08 2000
Der Aufstand der Massen, reverse mode. Massenhafter Nonkonformismus als Aufhebung des Gegensatzes von Masse und Individuum
"Jetzt hat sie sich an die Rampe vorgeschoben; sie ist Hauptperson geworden. Es gibt keinen Helden mehr; es gibt nur mehr den Chor." (Ortega y Gasset)
Wachstum, Gleichheit, Dichte, Richtung - die von Elias Canetti in "Masse und Macht" beschriebenen Eigenschaften der Masse scheinen nicht so richtig auf die Demos im Feber Null zu passen. Sie ziehen durch die Stadt, werden größer, wachsen über die zehntausend, schrumpfen dann wieder, bis sich das Häufchen auflöst, manchmal teilen sie sich und treffen später wieder aufeinander. Im Gegensatz zum Gleichheitsgebot und der Auflösung der Distanzen in der dichten Masse sind hier gerade die Differenzen, die Mindestabstände die gemeinsame Voraussetzung, manchmal stillschweigend, manchmal akklamiert, manchmal laut diskutiert. Und ihre hervorstechendste Eigenschaft ist, daß bei aller Bewegung eine klare Richtung eben nicht vorgegeben wird.
Außer: Am sechsten Feber versuchte sich die erwählte Ersatz-Ansprechperson ORF zu entziehen, indem die sonntägliche Diskussionssendung "Zur Sache" vom Haas-Haus am Stephansplatz ins ORF-Zentrum auf den Küniglberg verlegt wurde. Mit dieser Verlegung bewirkte der ORF unwillkürlich nicht nur die Änderung des geographischen Ziels, sondern auch eine Umleitung der Inhalte, die einer ersten thematischen Zuspitzung gleichkam, über den reinen Protest gegen die Existenz der Regierung hinaus: Im Marsch auf den Küniglberg verfestigte sich nämlich auch die implizite symbolische Kritik an der Staatsfunk-Politik. Jetzt geht's plötzlich nicht mehr um die eine Sendung, ihr Thema und die Teilnehmer Khol und Westenthaler, sondern um die Position des Medienunternehmens ORF, vielleicht um Medienkritik überhaupt. Auf den Transparenten steht zu lesen: DER ORF LÜGT.
Mehr als zehntausend Menschen wandern also statt in die Innenstadt vom Zentrum an den Stadtrand. Drei Stunden, an die zehn Kilometer. Die Stimmung steigt, die freundliche Aufnahme in der Stadt läßt hoffen: Viele Leute winken aus den Fenstern, schwenken rote, schwarze oder andersfärbige Fetzen und Kleidungsstücke, schalten das Licht in ihren Wohnungen ein und aus, fuchteln mit Taschenlampen und Sternspritzern. Aus den Lokalen werden die Demonstrierenden gratis mit Getränken versorgt. Unter Hupen, Trommeln, Klingeln und Pfeifen zieht die Demonstration durch den fünften und den zwölften Bezirk. Selbst die AutofahrerInnen haben ihr Signalverhalten verkehrt: Hupen bedeutet nicht mehr Aggression, sondern Solidarität. Und langsam entwickelt sich etwas, das Canetti als festliche Masse beschreibt: "Viele Verbote und Trennungen sind aufgehoben, ganz ungewohnte Annäherungen werden erlaubt und begünstigt. Die Atmosphäre für den einzelnen ist eine der Lockerung und nicht der Entladung. Es gibt kein Ziel, das für alle dasselbe ist und das alle zusammen zu erlangen hätten. Das Fest ist das Ziel, und man hat es erreicht."
Das Ziel ist freilich nicht erreicht. Und gerade diese Tatsache ist der Hauptgrund für die Ausdauer des täglichen, später donnerstäglichen Rituals, die Unmöglichkeit, daß die Suche nach Ansprechpersonen von Erfolg gekrönt ist; Ansprechpersonen für die einzig gemeinsame Forderung derer, die - ohne Beziehung über den einen Anlaß hinaus - sich und ihren Unmut sammeln: Diese Regierung muß weg.
Und da sich niemand findet, dem diese Botschaft übermittelt werden kann, da niemand ansprechbar ist, begeben sie sich auf die Suche durch die Stadt. Wir gehen solange, bis ihr geht. Wie der erste Feber einer Wiederbelebung des Dérive nahekam, so wird in den täglichen Demos danach nach einer adäquaten Anpassung der situationistischen Technik für die Form des Massenprotests geforscht: so wenig geordnet und so spontan wie möglich, ohne Vereinnahmung durch Parteien und einzelne politische Gruppierungen. Zentrale Positionen soll es keine geben, und wo sie auftreten, werden sie bekämpft. Der gemeinsame Nenner ist das Interesse an Differenz und an einer Gesellschaft, in der Differenzen lebbar sind. Die aktuelle Verdichtung dieser Haltung ist die Negation einer Regierung, die die Unmöglichkeit dieser Vorstellungen von Gesellschaft weiter verschärft. Stillstehen ist unmöglich, als Ausdruck der psychohygienischen Notwendigkeit, sich zu bewegen, sind auch die vielen Sitzungen dieser Tage geprägt von Rastlosigkeit, von Geschwindigkeit. Unmut erzeugt Unrast.
