ein Archiv darstellt, beschäftigt – Julie Ault und ich bereiten in diesem Jahr die öffentliche Lagerung aller GM-Materialien für die Fales Collection der Bibliothek der New York University vor. Zum anderen hatte meine individuelle Praxis viele Jahre lang die Produktion diskreter und idealistischerweise souveräner Objekte zur Grundlage, eine Form des Betrachtens also, die scheinbar nicht zu Ausstellungen mit diskursivem Interesse passt.

Worüber ich heute hier sprechen möchte, ist die irrige Fehde zwischen dem Kunstschaffen als souveräner und autonomer Beschäftigung, die auf Affekten und Kontemplation beruht, auf der einen Seite – und Kunst als ethischem Weg, der auf eine Sozialkritik hinausläuft, auf der anderen Seite. Ich kann damit beginnen, dass Group Material den Gedanken dieser Dualität als eines unüberbrückbaren Gegensatzes kategorisch ablehnte. Wir bemühten uns immer, die Reibung im Blick zu behalten, die zwischen den Emotionen, welche die Kunst freisetzt, und ihrem Streben nach politischen Effekten als Freisetzen einer Energie, die multiple Visionen der Humanität veranlasst, entsteht. Wenn es zur deterministischen Anwendung entweder formaler oder aber sozialer Leitperspektiven der Kunsteinschätzung kommt, so droht ein kindliches ästhetisches Desaster. Die großen Verlockungen der instrumentellen Welt sozialer Gründe bringen Kunstwerke hervor, die frei sind von Spekulation und Assoziation. Das rigide Festhalten an künstlichen und von ihren Realitätsbezügen getrennten Formalismen bringt indes die poetische Bedeutung der Träume für das Handeln zum Versiegen. Alle diese Begrenzungen führen mehr oder weniger ins gleiche Dilemma: ein dekorierter oder dogmatischer Status Quo. Und dann vergessen wir, dass die epiphanische Erfahrung sowohl der Form wie auch des Diskurses Begegnungen damit möglich machen, was uns bisher nicht menschlich schien.

„Ich liebe meine Zeit.“ – Wann haben sie diesen Satz zuletzt gehört? Künstler sind heute in einer ganz anderen historischen Formation tätig als jene, in der Group Material seine Arbeiten produzierte. Obwohl das vorsätzliche ökonomische Desaster der Ausbreitung des Neoliberalismus unvermindert weiterzugehen scheint, dehnt sich die Fähigkeit der institutionellen Inklusion von Kunst paradoxerweise auf solche Stimmen aus, die den jüngsten politischen Verwüstungen immer kritischer gegenüberstehen. In unserer Zeit sieht sich die Sozialdemokratie zunehmend ihrer finanziellen Grundlagen beraubt und es kommt zugleich zu wachsenden ökonomischen Investitionen in kulturelles Kapital. Während das öffentliche Leben offiziell ausgelaugt wird, wird die soziale Wende in der Kunst mit erheblichem institutionellem Einsatz umarmt. New York war dieses Jahr voll von Museen, die Ausstellungen zu „Kunst und Demokratie“, relationalistischen Praxen, Community-Based Art und anderen zuvor anstößigen Traditionen zeigten, welche die Kunst mit dem Leben verschwimmen lassen. Es ist auf traurige Weise interessant, dass in unserer Zeit ökonomische Privatisierung und kulturelle Demokratie unter ein und demselben ethischen Banner subsumierbar sind. In diesem Zusammenhang scheint mir die Frage „Warum gerade jetzt?“ wichtig zu sein. Welchen Nutzen verschaffen soziale Praxen in der Kunst dem Status quo in einer Zeit politischer Beschränktheit? Diese Frage geht uns als KünstlerInnen, unsere Institutionen und unser Publikum an. Mein Kollege Felix sagte immer, dass in der Kultur nichts ohne Grund geschieht – und ich möchte wissen, warum das Verhältnis von Politik und Kunst gerade jetzt so breite Akzeptanz erfährt und wer ein Interesse daran hat, dass uns das Museum mehr bedeutet als ein poetisches Depot, dass wir es in der Tat als einen ethischen Raum begreifen, einen Raum, der nicht nur ästhetische Entscheidungen, sondern die Tugend selbst verändern kann.

Die Frage „Warum gerade jetzt?“ beschäftigt mich insbesondere an dem Punkt, an dem es um die Archivierung der Arbeiten von Group Material geht, da die Erforschung der sozialen Tugend in der künstlerischen Erfindung ein Schlüssel zu unserem anfänglichen Projekt war: durch die Veränderung der sozialen Bedingungen, denen Kunstwerke unterliegen, konnte der Einfluss, den sie auf die Subjektivität haben, wiederentdeckt werden. Obwohl ich dies immer noch für einen schönen Vorschlag halte, scheint das Wesen der Zeit nach einer neuerlichen Verteidigung seiner Grundlage zu verlangen. Unsere Bemühungen zielten auf ein unmittelbares institutionskritisches Engagement, und zwar durch eine Umgestaltung des Präsentationskontexts, in dem existierende Kunst gezeigt wird: eine Frage nach den Genealogien der Werte, welche die Kunst schafft, wenn sie ausgestellt und angepriesen wird, eine Frage des Kuratorischen und danach, was es hervorzubringen vermag. Doch es handelte sich um eine Frage, die aus der Kunst und künstlerischen Problemen herrührte – aus dem formalen, symbolischen und dynamischen Überdenken der visuellen Sprache. In anderen Worten, als wir fragten, was sich verändern könnte, wenn der Ausstellungskontext in ein Forum von Verschiebungen und Dialog verwandelt wird – da forderten wir, dass die durch die Kunst herbeigeführte Wiederentdeckung des Selbst durch Fremdartigkeit und Nebeneinanderstellung auf einen ganzen Raum, ein ganzes Verhältnis sowie ein Set von Gewohnheiten und Traditionen angewendet werden möge.

