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05 2003

Dokumentarismus als Politik der Wahrheit

Hito Steyerl

Im Film "Die Marx-Brothers ziehen in den Krieg" gibt es eine berühmte Szene. Groucho Marx spielt darin den korrupten Präsidenten der von US-Hilfe abhängigen Balkanrepublik Freedonia. Der Spion Chico Marx verkleidet sich als Groucho und versucht dessen Kriegspläne zu rauben. Da man ihm seine Maskerade nicht glaubt, blafft er schließlich entnervt: "Who are you going to believe – me or your own eyes?"

Dieser paradoxe Ausspruch führt uns direkt in den Kern des Problems: Wem sollen wir glauben? Dem Präsidenten oder unseren eigenen Augen? Bestimmt die Wahrheit die Politik oder die Politik die Wahrheit? Es geht darum, wie die Produktion von Wahrheit immer schon von gesellschaftlichen Machtverhältnissen – in Chicos Bild vom Präsidenten höchstpersönlich – beeinflusst und normiert wird. Dieser Vorgang wurde von Michel Foucault als "Politik der Wahrheit" bezeichnet. Er beschreibt sie als Set von Regeln, die die Produktion von Wahrheit bestimmen, wahre von falschen Aussagen unterscheiden, und Verfahren der Wahrheitsproduktion festlegen. Wahrheit wird demnach immer auch politisch reguliert.

Den Begriff der Wahrheitspolitik möchte ich am Beispiel dokumentarischer Formen diskutieren. Auch hier werden Verfahren entwickelt, nach denen wahre von falschen Aussagen zu trennen sind, ebenso wie es bevorzugte Verfahren gibt, wahre Aussagen zu inszenieren und zu produzieren. Auch hier wird nicht Politik aus Wahrheit gemacht, sondern Wahrheit aus Politik.

Ein Beispiel für eine solche dokumentarische Politik der Wahrheit ist etwa die Bildpolitik, die im Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen um die Frage der Existenz von Massenvernichtungswaffen im Irak im Jahr 2002 und 2003 betrieben wurde. In dieser Auseinandersetzung gab es zwei Ansätze; den der Bush-Administration und den der UNO-Behörde Unmovic. Die Bush-Administration arbeitete, um ihre Behauptungen zu untermauern – exemplarisch in der berüchtigten Präsentation des Außenminsters Powell vor dem Weltsicherheitsrat –, mit Visualisierungen von Zeugenaussagen wie Zeichnungen oder Untertitelungen von akustischen Dokumenten wie Telefongesprächen. Ein weiterer Bestandteil ihrer visuellen Argumentation waren beschriftete Satellitenfotos und Luftaufklärungsbilder, in denen die Hauptaussage erst durch das Einfügen interpretierender Schriftelemente getroffen wurde. Jener indexalische Zeichenbezug, der traditionell als Kennzeichen dokumentarischer Authentizität gilt, war in den Bilder und Graphiken sehr dürftig und wurde hauptsächlich durch "geheime" Quellen gestützt. Dennoch setzte sich diese Wahrheitspolitik gegenüber jener der Waffeninspektoren durch, die wesentlich komplexere und kodifiziertere Verfahren der Wahrheitsfindung entwickelt hatten – so etwa den Abgleich der Hypothesen, die aus Photomaterial und Zeugenaussagen erstellt wurden, mit den Messungen und Informationen, die vor Ort angestellt wurden.

 

Regierung durch Wahrheit: Dokumentalität          

Wie wir an diesem Beispiel deutlich sehen, können dokumentarische Formen als eine Art der Regierung durch Wahrheitsproduktion wirken. Der Begriff der Gouvernementalität, zu deutsch "Regierung", wurde von Foucault entwickelt und als spezifische Form der Machtausübung bestimmt, die über die Produktion von Wahrheit operiere.[1] Das wesentliche politische Problem sei demnach nicht die Unwahrheit der gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern ihre Wahrheit, d.h. die Art, wie bestimmte Konzepte und Produktionsformen von Wahrheit Herrschaft hervorbringen, stützen oder aber umgehen bzw. in Frage stellen. Auch mediale Produktionen können die Rolle gouvernementaler Strukturen übernehmen und als gouvernementales "Scharnier" zwischen Macht und Subjektivierung funktionieren. [2]

