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09 2010

Die neuen Produktivismen

Marcelo Expósito

Übersetzt von Birgit Mennel

Die zwischen den Jahrzehnten 1910 und 1930 produzierte revolutionäre russisch-sowjetische Kunst hat immer noch einen enormen Einfluss auf viele Aspekte unserer kulturellen Modelle. Dennoch war der Moment, in dem sie historisch in Erinnerung gerufen wurde, mit einem Schwanken zwischen der Fetischisierung ihrer formalen Erfindungen und der Verherrlichung oder aber Diffamierung ihres Idealismus verbunden – eines als Voluntarismus vorgeführten Idealismus, der sich in einer allgemeineren Chimäre („die“ Revolution, dargestellt als Bild und in Anlehnung an eine monströse Mythologie, die – angeblich – immer mit dem Verschlingen ihrer Kinder endet) unmöglich einlösen lässt. Bestimmte herrschende Ansichten über die russisch-sowjetischen Avantgarden unterdrückten auch ihren Ereignis-Charakter, die Macht ihres Eindringens als eine mit den Stabilisierungen der Kunstgeschichte und der Massenpolitik unvereinbare Singularität und Differenz. So wurde denn auch häufig die starke Resonanz übersehen, die das besagte Ereignis – weit über seine historischen Grenzen hinaus – in vielen jener Unternehmungen zeitigte, die in den vergangenen Jahrzehnten in dem Begehren, sich in die tiefgreifenden Prozesse sozialer Transformation einzuschreiben, die Untersuchung einer Politik der Kunst in Angriff nahmen.

Demgegenüber wirft diese Ausgabe des Webjournals transversal, die dieser Text einleitet,[1] sowohl das Seminar wie auch das später entstandene Buch die Frage der Aktualität des genannten Ereignisses in aller Deutlichkeit auf, vorausgesetzt, dass wir diese Frage in einem doppelten Sinn verstehen – und zwar in einem doppelten Foucault’schen Sinn, wenn man so will: als eine Erforschung jener Aspekte gegenwärtiger Praxen, in denen sich jenes Ereignis widerspiegelt, das heißt der Formen, in denen jenes Ereignis – manifest oder versteckt – für die Gegenwart konstitutiv ist; sowie als Frage nach den Bedingungen, unter denen die Kraft des ursprünglichen Ereignisses reaktiviert werden kann. In dieser Ordnung der Dinge schlagen wir hier eine dreifache Annäherung an jenes historische Unterfangen vor: Erstens ging es um den Entwurf einer Genealogie; zweitens sollte eine kritische Lektüre angestellt werden; und drittens wollten wir den Spuren der Aktualität in zwei der Hauptachsen nachforschen, über die sich der zuvor genannte Prozess politischer und künstlerischer Radikalisierung der russisch-sowjetischen Avantgarde vollzogen hatte: im Produktivismus und in der Faktographie.