Diese Frage „Warum gerade jetzt“ affiziert auch mein Denken, da ich in jüngster Zeit einige Anstrengungen dahingehend unternommen habe, die Paradigmen der dialogischen Kunst und Politik in einer breiteren Diskussion zu verorten, indem ich tatsächliche Gespräche zwischen KulturproduzentInnen organisierte, was mir eine Möglichkeit schien, unabhängigere Konzeptionen der Kunstproduktion für mich und meine StudentInnen zu erschließen, und zwar mit einem Projekt mit dem Titel „Who Cares“, das 2006 für Creative Time produziert wurde. In jenem Projekt erwies sich das Scheitern der Aussöhnung zwischen formalen und politischen Praxen öffentlicher Kunst als eine unhaltbare Realität im Hinblick darauf, die Generosität der Kunst auf die Politik anzuwenden.

Aber ich möchte hier und jetzt dieser Frage nach der gegenwärtigen ethischen Wende in der Kunst über eine Geschichte der Arbeit von Group Material nachspüren: zuerst durch eine Durchsicht meiner eigenen Quellen für Ausstellungspraxen und dann in einem detaillierten Durchgang durch das Projekt „Democracy“ – das Julie Ault, Felix Gonzalez-Torrez und ich im Jahr 1988 für die Dia Art Foundation, das heutige Dia Center, produzierten. Im Vergleich mit gegenwärtigen Arbeiten könnte uns dies möglicherweise dabei helfen, über die verblüffenden Veränderungen nachzudenken, die sich einstellen, wenn Ethik zu einem Bestandteil der Arbeitsweise von Museen wird. Solch eine Reflexion wird hier vielleicht besser durch diejenigen repräsentiert, die aktiver an der sozialen Wende partizipieren als ich – daher möchte ich mich im Voraus für etwaige falsche Vorstellungen und Fehllektüren der Gegenwart von meiner Seite entschuldigen.

 

Bernard le Bovier de Fontenelle
Dialoge über die Mehrheit der Welten. (frontispiece) 1683


Das Bild, das wir in diesem Vortrag bis jetzt sahen, ist Bernard le Bovier de Fonelles Titelbild für sein Buch Conversations on the Plurality of Worlds aus dem 17. Jahrhundert – ein Buch mit fiktiven Unterhaltungen über die wissenschaftlichen Entdeckungen jener Zeit, über ihren Nutzen und ihre Vorteile. Ich möchte es als eine Art Metapher präsentieren für die Vorstellung, dass die von uns hier diskutierte „soziale Wende“ zugleich sehr alt und sehr kosmologisch – oder vielleicht metaphysisch – ist. Es wurde für ein Buch aus dem 17. Jahrhundert gemacht, das denselben Titel trägt und das dazu anregte, den menschlichen Dialog als eine Einflussnahme auf das Wesen des Universums zu verstehen: ein Vorschlag, der darauf hinausläuft, dass unsere sozialen Interaktionen die Beschaffenheit der Welt tatsächlich verändern. Ich fand das Bild vor kurzem anlässlich einer Recherche zur Frage, wie es dazu kam, dass ideale, abstrakte Verständigungen und Bilder der Welt als Teil des Ursprungs der modernen demokratischen Formation verstanden werden konnten.

Group Material wurde ins Leben gerufen, weil uns als KünstlerInnen die Verzweiflung plagte. Wir verzweifelten an der Idee, dass unsere Arbeit nicht gezeigt werden würde oder dass sie, wenn man sie zeigte, nur als Ware betrachtet werden würde. Uns graute davor, dass die Komplexitäten unserer Subjektivitäten in dieser Welt nicht aufgezeichnet werden würden, und wenn doch, dass man sie nicht verstehen würde. Group Material war so gesehen eine Zusammenarbeit aus Notwendigkeit, aus Geld und einem gemieteten Raum, in der Tradition, einen Raum zu schaffen – ein Zimmer für sich allein, eine Galerie.