Diese Schnittstelle zwischen Gouvernementalität und dokumentarischer Wahrheitsproduktion nenne ich "Dokumentalität". Dokumentalität beschreibt die Durchdringung einer spezifischen dokumentarischen Politik der Wahrheit mit übergeordneten politischen, sozialen und epistemologischen Formationen. Dokumentalität ist der Umschlagpunkt, an dem Formen dokumentarischer Wahrheitsproduktion in Regierung umschlagen – oder umgekehrt. Sie beschreibt die Komplizität mit herrschenden Formen einer Politik der Wahrheit ebenso, wie sie eine kritische Haltung gegenüber diesen Formen beschreiben kann. Hier verbinden sich wissenschaftliche, journalistische, juristische oder authentizistische Macht/Wissensformationen mit dokumentarischen Artikulationen – wie wir es in Powells Rede exemplarisch sahen.

Die Wahrheitspolitik der US-Administration ist ein perfektes Beispiel für das dokumentale Zusammenspiel zwischen Macht, Wissen und der Organisation von Dokumenten. Dokumentalität kann aber im Gegensatz dazu auch einen Versuch bedeuten, sowohl dominante Formen von Wahrheitsproduktion als auch von Regierung zu durchkreuzen und zu problematisieren, etwa wie im Versuch der Gruppe kinoki, eine sowjetische Rote Kinematographie[3] zu erschaffen. Deren Ziel war die Revolutionierung der Rezeptions- und Produktionspraxen durch die Mechanisierung des Auges und die planmäßige Organisation der Herstellung sowie die Ablösung des dominanten Spielfilms durch den dokumentarischen "Film der Fakten". Die Organisation des Films und die Organisation der Gesellschaft folgten denselben materialistischen, wissenschaftlichen und gleichzeitig konstruktivistisch-revolutionären Prinzipien.

In beiden Fällen entspricht die Funktion des Dokumentarischen jener von Regierungstechniken als "Machtform, die das Feld möglicher Handlungen von Subjekten durch die Produktion von Wahrheit strukturiert."[4] Auf dem Gebiet des Dokumentarischen geht es analog dazu ebenfalls darum, das Feld der möglichen Handlungen zu strukturieren, d.h. Handlungen (oder Haltungen) nahezulegen, vorzuschlagen, hervorzurufen, zu unterbinden oder umzuformen – wie etwa im Fall von Powells Präsentation vor dem Weltsicherheitsrat. Dokumentarische Formen bilden also in dieser Lesart weniger Wirklichkeit ab, als dass sie sie erst hervorbringen. Das Dokument funktioniert hier eher als heuristisches Instrument, das nicht einen Ist-Zustand festhält, sondern einen Soll-Zustand herbeiführen will.

Dokumente nehmen also oftmals den Charakter von Katalysatoren von Handlungen an, sie sollen jene Wirklichkeit erst herstellen, die in ihnen dokumentiert ist. Aber daraus – und das ist das Problem an Foucaults Konzept von Wahrheitspolitik - lässt sich keineswegs ableiten, dass jeglicher Begriff von Wahrheit kontingent und relativ sei. Denn auf der einen Seite ist die Artikulation, die Produktion und Rezeption eines Dokuments zwar zutiefst von Machtbeziehungen gekennzeichnet und beruht auf sozialen Konventionen. Auf der anderen Seite beruht die Macht des Dokuments aber darauf, dass es auch das beweisen können soll, was innerhalb dieser Machtbeziehungen unvorhergesehen ist – es soll das Unvorstellbare, Verschwiegene, Unbekannte, Rettende und sogar Ungeheuerliche zum Ausdruck bringen können – und somit die Möglichkeit zur Veränderung schaffen.

 

Ambivalente "Rettung"

In Bezug auf die Möglichkeit der Darstellung des Realen hat dieses Paradox der Wahrheit Walter Benjamin ausformuliert, als er sein Konzept des "dialektischen Bildes" in den Thesen "Über den Begriff der Geschichte"[5] zur Vollendung brachte. Dieses Konzept entwirft einen materialistischen Wahrheitsbegriff in der Repräsentation, der die Konstruiertheit jeglicher Darstellung und die trotzdem fortbestehende Unrelativierbarkeit von Wahrheit miteinander vermittelt. Das dialektische Bild ist insofern ein dokumentarisches, als es ein besonderes, nämlich historisch-materialistisches Abbild von Geschichte zeigt. Dabei ist für Benjamin dessen Wahrheit, die nur unter klar begrenzten Umständen fixiert werden kann, nicht relativ und kontingent:

