09 2001
Networker: antagonistisches Subjekt statt transnationale Zivilgesellschaft. Brian Holmes im Gespräch mit Boris Buden
[B.B.:] Der terroristische Angriff auf das World Trade Center scheint die Ereignisse von Genua irrelevant gemacht zu haben. Müssen wir uns damit abfinden? Ist Genua wirklich kein Thema mehr?
[B.H.:] Die Demonstrationen in Genua ließen das Gespenst einer historischen Wiederholung wiederauftauchen: Faschistische Elemente im italienischen Staat haben erneut manipulierte Gewalt missbraucht, um die wichtigste soziale Bewegung in den Extremismus zu treiben, genau so wie sie es in den siebziger Jahren gemacht haben. Das verblasst, könnte man sagen, bis zur Bedeutungslosigkeit vor einem so massiven und beispiellosen Ausbruch des neuen Terrors. Die Situationen sind eigentlich in bizarrer Weise ähnlich, in New York ist der Einsatz jedoch plötzlich höher. Es ist offensichtlich, dass ein solch unverzeihlicher, unmenschlicher Akt des Terrors - in der Form eines direkten Angriffs auf die militärischen und finanziellen Zentren - dem von Krisen geplagten Kapitalismus eine perfekte Ausrede bietet, eine Reihe weitreichender polizeilicher Kontrollmechanismen zu installieren. Er braucht sie dringendst, um seine Ausschlussmechanismen aufrechtzuerhalten und jede Art der Opposition gegen die Ungleichheiten, die er generiert, niederzuschlagen. Das Versagen dieses Polizeiprogramms könnte einen neuen Weltkrieg verursachen; sein Erfolg aber könnte das Ende unserer Demokratien bedeuten.
Wieder dreht sich alles um Gewalt. Doch welcher Natur ist diese Gewalt? Was bedeutet sie in Genua und was in New York?
In Genua haben wir gesehen, wie der Staat zu einem gewissen
Ausmaß Gewalt produziert, um sie doppelt so stark gegen
uns alle - sogar gegen die friedlichsten unter uns - zu wenden.
Etwas Ähnliches tun die Vereinigten Staaten und das globalisierte
kapitalistische System. Zu einem gewissen Ausmaß - ohne
dass jemand sagen kann, zu welchem genau - erzeugen sie Gewalt,
die aus der arabischen Welt kommt. Die USA haben Bin Laden
für den Kampf gegen die Sowjets ausgebildet. Seitdem
hat sein Netzwerk von den deregulierten, kriminalisierten
finanziellen Märkten profitiert und gleichzeitig durch
die zunehmende Armut und Unterdrückung noch an Stärke
gewonnen. Wie können wir Frieden erwarten in einer Welt
ohne Grenzen und unter der Bedingung systematischer Ungleichheit?
Nach Genua schrieb ich, dass die gewaltigen Konflikte "nur
Vorläufer eines weit breiteren Konflikts waren, der kommen
wird, wenn die destruktiven und entfremdenden Tendenzen der
Globalisierung nicht aufgehoben werden."
Du hast auch geschrieben, dass Genua ein Wendepunkt war, in dem für die Antiglobalisierungsbewegung eine Art Gratwanderung beginnt, und zwar nicht nur in Bezug auf Gewalt...
Der wahre Wendepunkt wird kommen, wenn der Widerstand massiv genug ist, um die spezifischen Linien der institutionellen Entwicklung blockieren und neue Räume für das gesellschaftliche Experiment öffnen zu können. Mann kann die neuen Ideen in Brasilien, in Porto Alegre, in Form des PT participatory budget program vorausahnen, einer infranationalen Initiative; oder in Frankreich in Form des ernsthaften Appells zur Einführung der Tobin-Steuer, einer supranationalen Initiative. Wir sind nicht weit von einer definitiven Blockade des IMF-Sparprogramms und des WTO-Handelssystems, die weit kühnere Experimente ermöglichen würde. Aber genau in diesem Moment der wachsenden Stärke drohen die inneren Widersprüche der kritischen Bewegung sie zu zerreißen. Das ist der Punkt, an dem wir unsere Gratwanderung beginnen. Und das ist auch der Punkt, an dem in Genua die italienische Polizei angefangen hat, auf klassische Weise und zynisch die ambivalente Gewalt der Bewegung zu intensivieren und sie als Vorwand für nackte Repression zu benützen.