Wir dachten, dass die wahre Komplexität künstlerischer Erfahrung sowohl von der engstirnigen Gelehrsamkeit der bestehenden Museumsstudien als auch vom kommodifizierten Geschmack innerhalb des existierenden Rahmenwerks der Kunstrezeption übersehen wurde. Wir dachten, dass dieser doppelten Abwertung in Bezug auf die soziale Wirkung der Kunst mit einer geplanten Intervention begegnet werden könnte, die sich einer Menge von Aktivitäten bediente, welche durch die Zusammenarbeit von KünstlerInnen und neuen Öffentlichkeiten zustande gebracht wurden. Das war nicht unsere Erfindung. Wir entdeckten sie im Kunstschaffen, das vor uns existierte, bei Courbet, Majakowski, Clifford Still und James Brown, bei Wallace Stevens und Paolo Freire, bei Michael Asher sowie Charles und Ray Eames.

Zu dieser Zeit gingen mir noch andere historische Erfahrungen durch den Kopf – und sie tun es noch:

 

Pietro Antonio Martini
Der Pariser Salon von 1787. (Stich)

Das Erste ist, dass die privaten Träumereien der Erfahrung, die durch das Wunderkabinett produziert wurden, nicht verloren gingen, als sie mit dem öffentlichen Ort der Kunstsammlung – dem Salon, dem Anti-Salon usw. – konfrontiert wurden. Ich würde darauf bestehen, dass uns als KünstlerInnen, ja sogar als Menschen, unsere Träume in unserer Arbeit verfolgen, wenn wir uns aus dem Schlafzimmer ins Studio und in demokratische Foren und wieder zurück bewegen. Die Vorstellung, dass eine visuelle Erfahrung ein Zusammentreffen mit etwas Unbekanntem produzieren kann, lässt sich mit allen Orten, die wir in Anspruch nehmen, vereinbaren. Haben Sie dasselbe Ding gesehen, das ich gerade sah? Was ich hier zeige, sind Bilder der Entwicklung des öffentlichen Zur-Schau-Stellens von der Wunderkammer zu den Salons des nachrevolutionären Paris; doch die Vorstellung, dass die Wunderenergie uns gleichzeitig im Öffentlichen und im Privaten trifft, ist immer noch eine Art Mysterium.

 

Aby Warburg
Der Bilderatlas Mnemosyne. 1929


Zweitens möchte ich die assoziativen modernistischen Historizismen verstehen, die jene Bilder an den Tag legen: Sowohl „Das imaginäre Museum“ von André Malraux als auch Aby Warburgs „Erinnerungsatlas“ sind in meiner Vorstellung kreative Kartographien, die uns autonome Missdeutungen des existierenden Protokolls verfügbar machen. Ich verwende jenes Wort im Wissen um seinen negativen etymologischen Schatten und es ist, wenn Sie mir dies erlauben, meine Erfindung, dieses Wort hier als einen Begriff der Generosität ins Treffen zu führen: es geht darum, die Bedeutungskategorien zu sehen, die in einer anderen oder inhärent „falschen“ Art und Weise existieren. Ich verwende diesen Begriff, um anzudeuten, dass es in jeder akzeptierten Methode der Sammlung und Verbreitung von Kunst mögliche Widerstandsereignisse gibt – also Weisen, etwas anders zu lesen und anders zu tun, die die funktionalistische Aneignung der Kunst durch herrschende Denk- und Austauschökonomien durcheinanderbringen könnten.

 

Burnett, R.Will
Zoology, The Golden Guide.  (Abbildung)


Um ein anderes Beispiel für die mögliche Generosität der Missdeutung vorzubringen, möchte ich, dass wir uns die Tradition der auf die Naturgeschichte bezogenen Taxonomie als eine Kaskade von Fiktionen vorstellen. Was, wenn die Kategorisierung dessen, was als menschlich definiert wurde, aufgebrochen und erweitert werden würde? In gewissem Sinne ist die Störung und Unterbrechung den ursprünglichen Forschungskategorien immer schon eingeschrieben. Sogar Linné mit seinem angedeuteten Baum von Tierkategorien, den Sie hier sehen, musste zugeben, dass man nicht alle Differenzen und Ähnlichkeiten, welche die Natur zeigt, berücksichtigen kann. Es geht um mehr, als wir jemals in einem Diagramm darstellen können.

Solch eine Störung, die der Kunst innewohnt, verlangt danach, dass wir uns auf Abweichungen oder Fehltritte einlassen – dass wir existierende Definitionen und Subjektivitäten zum Einsturz bringen, damit wir neu erfinden können, wer wir sind und was unsere „Natur“ ist. Die Störung in einen Plan mit einzubeziehen verlangt, dass wir die Fähigkeit bewahren, das Scheitern der Annahmen dieses Plans zu akzeptieren sowie existierende Definitionen und Themen zu demontieren, um das Leben unabhängig von der bestehenden rhetorischen Organisation zu erfassen. Kann die Definition des Menschlichen durch die künstlerische Arbeit zerpflückt und in eine andere Art von Unternehmung verwandelt werden, die im Geheimen oder auch öffentlich als Zusammenarbeit definiert wird? Ich würde das Soziale in der Kunst gerne als Andeutung eines Bathos verstehen, fußend auf einer Ästhetik des Fallens, der Kapitulation und der Verwirrung – wie hier im Bild dieses magischen Kunstwerks mit dem Titel „Trebuchet“ beispielhaft deutlich gemacht. Es ist die Falle, die eine BesucherIn dazu zwingt, die Kontrolle zu verlieren und nach einigen Schritten in Marcel Duchamps Studio hinein zu stürzen.