Es ist unumgänglich mit einer Würdigung der Arbeit an einer kritischen Wiederaneignung der russisch-sowjetischen Avantgarden, die der deutsch-amerikanische Historiker Benjamin H. D. Buchloh Anfang der 1980er Jahre in Angriff genommen hatte. Die Anstrengung Buchlohs hat es sicher ermöglicht, dass sich die ausführlicheren Untersuchungen von späteren HistorikerInnen und KunstkritikerInnen – zu denen einige derer zählen, deren Texte in dieser Ausgabe von transversal abgedruckt sind – unter den gegenwärtigen komplexen Bedingungen entfalten konnten. Die genuine Arbeit Buchlohs ist zwangsläufig eine der Vorbedingungen für dieses verlegerische Projekt.[2] Der Diskussionsrahmen, in den Buchloh eine bissige Infragestellung einführte, ist sicherlich ein spezifischer: In wenigen Worten könnte man sagen, dass er schlagkräftig gegen die Art und Weise vorging, in welcher der materielle und ideologische Begründer des Museum of Modern Art (MoMA) in New York, Alfred Barr, alles Mögliche unternahm, um die politische Virulenz, in die sich einige Bereiche des Konstruktivismus stürzten – ein Prozess, den er während seines Besuch in der Sowjetunion 1927 selbst beobachten konnte – historiographisch zu negieren oder zu relativieren, und zwar mit dem Ziel, einen entpolitisierten internationalistischen Diskurs über die moderne Kunst zu begründen und zu exportieren, der später inmitten des Kalten Krieges in den Kämpfen um die kulturelle Hegemonie für das liberale Gesellschaftsmodell funktional werden sollte. Über die Bedingtheiten dieses historiographischen Diskussionsrahmens hinaus machen die originellen Texte von Buchloh jedoch offensichtlich, wie jene politische Virulenz, die sich insbesondere mit den produktivistischen und faktographischen Hypothesen verband, mit einer Überschreitung der von der Kunstinstitution etablierten und weitergegebenen Rahmenbedingungen einherging. Eine Überschreitung, die im Gegensatz zur Schlussfolgerung des – akademischen, historiographischen, künstlerischen und auch politischen – Gemeinverstands keine Absage, sondern im Gegenteil eine Vertiefung der Labor- bzw. der spekulativen Phase der Kunst-, Literatur- und Theateravantgarden zur Voraussetzung hatte. Etwas brüsk, wenn auch notwendigerweise direkt formuliert: Die produktivistischen und faktographischen Erfahrungen zeigen, dass die Politisierung der Kunst und ihre Überschreitung in Richtung der Produktion bzw. des sozialen Aktivismus kein Hindernis darstellt für das Komplexerwerden der Hypothesen sowie der technischen und formalen Werkzeuge der Kunst. Ohne dass in dieser kurzen Einleitung Raum wäre für die Auseinanderlegung der Argumente Buchlohs, schlagen wir eine leichte Leseübung vor. Wir beziehen uns auf zwei seiner 1984 publizierten Essays: „From Faktura to Factography“ und „Since Realism there was … (On the current conditions of factographic art)“.[3] In den einleitenden Absätzen beider Texte werden in einer zusammenfassenden Charakterisierung des Epochenklimas im Sowjetrussland zu Beginn der 1920er Jahre einige wenige Zeilen wiederholt: „Unter KünstlerInnen und KulturtheoretikerInnen gab es ein allgemeines Wissen darum, dass man an einer endgültigen Transformation der modernen Ästhetik der Avantgarde teilhatte, da sich diejenigen Produktions- und Reproduktionsbedingungen veränderten, die ein Erbe der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Institutionen waren.“

Der Überlappungspunkt beider Essays stellt die Synthese eines künstlerischen und politischen Programms dar, das im Laufe des letzten Jahrhunderts immer wieder nach periodischen Neuanfängen strebte und zu dessen Aktualisierung wir durch die Herausgabe dieses Webjournals beitragen wollen: Es besteht in einem Unternehmen der Überschreitung der Kunstinstitution, und zwar ausgehend von der Analyse jener Umgestaltungen, die sich in diesen Institutionen als Resultat allgemeinerer Dynamiken der Transformation der materiellen, technischen und politischen Zusammensetzung unserer Gesellschaften abspielen. Ob das Geschehen dieser Überschreitungen dazu beiträgt, die Veränderungen auf Prozesse kollektiver Emanzipation hin zu orientieren oder ob es vielmehr an der Reproduktion und Perfektionierung der Sophisterei sozialer Unterwerfungsdispositive mitwirkt, hängt in großem Maße davon ab, welcher politische Wille die Handlung trägt, und zwar nicht so sehr im spezifischen Sektor der „Kunst“ oder der „Kultur“, verstanden als abgespaltene und getrennte Felder der sozialen Aktivität, sondern vielmehr – und das ist zweifellos eine weitere große historische Lektion der faktographischen und produktivistischen Tendenzen – im Inneren der sozialen Maschine, die Marx „General Intellect“ nannte, also im Bereich der Massenintellektualität. Der Leser oder die Leserin wird den Mahnruf wohl verstanden haben: Das Wiederauffrischen der Erinnerung an den Produktivismus und die Faktographie in der Gegenwart ist auch eine Weise der Aktualisierung jener unausweichlichen Aufforderung, die zwei grundlegende Texte von Walter Benjamin beinhalten; Texte, die in den dreißiger Jahren als Versuch einer theoretischen Intervention in die Spannungen der Zwischenkriegszeit geschrieben wurden, nämlich „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ sowie „Der Autor als Produzent“. Die Thesen Benjamins, die in diesem Aufsatzpaar stecken, liefern einen Gesamtüberblick über den Zusammenhang dieses Webjournals. Sie sind ohne Zweifel ein wichtiger theoretisch-kritischer Hintergrund, vor dem sich die Texte messen, die dieser kurze Artikel einleitet und denen wir jetzt unsere Aufmerksamkeit widmen.