Du sagst "Wir". Aber wer ist dieses "Wir" der Bewegung? Und warum hat der Widerstand die Form von Straßenprotesten angenommen?
Angesichts der Stärke des Rechts-Links-Konsenses in den Parlamenten und letztendlich des neoliberalen "Washington-Konsenses" musste die Bewegung, so meine ich, mit dramatischen Aktionen auf den Straßen der ganzen Welt beginnen. Diese Aktionen haben ihre symbolische Macht aus der veränderlichen Mischung intellektueller Kritik, zivilen Ungehorsams, des Karnevals und der Vernichtung von Firmeneigentum bezogen. Sie haben die Medien gezwungen, die Existenz eines globalen Widerstandes gegen die neoliberale Politik einzugestehen. Gleichzeitig wurde mit jeder einzelnen Aktion die direkte Kommunikation zwischen den Beteiligten durch die "alternativen Medien" intensiviert, von der menschlichen Stimme bis zum Internet.
Der Widerstand gegen die Globalisierung ist aber viel breiter und viel ambivalenter als die Straßenproteste. Dahinter findet man auf den verschiedenen Stufen zwischen Distanz und Dissens eine entfremdete Jugend, progressive soziale Bewegungen, Splittergewerkschaften, alle Arten von UmweltschützerInnen, enttäuschte NationalistInnen, Bürgergruppierungen, die sich um den Wohlfahrtstaat und die demokratischen Institutionen sorgen, linke think tanks, humanitäre NGOs, Erzkonservative, religiöse Gruppen verschiedener Konfessionen und unzählige Menschen, die - geschockt von der Plötzlichkeit der globalen ökonomischen Integration - nicht willens sind, auf ihre kulturelle Verhaltensmuster, ihre traditionellen Solidaritätsformen oder ihre Freiheitsansprüche einfach so zu verzichten.
Du hast einmal das soziale Substrat der Bewegung als the transnational civil society beschrieben. Glaubst du noch immer, dass dieses Konzept den chaotischen und manchmal gewalttätigen Widerstand gegen die Globalisierung erklärt?
Nein, sowas habe ich nie gesagt. Ich habe vielmehr versucht, zwei wesentliche Punkte hervorzuheben: erstens, dass das Auftauchen einer globalen Zivilgesellschaft, die erst mit dem Internet vorstellbar wurde, in direktem Zusammenhang steht mit dem Aufstieg der transnationalen Konzerne, mit den Agenten des globalen Kapitalismus; zweitens, dass sich der Vorherrschaft dieser korporativ gesteuerten Zivilgesellschaft nur ein antagonistisches politisches Subjekt widersetzen kann, welches ich "networker" genannt habe, d.h. die globale Arbeitskraft, die via Kommunikationstechnologie von den transnationalen Konzernen mobilisiert wird.