Marlene Streeruwitz hat auf die eigene Gangart der Wiener "Wandertage" hingewiesen, die jede Form des Kathartischen vermieden, kein vermeintliches Gesunden im Aufseufzen der Masse zuließen. Die Bewegung, das ständige "Verlassen der Orte, die zur Masse einladen", und der Verzicht auf Katharsis sind die wichtigsten Differenzen zu Canettis dichter Masse, die auf ihre "Entladung" hinarbeitet. Deswegen muß der Begriff der Masse allerdings nicht gleich entsorgt werden, wurde er doch schon bei Canetti in sehr differenzierter Weise aus seiner bedrohlichen Bedeutung als antagonistischer Gegensatz zum Individuum gehoben. Die Frage muß vielmehr lauten, wie in diesem speziellen Fall das Verhältnis von Masse und Individuum verwaltet ist. "Heute, bei den Donnerstag-Wandertagen", so schreibt Streeruwitz, "bewegt man sich in einer freundlichen Menge und ist eigenständig und macht Musik und immer die eigene." "Jeder und jede ist gezwungen, eine eigene Sprache zu entwickeln. Jeder und jede muß dabei vorgehen wie ein Künstler oder eine Künstlerin..."
Die Demos des Feber Null setzten neben theatralen Äußerungen und Geräuschorgien auch die Produktion von tausenden differenzierten, mehr oder weniger originellen Transparenten, Plakaten und auch in ihrer Form diversifizierten Gefäßen für Zeichen und Symbole auf die Straße. Die Wiederentdeckung der revolutionären Plakatkunst brachte Blüten des Wortwitzes und Sprachgefühls hervor, der Erschaffung und Verfremdung von Symbolen wie auch die stilgerechte Vermarktung als Stickers, Buttons und T-Shirt-Kollektionen vom Textiltheater bis zu resistancewear. Da wurde regierungskritisch ("Stürzt das blauschwarze Hodenkartell!", "Reprivatisiert die Regierung!") und personenbezogen polemisiert ("$PRUNG IN DER $CHÜ$$EL", "Feel the Rage, Haider!" "Wolfgang Haider - Nein danke"), durch kleine Bedeutungsverschiebungen Differenz erzeugt ("Wer hat uns verraten - Sozialdemokraten", "Freedom is not a Party"), entwendet und imageverschmutzt (das durchgestrichene Mascherl-Symbol, "Fliegen setzen sich ins Braune. Wir nicht!"), überaffirmiert ("Knüppeln - aber sicher!", "Widerstand ist zwecklos!"), verfremdet ("Bundesministerium für Widerstand". "Ministerium für Hygiene und Männerangelegenheiten"), ironisch auf die Diffamierung der Demos reagiert ("Wir machen weiter, bis wir bezahlt werden!", "Demonstrieren macht reich!"), übernatürliche Hilfe aus dem Kosmos der Popkultur herbeigeholt ("Batman ist auf unserer Seite") und extremindividueller Widerstand veröffentlicht ("Ich bin ein bezahlter bayrischer Berufsdemonstrant", "Achtung, Terrorist"). Da ist, um den im Mai Achtundsechzig angesichts der Muralia der Sorbonne euphorisierten Sartre zu zitieren, die Phantasie an die Macht gesetzt, aber diesmal ganz konkret und meist unter radikaler Betonung der individuellen Emotion: widerständige Subjekte, die auf die Verallgemeinerung und Verankerung in Gruppeninteressen pfeifen und ihrer Rage subjektivsten Ausdruck geben: "Michi gegen Haider!"
Besteht also die Differenz zwischen vor und nach der Bildung der Regierung nicht in der Änderung der polit-künstlerischen Strategien von einigen wenigen, sondern vielleicht in der endgültigen Konkretisierung des Beuysschen Imperativs? Alle Menschen werden Künstler als Effekt von Haider-Schüssel? Ist das jetzt endlich die politisierte Kehrseite der vielbejammerten Ästhetisierung und Kulturalisierung des Politischen? Ein unübersehbares politisches Zeichengewimmel, zusammengewürfelt, unkontrollierbar und ultimativer Ausdruck der Widerständigkeit des Subjekts?
Jein. Daß der Widerstand im Subjekt liegt, natürlich nicht dem bürgerlich-autonomen Subjekt, sondern einem verknoteten, fragmentierten wie vernetzten Subjektknäuel, das stimmt eben und es stimmt nicht. Es ist nur die eine, spezifische Seite des Widerstands, die andere betrifft die Assoziierung der Individuen. Random Society reicht nicht, es braucht auch Formen, in denen widerständige Inhalte Platz finden. Und die originellste Form der Organisation von Tausenden Individuen im Feber Null war die der wendigen und massenhaften Stadtbegehung.