Die Anordnung der Inhalte dieser Ausgabe von transversal ist ein Versuch der Dynamisierung jener akademischen Übereinkunft, die durch die klassische Dreiteilung von historiographischer, künstlerischer und kritischer Praxis auferlegt wird. Obwohl Texte wie die von Christina Kiaer und Devin Fore[4] ihren wichtigen historiographischen Untersuchungen der letzten Jahre in nichts nachstehen – und eine Inspirationsquelle für jüngere Arbeiten wie etwa die von Jaime Vindel[5] sind –, stützen sich ihre Lektürevorschläge hinsichtlich konkreter Aspekte der Radikalisierungserfahrung der russisch-sowjetischen Avantgarde auf Interpretationswerkzeuge, die auch innerhalb dessen zur Anwendung kommen, was wir die „theoretische Wende“ gewisser künstlerischer Praxen der letzten Jahrzehnte nennen könnten. In Wechselwirkung damit sind auch die Beiträge von Dmitry Vilensky, Hito Steyerl, Marko Peljhan und Doug Ashford[6], die sich von ihrer eigenen künstlerischen Praxis inspirieren ließen, nicht weniger historiographisch. Die Notwendigkeit, komplexe Verbindungen zwischen den aus dieser Dreiteilung jeweils resultierenden Feldern zu etablieren, scheint ein programmatischer Vorschlag der Beiträge von Brian Holmes und Gerald Raunig[7], und zwar sowohl aufgrund kritischer und kunsttheoretischer Überlegungen, die vom philosophischen Erbe einer kritischen Theorie ebenso beeinflusst scheinen wie von der politischen Aktualität militanter Aktivität.

Kiaer richtet ihre Linse auf den Weg, der von der konstruktivistischen Gruppe in Moskau eingeschlagen wurde; sie konzentriert sich dabei im Wesentlichen auf deren fortschreitenden Rückzug aus den Räumen der Kunstinstitution und ihren Eintritt in die industrielle Massenproduktion. Eine feministisch geprägte Lektüre erlaubt es Kiaer, eine Unterscheidung einzuführen zwischen – einerseits – dem scheinbar „starken“ Modell des Produktivismus, demzufolge das von der KünstlerIn zu verfolgende Ziel in der Auflösung ihrer Praxis in der Fabrikproduktion besteht, was zu einer Stärkung des in der Massenarbeiterbewegung des letzten Jahrhunderts hegemonialen maskulinistischen Imaginären des Proletariats beiträgt; sowie – andererseits – jenem anderen „weichen“ Modell, dem eine Ausdehnung der konstruktivistischen Erprobungen im Bereich der Wahrnehmung sowie der konstruktiven Modellierung von Bildern und Objekten auf die Massenproduktion von Gebrauchsgegenständen gelang, die eine Veränderung im Bereich des Alltags möglich machten, und zwar durch die Beförderung einer neuen „nicht kapitalistischen“ Beziehung zwischen dem Subjekt und den Dingen. In Übereinstimmung mit der retrospektiven Interpretation Kiaers erlaube ich mir die Anmerkung, dass das Auslöschen der durch den Markt produzierten Verdinglichung des Subjekts sowie des sozialen Lebens, wonach der nicht maskulinistische Produktivismus strebte, nicht so sehr in der Etablierung einer neuen Art von transparenter und direkter Beziehung zwischen dem Subjekt und den Dingen bestünde – eine umstrittene Idee, die zweifellos mit der psychoanalytischen Basis, auf die sich die feministische Lektüremethode Kiaers stützt, in Widerspruch geraten würde; vielmehr ginge es darum, dieses andere produktivistische Projekt als eine Suche nach neuen Formen der individuellen und kollektiven Subjektivierung zu verstehen, die sich vor dem Horizont der Konstruktion des Sozialismus über eine kollektive Bearbeitung des Begehrens und der Triebe vollzieht, welche sich davon unterscheidet, was während der kapitalistischen Modernität in die Gesellschaften des Massenkonsums eingeführt und vertieft wurde.