 

Marcel DuChamp
Trébuchet.
Photo von Henri Pierre Roche, c. 1916-1918


Ich möchte diese historischen Beispiele als mögliche Sinnhorizonte postulieren, aufgelesen in der Vergangenheit und der gegenwärtigen Verständigung über die Arbeit von Group Material hinzugefügt. Ich werde mich nunmehr durch eine kurze Geschichte unserer Projekte durcharbeiten, um so jenes größere Thema einzuleiten, das die Frage betrifft, wie sich die soziale Praxis in Museen verändert hat.

 

Group Material
The People’s Choice (Arroz con Mango). 1981


Group Material begann als Werkzeug, das einer doppelten Zusammenarbeit diente – als Kollektiv von KünstlerInnen und gleichzeitig als Agent der Sammlung von künstlerischen Beispielen. Ein Missverständnis in Bezug auf die Arbeit von Group Material ist, dass wir uns auf Bewegungspolitik stützten. Ich halte dies für eine Fehlinterpretation. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir durch unsere Arbeit andere ermächtigen wollten – doch wir wussten sehr wohl um den umfassenden Antagonismus, der all unseren Interaktionen eingeschrieben war. Die Ausstellung „The People’s Choice“ basierte auf der Idee, dass jene Objekte, die unseren FreundInnen und NachbarInnen auswählten, ein alternatives Erfahrungsarchiv der Kunst produzieren würden, eine aus dem Glauben anderer hergeleitete Erfahrung – derer, die nicht im Raum waren. Auf welche Weise beschäftigt uns heute die Vorstellung einer Begegnung mit Arbeitsverfahren, die nicht gegenwärtig sind und unbemerkt bleiben?

 

Group Material
Timeline: A Chronicle of US Intervention in Central and South America. 1984
PS1, NYC.


Group Material betrachtete das Museum als eine Stätte bereits existierender sozialer Einflussmöglichkeiten; eine Politik in sich selbst und auch eine Politik anderer. Die reduktionistische Vorstellung von Institutionen, die zur Unterwerfung bestimmen, so wie eine IngenieurIn mechanische Formen bestimmt, war sicherlich unbrauchbar. Wir wollten neue Öffentlichkeiten mit konkreten politischen Beschreibungen ansprechen – aber mittels einer Form, die die akzeptierten künstlerischen und aktivistischen Positionen gleichermaßen unterlaufen würde. Das Projekt „Timeline of US Interventions in Central America“ schuf eine Chronik der 88 physischen Militärinterventionen in Zentral- und Südamerika durch das US-Militär zwischen 1893 und 1984, dem Jahr dieser Ausstellung. Aber die Schau war auch ein Versuch über das Verkennen der Kunst im Lauf der Zeit – mit einem Stillleben von Diego Rivera, das auf die Gegenwart, und einem John Heartfield, der auf das 19. Jahrhundert bezogen war. Die Geschichte selbst zu verkennen war ein integraler Bestandteil unseres Beharrens auf der Erneuerung künstlerischer Werte. „Timeline“ war Teil einer größeren kollektiven Bemühung in New York und im ganzen Land – Artists Call Against US Intervention in Central America –, in deren Rahmen KünstlerInnen etwa 30 Galerien und Museumsausstellungen in New York bespielten und viele Straßenaktionen durchführten – um fast $ 140.000 einzunehmen, die dem kulturellen Arm der Sandinistas, der FMLN und Solidaritätsgruppen in den Vereinigten Staaten übergeben wurden.

 

Group Material
Subculture. (Anzeigen in den Zügen der IRT U-Bahn)
NYC, 1983


Die öffentlichen Räume der Stadt waren damals nicht mehr und nicht weniger Orte für kollektive Neuimaginationen als die Galerie. Es trifft jedoch zu, dass die Öffentlichkeitskultur 1984 als offener erschienen sein mag für Neuerfindungen, die sich der hierarchischen Erwartungen entledigten, welche mit geschlossenen Archiven und Sammlungen einhergehen. In diesem Projekt lieferte Group Material eher zu, als selbst künstlerische Gruppenanordnungen zu gestalten. Das Projekt „Subculture“ bestand aus 2700 Plakaten, produziert von 100 KünstlerInnen, die die für Werbung gedachten Räume in der U-Bahn-Linie von IRT periodisch füllten. Obwohl es viele Umlenkungen von Verkaufssprachen gab, die für dieses Projekt produziert wurden, war die Präsenz eines echten Gemäldes, auf dem eine Frau aus einem brennenden Haus rennt, doch ein bemerkenswerter Fall – dieses Gemälde anstelle einer gedruckten Werbung zu sehen war eine Verschiebung, die radikal genug war, um Verstörung zu erzeugen.

 

Group Material
DA ZI BAOS. 1982
Union Square, NYC


Wir betrachteten die Straße und das Museum als potenzielle Stätten eines intensivierten Dialogs über das Wesen des geeigneten Ortes für Epiphanie und Handlung, als Orte, an denen Dissens und Konflikt geplant und das Aufeinanderprallen von öffentlich und privat neu verhandelt werden konnte. Das Plakatprojekt „Dazibaos“ war eine Nachbildung der großen Wandzeitung, die während der „Mauer der Demokratie“-Bewegung in China aufgehängt wurde – die Landschaft sozialer Reflexion, in der der Streit eine Grundlage der Demokratie sein kann.