Das ist keine dämonische Masse, Pöbel und niedrigste Weise von Subsistenz, damit Echo der Furcht vor inkommensurablen Veränderungen der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung (Hegel). Das ist keine regressive Masse, Ventil der Triebunterdrückung, das Führer reproduziert, um den Kampf aller gegen alle zu vermeiden (Freud). Das ist keine undurchdringliche und kompakte Masse, deren Reaktionen von den konterrevolutionären Instinkten des Kleinbürgertums bestimmt sind, leichte Beute für die Zwecke des Faschismus (Benjamin). Das ist keine dichte Masse, eine, die ihre Berührungsfurcht in der vielfachen Berührung durch die Masse aufhebt, Körper an Körper wie innerhalb eines Körpers (Canetti).
Im Gegenteil: Das ist eine undichte, fluktuierende, eine lockere Masse, in der die harte Realität radikaler Individualisierung als Fakt akzeptiert ist, die Verschiedenheit als Distinktionsmerkmal oder - einen Zahn weiter im Reflexionsrad - Effekt des Differenzkapitalismus gepflegt und gutgeheißen, der Effekt einer Überwindung der Berührungsfurcht also völlig ausgeschlossen. Das ist eine wendige Masse, die der Staatsmacht einen doppelten Freiraum abringt: im Benutzen der Öffentlichkeit der Straße, aber auch im Ausnutzen von Gesetzes-Freiraum. Damit wird implizit auch die Macht der Institutionen angegriffen: Die allgemeine Verregelung und die genau verordnete Form der Demonstrationsfreiheit dienen in der Regel der Reintegration der Opposition auf der Straße. Wo diese die Regeln unterläuft, wie in der Nichtanmeldung der Demos, der Unklarheit des Kurses und der starken Fluktuation, dort ist eine Integration, damit auch Vereinnahmung, nicht oder nicht so leicht möglich und daher doppelte Bedrohung für die Staatsmacht.
Es ist also auch und besonders eine nonkonforme Masse: nonkonform als unfaßbares Ganzes in ihrem Auftreten gegen die Regierung und die Staatsmacht, nonkonform in ihrer Absage an die Vereinheitlichung, in ihrem Bestehen auf der Differenz der Einzelnen. Walter Benjamins im Kunstwerkaufsatz entwickeltes Konzept von der Ablösung der klassisch-kontemplierenden Kunst-Rezeption der Vereinzelten durch die massenweise Rezeption in der Zerstreuung findet hier seine Weiterentwicklung in der Aktivierung der Rezeption. Es geht nicht mehr um die positiven Effekte von (Kunst-)Rezeption in Zerstreuung, sondern darüberhinaus um die der Aktion in Zerstreuung. So wenig Benjamins Theorie in der Praxis des Films als Kunst im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit eingelöst wurde, so sehr ereignet sich im Wiener Alltag des Feber Null eine Realisierung seines Programms der zerstreuten Masse. Die nonkonforme Masse ist eine Praxis, die Benjamins Vorstellung einer proletarischen klassenbewußten Masse in die heutigen Verhältnisse versetzt: aufgelockert und zur Aktion übergehend schafft sie den toten, undialektischen Gegensatz zwischen Masse und Individuum ab.
So entsteht paradoxerweise in den Demonstrationen des Feber Null ein sehr ähnliches Subjektbild wie jenes, mit dem Ortega y Gasset in seinem dekadenzrassistischen Gassenhauer "Der Aufstand der Massen" gerade den Gegensatz des Subjekts der Masse, nämlich das radikal-elitäre Subjekt beschreibt: "Sein Anschluß an die Gruppe ist sekundär und nachträglich gegenüber der Tatsache, daß er sich vereinzelt hat, und geschieht darum zum guten Teil aus Übereinstimmung im Nicht-Übereinstimmen." In der nonkonformen Masse hat das nonkonforme Subjekt einen Ort, an dem seine Differenz zur Masse aufgehoben ist. Keine Aufhebung im Sinne Canettis, kein rauschhafter Zustand, bei dem die Masse die höhere Einheit bildet, die mit Entgrenzung, "Erlösung von der Berührungsfurcht" und Entladung korreliert, keine Synthese, die einen gemeinsamen Körper herstellt. Die Aufhebung von Masse und Individuum in der nonkonformen Masse ist eine, in der beide Extreme, das Individuum und die Masse, ihre volle und autarke Bedeutung bewahren. Es geht also nicht um eine Destabilisierung des Subjekts, eine emotionale Entsubjektivierung, ob - wie bei y Gasset - als Entpersönlichung bejammert - oder wie bei Canetti - als Steigerung der Person in eine intensive Metastabilität bejubelt, sondern um ihr Gegenteil: um konstruktive Differenzerlebnisse, die die fließende Subjektkonstituierung stützen.
Zu den Canettischen Bedingungen der Masse stehen die Eigenschaften
der nonkonformen Masse als Gegenpole: statt Wachstum Fluktuation,
statt Gleichheit Differenz, statt Dichte Zerstreutheit und
Abstand, statt Richtung und Zentriertheit ständige Bewegung.
[aus: Gerald Raunig, Wien Feber Null. Eine Ästhetik des Widerstands, Turia+Kant: Wien 2000, S.46-52]