Auch wenn das für die Ausbildung der klassischen proletarischen Identität hegemoniale Imaginäre in einem zentralen Teil des Werks von Dziga Vertov viel Gewicht hat, zieht es die von Devin Fore vorgeschlagene Lesart des Films „Enthusiasmus“ (1931) vor, darauf hinzuweisen, dass das Vertov’sche Projekt in Wirklichkeit nicht in der Verwendung des Kinos als „Spiegel der Wirklichkeit“ bestand, sondern vielmehr in der Entwicklung der Hypothese von der kinematographischen Praxis als maschinischem Gefüge zwischen Subjekt und Technik. Dieses Gefüge sollte sich auf die Gestaltung der Dispositive projizieren (und zwar wörtlich, da wir ja von der filmischen Praxis sprechen), in deren Mitte die ZuschauerIn in enger Verbindung mit der technischen Entwicklung eine Erfahrung der Resubjektivierung durchlaufen würde. Der Kinematograph wäre damit also der bevorzugte Ort, um auf den Zustand und Status der sozialen Produktion zu verweisen und zugleich eine Technologie der Produktion sozialistischer Subjektivität in die Praxis umzusetzen. (Diese These, die von Benjamin in seinem Aufsatz über die technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerks wörtlich aufgenommen wird, ist genau diejenige, die Gerald Raunig in den Projekten von Sergej Tretjakow, was die Literatur betrifft, sowie Gustav Klucis, wenn es um die Produktion von Fotomontagen und Propagandaplakate geht, ausmacht. Die Aktualisierung dieser These an einem anderen Ort und in einem anderen Moment, nämlich in der argentinischen Avantgarde der 1960er Jahre, ist Gegenstand des Textes von Jaime Vindel.) Diese Art von maschinischem Gefüge, das Vertov imaginiert und praktiziert, ist, was die Verknüpfung von Subjekt und Objekt vermittels der Technik angeht, sicherlich komplexer als die einfache Beziehung der Solidarität oder GenossInnenschaft zwischen dem Individuum und den sozialistischen Objekten, die Rodtschenko vorgeschlagen hat. Und doch findet sie sich in nicht allzu großer Entfernung von jenem modus operandi, den sich Rodtschenko für seinen 1925 in Paris konstruierten Arbeiterclub gewünscht hatte – ein Projekt, in dessen Besprechung sich die Texte von Kiaer und Dmitry Vilensky überschneiden. Der Arbeiterclub sollte nichts anderes sein als eine Maschine politischer Subjektivierung. Aus der Lektüre, die der Text von Vilensky unternimmt, kann denn auch ein weiterer Aspekt gefolgert werden, der von großer Wichtigkeit ist, wenn es darum geht, den historiographischen Gemeinverstand in Bezug auf die Beziehungen zwischen Kunst und Politik in der Ära der russisch-sowjetischen Avantgarden in seine Schranken zu verweisen. Dieser und andere Texte, die in dieser Webjournalausgabe inkludiert sind, zeigen uns, dass die politische Funktion der Kunst, so wie sie in den produktivistischen und faktographischen Modellen auftaucht, nicht bloß darin besteht, die Bewusstwerdung zu propagieren bzw. zur Bewusstwerdung anzustiften, sondern dass es vielmehr – und insbesondere– um die Produktion von Mechanismen und Dispositiven der politischen Subjektivierung geht, die nicht notwendig deckungsgleich sind mit der klassischen Figur des künstlerischen „Werks“ als Objekt mit festgelegten Konturen oder als Träger einer wesenhaften und erkennbaren ästhetischen Bedingung. Das maschinische Gefüge des Vertov’schen Kinematographen, Rodtschenkos Arbeiterclub und der von El Lissitzky koordinierte Pressa-Pavillon weisen abseits ihrer formalen und technischen Differenzen alle oben erwähnten Eigenschaften auf. Die kollaborativen Dispositive der zugleich politischen und künstlerischen Produktion, wie sie von Vilensky und der Gruppe Chto Delat?, deren Mitglied er ist, orchestriert werden, ebenso wie die unterschiedlichen Versionen des von Marko Peljhan initiierten Projekts Makrolab lassen nicht nur ein genaues Verständnis jener experimentellen historischen Artefakte erahnen, sondern sind außerdem eine durchdachte Aktualisierung dieser Artefakte.[8]