Wir versuchten diesen intensivierten Dialog als etwas zu verstehen, das in der Betrachtung von Kunstobjekten selbst stattfindet, etwas, das aus dem Gefühl der Dezentriertheit herrührt, die entsteht, wenn man den Objekten eine Macht oder Aura zugesteht, woraus sich der Dialog der Anerkennung dieser Macht und ihrer sozialen Implikationen ergibt. Der Poetik entspringt das Gespräch und die kollektive Dezentrierung; diese Suche nach Auflösung kann dann Politik formen.

Zu diesem Zweck wurden Artefakte und Kunst nebeneinander aufgehängt, das Archiv und die Sammlung aufgesprengt, die Demarkationslinien der kommerziellen Galerie durch den Salon überwunden, sodass eine emotionale Inszenierung der Gefühle, die der politischen Arbeit inhärent sind, möglich wurde.

 

Group Material
AIDS Timeline  (New York City:1991)
Whitney Bienial, 1991


„AIDS Timeline“ ist vielleicht unser flüssigstes Beispiel dafür, hier wurden eine Zeitung und ein Infektionsbericht, ein „AIDS-Profiteure“-Sticker und ein ungegenständliches Gemälde zusammen aufgehängt. Unser Ziel war die Kombination von Gestalterischem und Emotionalem, der Vergleich der Budgets für B-2-Bomber mit dem Text von „It’s Raining Men“ war eine Möglichkeit des Widerstands, der in der Abstraktion liegt, im emotionalen Verhältnis zu einer Geschichte, die wir in ihrem Vollzug erfahren. Wir versuchten, das Ästhetische und das Politische zusammenzudenken, geformt innerhalb des Zusammenhangs der Kunst sowie ihrer möglichen Welt von Vorschlägen und Antworten und Vorschlägen – eine Vervielfältigung von Möglichkeiten.

 

Group Material
Democracy: Education. 1988
Dia Art Foundation, NYC


Im Durchgang durch diese Beispiele wurde hoffentlich deutlich, dass im Zuge des Reifungsprozesses der Arbeit von Group Material die Notwendigkeit immer offensichtlicher wurde, eine Form zu erfinden, um der Bewusstlosigkeit der Gegenwart zu begegnen: eine Visualisierung des demokratischen Prozesses. Wie sonst konnte eine authentische Antwort auf das dem gegenwärtigen Leben aufgezwungene Desaster gefunden werden? Als KünstlerInnen wussten wir, dass Formen der Antwort auf der Straße und auf den Symposien oftmals schön waren – dass kollektiv-vielfältige Deklarationen des Demokratischen alle Qualitäten der Improvisation, des Vergleichs, der Proportion, der Abwesenheit und der Substitution aufweisen. Trotz der Fülle von kritischen Traktaten, die zu dieser Zeit zu Raumpolitiken produziert wurden, waren die von Group Material entwickelten Praxen kaum Gegenstand von Theoretisierungen, sie legten sich vielmehr nahe aufgrund der Gebote des tagtäglichen Kampfes um Leben und Tod: ob es dabei um die Formierung der mittelamerikanischen Unabhängigkeitsbewegung im Angesicht des von den USA protegierten Genozids ging oder um die aktivistische Antwort auf die offizielle Indifferenz gegenüber der AIDS-Epidemie. In anderen Worten, die Form unseres Kunstschaffens resultierte aus unserer Verbundenheit mit Formen politischer Arbeit, in die wir involviert waren: als ArbeiterInnen, als OrganisatorInnen von Arbeit, als LehrerInnen an öffentlichen Schulen, als FreundInnen. Unsere Formen des Ausstellens und der öffentlichen Praxis spiegelten das Bedürfnis, eine dynamische Situation zu erfinden, einen planvoll entworfenen Moment des Nachdenkens, der Diskussionen einschloss und Dissens sichtbar machte.

1987 durchlief die Dia Art Foundation, das jetzige Dia Center eine Art Reorganisierung und trachtete, nicht selbstlos vielleicht, nach einem fruchtbaren Ausstellungsjahr, das zu seiner neuen Leitung passen sollte. Zu diesem Zweck luden sie Group Material dazu ein, den Wooster Street Space zu übernehmen und dort ein halbes Jahr lang Arbeiten zu produzieren.