Der Begriff "networker" ist aber ebenfalls ambivalent: er deutet zweierlei an, den opportunistischen Manager und den Arbeiter unter elektronischer Kontrolle. Ich habe ihn als Provokation angewendet, um Bewusstsein für die subalterne Position derer zu schaffen, die vom Internet abhängig sind. Das war 1998 während des Dot Com Booms, als noch dieser absurde, vom eigenen Interesse geleitete Glaube an die weltweite elektronische Demokratie vorherrschte. Ich wollte diese naive Vision von der "civil society" dämpfen, die die Realität der korporativen Herrschaft verschleiert; und gleichzeitig wollte ich eine Veränderung in den Mentalitäten und in den Bemühungen um Organisierung anregen, die für die Konstitution eines weltweit agierenden kollektiven politischen Subjekts erforderlich wäre. Jenseits des Marxschen Bildes eines vereinigten industriellen Proletariats müssen wir die divergierenden Werte und Begehren verstehen, welche die Menschen motivieren, sich in einer Art koordinierten Widerstands gegen den Neoliberalismus zu engagieren. Ich habe den Prozess dieser Annäherung als "transnational culture sharing" beschrieben, im Unterschied zur "civil society", welche den transnationalen Kapitalismus unterstützt. Um es jedoch völlig klar auszusprechen: Eine weltweite Bewegung kann nur in einer Form politischer Solidarität gegründet werden, wo alle Beteiligten etwas Konkretes zu gewinnen oder zu verlieren haben. Diese tatsächliche Solidarität ist notwendig, um die Mobilität der transnationalen Konzerne zu bekämpfen. Ich glaube, dass die illegale Seite der früheren Demonstrationen - die direkte Aktion, die symbolische Zerstörung korporativen Eigentums - der einzige Weg war, die reale Solidaritätsbewegung von den ständig unerfüllten Versprechungen der Zivilgesellschaft zu unterscheiden.
Wo - in welchem institutionellen Raum - spielt sich aber dieser Kampf gegen den globalen Kapitalismus ab? Den einzigen demokratisch legitimierten politischen Rahmen der Proteste scheint noch immer der Nationalstaat zu bieten...
Der institutionelle Kontext der Kämpfe liegt im Raum der Spannungen zwischen den nationalen und transnationalen Körperschaften. Die Bewegung fordert transnationale Institutionen heraus: WTO, IMF, G8, EU, NAFTA, etc. Sie alle gehen in der Theorie von demokratisch gewählten nationalen Regierungen aus. Sie regulieren aber den transnationalen Raum zum exklusiven Nutzen industrieller und finanzieller Interessen, ohne dass die Bürger irgendetwas dazu zu sagen hätten. Sogar nach den niedrigsten Standards der heutigen Demokratie sind sie illegitim. Obwohl die nationalen Institutionen noch immer die einzigen Kontrollmechanismen über das Kapital bieten, ist die Bewegung selbst tatsächlich transnational. Sie positioniert sich einem transnationalen Gegner gegenüber und muss den Anspruch auf die Möglichkeit einer demokratischen Verwaltung des globalen Raumes erheben - nur um die Richtlinien für das zu setzen, was Walden Bello deglobalization nennt, oder, in den Begriffen der Politikwissenschaft, die Subsidiarität: kollektive Entscheidungen, die auf der kleinsten möglichen Stufe getroffen werden, um den höchsten Grad demokratischer Partizipation zu sichern.
Was gibt uns Hoffnung, dass der Widerstand gegen die Globalisierung nicht ohne ernsthafte politische Folgen bleibt und bloß als eine neue Auflage des altbekannten Kulturkampfes endet?
Nichts, wenn du so willst. Aber der ermutigendste Aspekt der letzten Jahre ist die Art und Weise, wie die radikalisierten networkers in der Lage waren, innerhalb dieses ambivalenten, massiven Widerstands eine Art von Volksbildung zu leisten und die gemeinsamen Interessen innerhalb der alles umfassenden institutionellen Zusammenhänge aufzuzeigen. Das alles geht darüber hinaus, was du Kulturkampf nennst, ohne die Wichtigkeit der kulturellen Fragen abstreiten zu wollen - wie etwa die Filme-macher eine wichtige Rolle in der weit breiteren Kampagne gegen das MAI-Abkommen spielen konnten.
Dieser Ausbruch des Terrorismus zeigt uns, wie ernst die Probleme der Globalisierung wirklich sind. Gibt es noch eine Chance, dass eine transnationale, transkulturelle Linke unsere Gesellschaft überzeugen kann, sich den Quellen und nicht nur den Symptomen dieses weltweiten Konfliktes zuzuwenden? Gibt es noch eine Chance für eine Ausweitung für die radikalen kollektiven Bildungsbemühungen? Ich denke, das sind die Fragen, die das einundzwanzigste Jahrhundert eröffnen.