Zu Beginn sprachen wir von einer dreifachen Annäherung an die thematisierte historische Erfahrung. Bis jetzt lag der Nachdruck auf der Konstruktion ihrer Genealogie sowie auf den verschiedenen Versuchen ihrer Aktualisierung. Den Prozess der russisch-sowjetischen Avantgarden einer kritischen Lektüre zu unterziehen ist unverzichtbar, wenn die Versenkung in einer idealisierenden Apologie ebenso verhindert werden soll wie ein nutzloses dekontextualisiertes Revival. In diesem Sinn muss unser Seminar- und Buchprojekt genauso viele Fragen beinhalten, wie bis jetzt Gewissheiten artikuliert wurden. Was wäre die Aktualität einer Produktionskunst, wenn eine Revolution des kapitalistischen Produktionsmodus im Gange ist, welche die Ausbeutung der Arbeit auf den Bereich der Subjektivität und den Zusammenhang des täglichen Lebens ausdehnt? Worin bestünde dann ein „postfordistisches Programm“ einer aktualisierten Produktionskunst? Wie kann eine Verknüpfung von Kunst und Produktion umgesetzt werden, die keinen Beitrag leistet zu den ästhetisierten Formen der Politik oder des Massenkonsums?

Es stellen sich weitere Probleme, wie etwa: Welchen Sinn hat heute eine Kunst, die sich mit dem Erfassen von Tatsachen beschäftigt? Welche Funktion erfüllt in den Kontrollgesellschaften die dokumentarische Utopie – die Produktion einer universellen Sprache, die über die einzelnen Momente des täglichen Lebens Bericht erstattet? Angesichts dieser Fragen war die von Hito Steyerl in unserem Seminar gegebene Antwort eigentlich sehr einfach: Die Dokumentalität erfüllt in den Kontrollgesellschaften eine Kontrollfunktion. Steyerl ist überzeugend, wenn sie davon spricht, wie verhängnisvoll die totalitäre Dimension war, in der das Projekt der vollständigen Planung der Subjektivität und die Utopie einer auf den gesamten Bereich des Alltagslebens angewandten Technologie zusammenliefen. Genauso wie Doug Ashford, wenn er uns vor der Gefahr warnt, das Dogma des Realismus als bevorzugten Ausdrucksmodus des künstlerischen Aktivismus zu akzeptieren, als unmittelbare und transparente Kommunikationssprache sozusagen; vor allem wenn die kooptierten – oder im Naturalismus eingesetzten – realistischen Formen zur Verankerung der Bedeutungen im Inneren der – künstlerischen und nicht künstlerischen – sozialen Strukturen und Institutionen beitragen, wo die Funktion der Kunst doch eigentlich eher darin bestehen sollte, die Bedeutungen zu destrukturieren anstatt die Stabilität der Zeichen zu reproduzieren. Vielleicht schlägt uns Brian Holmes auch in diesem Sinne vor, dass die Treue zum historischen Projekt der radikalisierten russisch-sowjetischen Avantgarden in mancherlei Hinsicht darin besteht, ihre Begrifflichkeiten in dem Moment zu invertieren, in dem uns angesichts der Bedingungen des kapitalistischen Produktionsmodus nur noch die Subversion und Flucht aus der totalitären Herrschaft der Produktion über das Subjekt übrig bleibt. Möglicherweise besteht die Perspektive des Projekts der Verknüpfung von Kunst und Politik, das aus der Erfahrung gewisser historischer Avantgarden übernommen wurde, nicht länger in der Konstruktion des Sozialismus. Aber ein Blick auf den gegenwärtigen Zustand der Dinge und des Subjekts genügt, um zu verstehen, dass der Horizont dieser Verknüpfung einzig in einem Beitrag zum Prozess einer kollektiven Emanzipation bestehen kann. 