 

Group Material
Democracy: AIDS and Democracy: A Case Study. 1988
Dia Art Foundation, NYC


Das Projekt „Democracy“ selbst war eigentlich eine vierteilige Serie von Praxen: private Treffen, Ausstellungen, öffentliche Versammlungen und schließlich ein Buch, das Aufzeichnungen zu den von uns organisierten Veranstaltungen sowie eine Reihe von Texten, die ihnen zugrunde lagen, beinhaltete. „Democracy“ war unser Thema, denn sie war bereits unsere Form, die Ausstellung basierte also nicht darauf, eine These zu entwickeln und diese dann zu propagieren. Die Form, mit der wir arbeiteten, kann in Analogie zum leeren Raum verstanden werden, der sich physisch in eine stotternde Abfolge von Einschluss, Dissens und Streit verwandelte: eine Stätte fortwährend sich verändernder Repräsentationen des menschlichen Willens, wie ungewiss oder unbeachtet dieser auch sein mag. Die Ungewissheit in den Vordergrund zu rücken ging für mich mit anderen ästhetischen Geschichten, vielleicht sogar theologischen Geschichten einher, welche es erlaubten, die Tugend in einer anderen Person oder einem anderen Ding, die oder das noch nicht bekannt ist, neu zu positionieren. Vielleicht kann das ästhetische Wissen so der Anfang einer Dezentrierung des Selbst sein, wie sie die emanzipatorischen sozialen Bewegungen angesichts geteilter Entfremdungserfahrungen vorschlagen. Vielleicht ist dies Teil des politischen Wesens emotionaler Neuausrichtungen, die wir in der Arbeit der Kunst möglicherweise erfahren oder teilen – keine sehr neue Idee, wie ich annehme.

In Bezug auf das Projekt „Democracy“ bestand unser erster Gedanke darin, mit der Idee einer einmaligen kuratorischen Auswahl aufzuräumen, die Objektliste wegzuwerfen, über die Metapher hinauszugehen und stattdessen ein Publikum zu involvieren, das tatsächlich Gegenstände in die Galerie hinein- und hinausschaffen würde, und zwar als Reaktion auf die politische Realität des Tages, der Woche oder des Monats: eine Ausstellung, die sich mit den Leuten verändern würde, die sie besichtigen kamen. Es wurde rasch deutlich, dass solche Liberalisierungen unwahrscheinlich waren, wenn es darum ging, eine schwarze Tafel von Joseph Beuys in den Ausstellungsraum hinein- und wieder hinauszubringen.

 

Group Material
Democracy: Education. 1988
Dia Art Foundation, NYC


Stattdessen entschieden wir uns also für einen essayistischen Umgang mit Demokratie, indem wir vier aufeinander bezogene thematische Erfahrungen skizzierten, die drei der großen abstrakten Versprechungen der USA sowie ihrem Versagen in Bezug auf Demokratie nachspürten und in eine als Fallstudie angelegte Ausstellung münden sollten – eine Fallstudie zum schwerwiegendsten Versagen, das wir zu dieser Zeit erlebten: der Erzeugung der AIDS-Krise, die der Gleichgültigkeit von Regierung, Medien und Medizin geschuldet war. Vier grundlegende Fehler der US-amerikanischen Demokratie wurden ausgewählt: „Erziehung“, „Politik und Wahlen“, „Kulturelle Partizipation“ sowie „AIDS, eine Fallstudie“. Diese vier Ausstellungen wurden binnen sechs Monaten in rascher Abfolge gezeigt und spiegelten die Zeitplanung einer kommerziellen Galerie. Jede hatte ihre eigenen visuellen Gestaltungsprinzipien. Doch es gab leise Übereinstimmungen, wie etwa eine in allen Ausstellungen aufgehängte Variation der US-amerikanischen Flagge. Jede der Ausstellungen hatte ihre eigenen imaginierten und expliziten AdressatInnen – zum Beispiel war „AIDS, eine Fallstudie“ die Antwort auf den umtriebigen Aktivismus von Act Up, und „Erziehung“ bezog Organisationen aktivistischer LehrerInnen sowie Gewerkschaften mit ein. Jede hatte visuelle Prinzipien, die sich in ihrem Design spiegelten und die Resonanzen in ihrer geteilten Wahrnehmung und in den Stimmungen hervorrufen konnten. Im Rahmen der Ausstellung „Kulturelle Partizipation“ veranstalteten wir etwa eine Tombola, und für die Eröffnung von „Politik und Wahlen“ war die Decke voller roter, weißer und blauer Luftballons. Wichtiger für mein Argument ist hier jedoch, dass wir Kontexte schufen, die durch die sozialen Einbringungen anderer geprägt waren, dass wir durch Einladungen und Assoziierungen von Anfang an einer umfassenderen Identität der AutorInnenschaft arbeiteten – um zu zeigen, dass die Produktion ästhetischer Formen mit weiterreichenden sozialen Beziehungen einhergeht, die wir in unserer Arbeit leben und auch in der Identifikation mit vergangenen Dingen imaginieren.

 

Roundtable-Gespräch im Rahmen von
Democracy: Cultural Participation. 1988
Photo: Dia Art Foundation, NYC


Wir organisierten diese soziale Plattform in dreifacher Weise:

Zunächst veranstalteten wir für jede Ausstellung ein Gespräch am runden Tisch, das der Ausstellung voranging und uns über mögliche größere Kooperationen in Zusammenhang mit dem Ausfindigmachen von Ausstellungsobjekten unterrichtete sowie die Programme für unsere Öffentlichkeiten anreicherte. An diesen Treffen nahmen KünstlerInnen und Nicht-KünstlerInnen teil: Menschen, die sich mit dem thematischen Inhalt der jeweiligen Ausstellung identifizieren konnten, die Erfahrung hatten mit den auf das jeweilige Scheitern der Demokratie bezogenen Praxen oder die sich in der Kultur engagierten, die diese Praxen manchmal hervorbringen.