 



[1] Diese Ausgabe des Webjournals transversal ist eine erweiterte Version des Buches Los nuevos productivismos, 2010 herausgegeben vom Museo d’Art Contemporani de Barcelona (MACBA) sowie dem Servei de Publicacions de la Universitat Autònoma de Barcelona (UAB) – mit Texten von Doug Ashford, Marcelo Expósito, Devin Fore, Christina Kiaer, Hito Steyerl, Dmitry Vilensky –und zu denen wir die Texte von Gerald Raunig und Jaime Vindel hinzu fügten. Dieses Buch geht auf ein Seminar zurück, das am 28. und 29. März 2009 im MACBA stattfand (vgl. http://marceloexposito.net/pdf/exposito_nuevosproductivismos_es.pdf). In Verbindung mit den Lehrgängen zu „Imaginación política“, die seit 2006 im Rahmen des Programa de Estudios Independientes (PEI) im MACBA abgewickelt werden (http://marceloexposito.net/pdf/exposito_pei1.pdf y http://marceloexposito.net/pdf/exposito_pei3.pdf), sowie in Zusammenhang mit einer sehr umfangreichen Ausstellung mit dem Titel „Archivo universal. La condición del documento y la utopía fotográfica moderna“, die einige Wochen zuvor eröffnet wurde (vgl. hierzu das von Miguel López mit Jorge Ribalta geführte Interview „Ver la modernidad desde la fotografía es como entrar a la historia por la puerta de servicio, in: ramona, Nr. 88, März 2009, http://www.ramona.org.ar/node/25193), war das Seminar „Die neuen Produktivismen“ selbst nur ein Teil einer ganzen Konstellation von Aktivitäten, die den Prozess der sowohl politischen wie künstlerischen Radikalisierung einiger Bereiche der russisch-sowjetischen Avantgarden als ein Gründungsmoment jener Art von Überschreitung der künstlerischen Institution betrachten, welche die komplexen Verbindungen von Kunst, Politik, Aktivismus und Massenkommunikation im Laufe eines Jahrhunderts hervorriefen.

Wir danken insbesondere Madeline Carey, Marta García und Clara Plasencia (vom Programa de Estudios Independientes, vom Departamento de Programas Públicos sowie vom Servicio de Publicaciones del MACBA) für die Erlaubnis und die unumgänglichen Aufgaben, die es möglich machten, dass sich das Buch in dieses Webjournal verwandeln konnte.

[2] Ich werde auch einige Aspekte jener historiographischen Untersuchungen aufzählen, die neben der Arbeit Buchlohs für die Herausgabe dieses Webjournals eine unmittelbare Inspiration und Orientierung waren: Christina Lodder würdigt in ihrem Buch Russian Constructivism (New Haven: Yale University Press 1983) die Bedeutung der produktivistischen Tendenz des Konstruktivismus. Margarita Tupitsyn weist in The Soviet Photograph, 1924–1932 (New Haven: Yale University Press 1996) auf die Funktion der Fotografie hin, den diese für die Überwindung der spekulativen Phase der Avantgarde sowie für die Massifizierung ihrer experimentellen Artefakte und Hypothesen hatte. Bei Maria Gough, The Artist as Producer. Russian Constructivism in Revolution (Berkley: University of California Press 2005) wird die dem produktivistischen Prozess innewohnende Diversität gewissenhaft unter die Lupe genommen. Christina Kiaer wirft in ihrem Buch Imagine no Possessions. The Socialist Object of Russian Constructivism (Cambridge/Mass.: MIT Press 2005) ein Licht auf jene außerkünstlerischen Praxen, die sich nach der Überwindung der Laborphase des Konstruktivismus an der Produktion von Objekten zur Veränderung des Alltags versuchten. Die Texte von Devin Fore, die in der englischen Fassung von Texten Sergej Tretjakows begleitet werden, definieren die Prinzipien eines faktographischen Schreibens (vgl. „The Operative Word in Soviet Factography“, in: October, Nr. 118, Winter 2006). Der Vorschlag von Gerald Raunig verknüpft die Modelle der Radikalisierung der russisch-sowjetischen Avantgarde mit anderen Momenten der Verkettung von Kunst und Politik, insbesondere mit gegenwärtigen Erfahrungen der letzten zwei Jahrzehnte zu (vgl. diesbezüglich seine beiden Bücher Kunst und Revolution. Transversaler Aktivismus im langen 20. Jahrhundert, Wien: Turia + Kant 2005 und Tausend Maschinen. Eine kleine Philosophie der Maschine als sozialer Bewegung, Wien: Turia + Kant 2008). Und schließlich nimmt das von Jorge Ribalta herausgegebene Buch genau von jenem Ort seinen Ausgang, in den die Narration Buchlohs einmündet, nämlich vom ersten Propagandapavillon, den El Lissitzky im Auftrag der sowjetischen Regierung realisierte: Espacios fotográficos públicos. Exposiciones de propaganda, de Pressa a The Family of Man, 1928–1955, Barcelona: Museu d’Art Contemporani de Barcelona 2009. Es ist kein Zufall, dass in dieser Anmerkung ausschließlich Texte angeführt werden, die in den letzten zwei Jahrzehnten publiziert wurden: Eine der Thesen des Seminars war es, dass im gegenwärtigen historischen Konfliktzyklus singuläre Formen der Verknüpfung von Kunst und Politik ausfindig gemacht werden können, die zum Teil als Aktualisierung der russisch-sowjetischen Radikalisierungsmodelle verstanden werden können. Die hier zitierten historiographischen Untersuchungen sowie diese neuen künstlerisch-politischen Erprobungen verliefen in den letzten zwanzig Jahren parallel zueinander, obwohl sie eigentlich kaum je in Verbindung miteinander standen. Dieses Seminar- und Buchprojekt antwortet also ausdrücklich auf die Notwendigkeit, neuartige Verknüpfungen zwischen beiden Seiten herzustellen, um ihre gewohnheitsmäßige Unverbundenheit zu überwinden. Einige dieser Überlegungen werden mehr oder weniger detailliert in meinen Texten angesprochen; vgl. „Prácticas artísticas / de comunicación audiovisual y transformaciones sociales“ (http://marceloexposito.net/pdf/exposito_bogota.pdf) sowie „Walter Benjamin, productivista“ (http://marceloexposito.net/pdf/exposito_benjaminproductivista.pdf).