Zweitens und weniger direkt – aber vielleicht entscheidender, was die eigentliche Form der Ausstellungen betrifft – überlegten wir uns einen Kreis von AdressatInnen und Individuen, die nicht notwendigerweise KünstlerInnen waren und die wir dazu einluden, Arbeiten für die Ausstellung beizusteuern. Diese durch ein geteiltes „Anliegen“ konstituierten Gruppen waren für die eigentliche Dynamik der Ausstellung verantwortlich, da sie Betrachtungserfahrungen schufen, die durch Joseph Beuys, Kinder der öffentlichen Schulen im Osten von New York, Fotos von Lewis Hine und Community-Darstellungen hindurch mussten.

 

Flyer für Stadtteilversammlung
Democracy: Education. 1988
Dia Art Foundation, NYC


Zuletzt veranstalteten wir für jede Ausstellung eine Art Stadtteilversammlung, die sowohl zum Thema als auch zur Zeitspanne der jeweiligen Ausstellung passte und eine große öffentliche Plattform für öffentliche Diskussionen bot. Das ursprüngliche Konzept unserer Stadtteilversammlungen bestand darin, mit der Idee des ExpertInnentums aufzuräumen und die Singularität des Proszeniums durch die Vielfältigkeit der ZuhörerInnenschaft zu ersetzen: Der Fokus lag auf der Einbeziehung, um nicht repressive Strukturen zu spiegeln. Wie schon andere betont haben, ist diese erhabene Idee eines organisierten Dialogs oftmals nur eine Nachahmung der Partizipation – ein bloß telegenes Bild von Inklusivität. Aber unsere ursprüngliche Intention war eine Anspielung auf die prototypische demokratische Erfahrung und der Versuch, die Trennung zwischen ExpertInnen und Neueingeweihten aufzulösen – jeder und jede im Publikum war eine potenzielle RednerIn. Ein Großteil der Diskussion basierte auf Themen, die in den Gesprächen am runden Tisch und in den Ausstellungen aufgeworfen wurden, aber im Großen und Ganzen war jede einzelne von ihnen sehr unterschiedlich, da die ModeratorInnen und die BesucherInnen jeweils andere waren. Der Inhalt wurde von den Anwesenden beigesteuert.

 

Cover, Democracy: A Project by Group Material.
Wallis, Brian (Hg.), Bay Pres, Seattle 1991


Nach den Roundtable-Gesprächen, den Ausstellungen und den Stadtvierteltreffen produzierten wir diese Publikation, die vielfältige Stimmen und Standpunkte zusammenführte, um Fragen der US-amerikanischen Demokratie anzusprechen und Reaktionsmöglichkeiten auf die Herausforderungen zu skizzieren. Das Buch adressierte ein weit größeres Publikum als jenes, das die Veranstaltungen besuchen konnte – und in der Tat besuchte, und zwar insbesondere im Bereich der öffentlichen Erziehung, einem Feld, in das ich zu jener Zeit viel Energie investierte. Der Lohn dafür sind wiederholte Zusammenarbeiten mit LehrerInnen und Community-Organizern, die dieses Dokument als ein Angebot von Möglichkeiten zur Fortführung des Jefferson’schen Mandats der Erziehung betrachten, das die in Amerika durch Rassifizierung, Klasse und Territorien errichteten Barrieren niederzureißen trachtet.

Alles in allem wollten wir mit unseren Anstrengungen im Rahmen des „Democracy“-Projekts herausfinden, wie Demokratie am Ort der Repräsentation selbst geschieht, an einem Ort, an dem nicht nur Information übermittelt oder zusammengetragen wird, sondern an dem wir uns selbst in der Vorbringung von Bildern wiedererkennen, ein Ort, an dem wir das Gefühl haben, wir selbst zu sein, an dem wir eine Stabilität fühlen, die von anderen begrüßt und anerkannt wird. Ein radikaler Repräsentationsmoment, der kollektiv sein kann oder auch nicht, ist ein solcher, der darauf hindeutet, dass wir uns selbst durch Gefühle einer neuen Vision überantworten können, dass wir eine Erfahrung machen können, die mit Kontemplation und Epiphanie zu tun hat. Auf diese Weise kann keine öffentliche Beschreibung von anderen, ob sie rahmenhaft oder detailliert sein mag, als politisch neutral dargestellt werden. Als also Group Material danach fragte, wie und für wen Kultur gemacht wird, wollten wir etwas Größeres als nur ein größeres Stück vom Kuchen der Kunstwelt. Wir wollten die Beziehungen zwischen denen, die die Welt darstellen, und denen, die sie konsumieren, verändern, wir wollten zeigen, dass der Kontext dieser Veränderung mehr als nur das Museum in Frage stellen würde: dass er eine Infragestellung aller Zusammenhänge des öffentlichen Lebens bedeuten würde. Durch das Gestalten von Ausstellungen und öffentlichen Projekten, die auf die Veränderung der Instrumentalität von Repräsentationspolitiken zielten und Fragen zur Demokratie selbst aufwarfen, stand Group Material für den Glauben daran, dass Kunst unmittelbar daran baut, wer wir sind – dass sie uns erzeugt.