[3] „From Faktura to Factography“ wurde in der Nummer 30 der Zeitschrift October veröffentlicht und erfuhr viele Neuauflagen (darunter auch die spanische Version, die in dem Buchloh-Band Formalismo e historicidad. Modelos y métodos en el arte del siglo xx. Madrid: Akal, 2004, abgedruckt wurde), während „Since Realism there was … (On the current conditions of factographic art)“ nur im kollektiven Katalog Art & Ideology publiziert wurde, der anlässlich der gleichnamigen Ausstellung, die im New Museum of Contemporary Art in New York stattfand, von Marcia Tucker herausgegeben wurde. In diesem zweiten Text geht Buchloh weit über die historiographische Narration hinaus und interpretiert die gegenwärtige fotographische Praxis von Allan Sekula und Fred Lonidier als eine Aktualisierung der von der Faktographie in den zwanziger Jahren aufgeworfenen Debatte über den Realismus, und zwar vermittels des Einsatzes der Fotografie als eines Paradigmas, das zwischen drei Scheitelpunkten oszilliert, die alle durch die jeweils anderen infrage gestellt werden: Kunst der Avantgarde, dokumentarischer Produktivismus und sozialer Aktivismus. Mein Vorschlag bestünde darin, diese Herangehensweise Buchlohs als Ausgangspunkt zu nehmen, um die Radikalisierung jener Hypothese über die gegenwärtigen Bedingungen zu verstehen, in denen sich das faktographische Modell aktualisiert; so wie die erwähnte Radikalisierung in der Ausweitung des künstlerischen Aktivismus evident wird, der seit den achtziger Jahren nicht nur auf die Fotografie, sondern auch auf andere aktuelle Techniken sozialer Repräsentation und Massenkommunikation zurückgreift. Einige dieser dem künstlerischen Aktivismus nahestehenden Erfahrungen werden im Seminar und im Buch vorgestellt.

[4] Vgl. die Texte von C. Kiaer, „‚In die Produktion!‘: Die sozialistischen Objekte des russisischen Konstruktivismus, http://eipcp.net/transversal/0910/kiaer/de, übers. v. Birgit Mennel, sowie von Devin Fore, „Arbeit sans phrase“.

[5] Vgl. J. Vindel, „Tretjakow in Argentinien. Faktographie und Operativität in der Avantgarde der sechziger Jahre“, übers. v. Gudrun Rath, http://eipcp.net/transversal/0910/vindel/de.

[6] Vlg. D. Vilensky, „‚Der Arbeiterclub‘, oder: Über das Konzept von Kulturhäusern, Sozialzentren und Museen“, übers. v. Stefan Nowotny, http://eipcp.net/transversal/0910/vilensky/de; H. Steyerl, „Ungeschaffene Wahrheit. Produktivismus und Faktographie“ übers. v. Birgit Mennel, http://eipcp.net/transversal/0910/steyerl/de; sowie D. Ashford, „Group Material: Abstraktion als Einbruch des Realen“, übers. v. Birgit Mennel, http://eipcp.net/transversal/0910/ashford/de.

[7] Vgl. Brian Holmes, „In die Information! Die Umkehrung der Geschichte zugunsten der Gegenwart“, übers. v. Birgit Mennel, http://eipcp.net/transversal/0910/holmes/de; sowie G. Raunig, „Den Produktionsapparat verändern. Anti-universalistische Intellektuellen-Konzepte in der frühen Sowjetunion, http://eipcp.net/transversal/0910/raunig/de.

[8] Marko Peljhan nahm zwar am Seminar, das im MACBA 2009 durchgeführt wurde (vgl. FN 1) teil, sein Beitrag konnte allerdings nicht in diese Ausgabe von transversal aufgenommen werden. Wir verweisen daher auf den Text von Brian Holmes „Coded Utopia. Makrolab, or the art of transition“, http://brianholmes.wordpress.com/2007/03/27/coded-utopia/ (für die spanische Version, vgl. Brumaria Nr. 7. Arte, máquinas, trabajo inmaterial, Dezember 2006; online abrufbar unter: http://marceloexposito.net/pdf/trad_holmes_makrolab.pdf) sowie auf die Transkription des Vortrags von Peljhan im Rahmen des Programms „100 Tage –100 Gäste“ der documenta X (am 31. August 1997), in dem die technischen Aspekte des Projekts Macrolab ausgehend vom Einfluss des kubofuturistischen Dichters Welimir Chlebnikow erläutert werden (zu Chlebnikow und der ursprünglichen Gruppe des russischen Kubofuturismus, einem wahren Urknall, was die Konstellation der russisch-sowjetischen Avantgarde angeht, vgl. den Klassiker von Angelo Maria Ripellino, Majakowskij und das russische Theater der Avantgarde, übers. v. Marlis Ingenmey, Köln: Kiepenheuer & Wietsch 1964, das für dieses Webjournal im Allgemeinen ebenfalls wichtig war).