Wie ich bereits sagte, war die Methode, mit der Group Material kulturelle Verschiebungen bewirkte, in einem starken und doch abstrakten Bild des Prozesscharakters politischer Arbeit verankert. Dieses abstrakte Bild der Demokratie als leeres Mittel bedeutet, dass soziale Zusammenkunft visuell als nie endender Kampf in Szene gesetzt werden konnte. Es ist das Muster eines Sozialforums, das den pluralistischen Konsens ablehnt und diesen durch die radikale Abstraktion eines temporären Agonismus ersetzt – eine Übertragung der Unvorhersehbarkeit von Diskussion und eine Einbindung in ein imaginierbares Gebilde, ein Gebilde, das immer ungeregelt und fluktuierend bleibt: eine abstrakte Matrix des Realen.

 

Group Material
Democracy: AIDS and Democracy: A Case Study. 1988
Dia Art Foundation, NYC


Kunst, die als veränderbares Sozialforum, als Dialog dargestellt wird, zeigt einen Zusammenhang, in dem nicht nur die Bilder, sondern die politische Gegenseitigkeit selbst personifiziert werden können – eine Ansammlung von unterschiedlichen Positionen und möglichen Willensäußerungen verschiedener Menschen. Dieser Komplexität durch die Kunst zu begegnen ist gleichbedeutend damit, eine Vielzahl von Körperpositionen zu betrachten, durch die Augen anderer den Blick und die Perspektive auf diese oder jene Stadt oder gar nach innen zu richten. Es mag ein Renaissanceklischee sein, dass ich mich der Augäpfel des anderen durch eine von der Kunst vorgeschlagene Position bedienen kann, ebenso wie es ein Klischee ist, dass ich durch diese Transsubstantiation einem Unbekannten begegne. Die formale und physische Präsenz eines anderen ist rational schwer zu diskutieren, da der Sinn des Gesichtspunkts einer anderen Person so viel mehr ist als die schematische Aufzeichnung der körperlichen Perspektive, die Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung mit einer Position.

Wir glaubten folglich, dass das gegenwärtig durch den Markt betriebene Management von Kunst und Kultur im Allgemeinen einem komplexen System von Ideen Geltung verschafft, das den Sinn dessen, was „uns“ uns oder „mich“ mich sein lässt, einschränkt, das normalisierend wirkt und die Konturen einer feststehenden Identität verordnet. Die Definitionen von Gender, „Rasse“ und Macht waren und sind immer noch von einem visuellen System abhängig – von Bildern, welche die Anerkennung oder Verkennung unserer selbst und zwischen uns überhaupt erst möglich machen.

 

Myron Stout
Untitled, 1950 (20. Mai)
Öl auf Karton


Ich möchte mit diesem Bild eines Gemäldes von Myron Stout abschließen, das etwa 40 Jahre vor der Ausstellung „Democracy“ gemalt wurde. Es hat keinen Titel – für mich ist es eine visuelle Erfahrung, die unmittelbar für die Möglichkeit eines visuellen Zugangs zu einer neuen sozialen Imagination steht. Ich würde gerne eines Tages einen Vortrag wie diesen hier über jenes Bild halten und ihm dabei direkt gegenüberstehen – mit einer Gruppe von ZuhörerInnen, die ihm gemeinsam mit mir gegenüberstehen.

Letzten Monat hielt der Sozialhistoriker Robert Hulot Kentor einen Vortrag in meiner Klasse über die barbarische Natur, zu der wir alle durch die in unseren Alltag integrierten Technologien und Bürokratien der Trennung und Spezialisierung gelangen. Als Reaktion darauf schickte mir ein Kollege ein Gedicht, das ich meinen StudentInnen in der darauf folgenden Woche vorlesen sollte.

 

Hier ist „Der Heimweg“ von Wallace Stevens:

Eben als ich sagte,
„So etwas wie die Wahrheit gibt es nicht“,
Schienen die Trauben voller.
Der Fuchs sprang aus seinem Loch heraus.

Du … Du sagtest,
„Es gibt viele Wahrheiten,
Aber sie sind nicht Teile einer Wahrheit.“
Dann begann der Baum, in der Nacht, sich zu wandeln,

Durchs Grün rauchend und blau rauchend.
Wir waren zwei Gestalten in einem Wald.
Wir sagten, wir standen allein.

Da sagte ich,
„Worte sind nicht Formen eines einzigen Wortes.
In der Summe der Teile gibt es nur die Teile. Die Welt muss
Mit dem Auge gemessen werden“;

Da sagtest du,
„Die Idole haben zuhauf Armut gesehen,
Schlangen und Gold und Läuse,
Aber nicht die Wahrheit“;

Zu eben dieser Zeit war die Stille am größten
Und längsten, die Nacht am rundesten,
Die Bruchstücke des Herbstes am wärmsten,
Nächsten und stärksten.

 

Dieser Text ist eine überarbeitete Version des Vortrags im Rahmen des Seminars "New Productivisms" (MACBA, Barcelona) 2009.