"Wenn die Geschichte in einem aufblitzenden Bild zum Stillstand gebracht wird, ist dieses Bild keine subjektive Erscheinung, sondern bildlicher Ausdruck eines realen Ortes. Subjekt und Objekt fallen im dialektischen Bild zusammen."[6] 

Dieses Bild ist eine radikal antirealistische Konstruktion, in der sich gleichwohl "der reale Ort" abbildet, oder wie Adorno schreibt: die "objektiven Kristallisationen der geschichtlichen Bewegung"[7]. Es sei, so Benjamin "identisch mit dem historischen Gegenstand"[8]. Es ereignet sich in einem Zwischenraum, der aus der homogenen leeren Zeit und den sie konstituierenden Machtverhältnissen herausgesprengt wird. Das abrupte, revolutionäre Aufsprengen der herrschenden Zeit im dialektischen Bild, der Moment der Gefahr und die in diesem Intervall aufblitzende andere Form der Zeitlichkeit lässt eine Pforte entstehen, die Benjamin als Möglichkeit der Erscheinung des Messias und somit der Rettung interpretiert.[9]

In diesem Bild kollabiert nicht nur der Unterschied zwischen Objekt und Subjekt, sondern auch der Gegensatz zwischen der Wahrheit "an sich" und "für sich" wird dialektisch aufgehoben, und somit vielleicht auch "gerettet", im ambivalenten Sinne der dialektischen Aufhebung, die den Gegensatz gleichzeitig negiert, auf eine höhere Ebene hebt und ihn aufbewahrt. Emphatisch bejaht diese Möglichkeit etwa Siegfried Kracauer, der die "Errettung der äußeren Wirklichkeit" durch das Medium Film erhofft, dies aber mit technologischen Begriffen in einer "Affinität" dieses Mediums zur Wirklichkeit begründet.[10] Und ähnlich sieht es auch Jean-Luc Godard: "selbst tödlich zerkratzt, vermag ein kleines Rechteck von 35 Millimetern die Ehre der gesamten Wirklichkeit zu retten."[11]

So schreibt auch Georges Didi-Huberman angesichts der einzigen vier erhaltenen Fotografien, die Insassen von Auschwitz unter Lebensgefahr vom Vorgang der Massenvernichtung anfertigten, von "Bildern trotz allem"[12], die sich einem ungeheuren Vorgang der Auslöschung von Wirklichkeit und Gedächtnis entgegenstemmten. Zwei der vier Bilder wurden dabei aus dem "Schutz" der dunklen Gaskammer heraus aufgenommen, und zeigen die Verbrennung der Ermordeten in riesigen Gruben. Ein weiteres Foto zeigt den Vorgang der Entkleidung einer Gruppe Frauen unter freiem Himmel. Das letzte Foto zeigt eine verwackelte Ansicht des Himmels und einiger Äste und wurde offensichtlich gemacht, ohne durch den Sucher zu schauen. Die Produktion dieser Fotos vollzog sich anhand eines ausgeklügelten Zeitplans, der sich genau an die An/Abwesenheit deutscher Wachen anpassen musste. Es ist fast unnötig zu sagen, dass die Aufnahmen der Häftlinge unter Lebensgefahr entstanden.

Auschwitz war ein Territorium, das zwar eine eigene Fotowerkstatt besaß, das jedoch auf keinen Fall von Unbefugten fotografiert werden durfte. So entstanden tausende "offizieller" Fotos von Auschwitz, auf denen nichts, aber auch gar nichts vom dort stattfindenden Massenmord zu sehen ist. Mitglieder des polnischen Widerstands beschlossen daraufhin, Fotos der ungeheuren Verbrechen von Mitgliedern des dort tätigen sogenannten Sonderkommandos anfertigen zu lassen. Nachdem die vier Fotos belichtet worden waren, wurden sie unter großen Schwierigkeiten in einer Zahnpastatube aus Auschwitz herausgeschmuggelt. Der Zweck dieser Bildproduktion war die Erstellung von Beweisen für die Massenvernichtung.[13] Didi-Huberman vergleicht diese Fotos, die einzigen, die von Häftlingen eines Vernichtungslagers produziert wurden und erhalten sind, ausdrücklich mit Benjamins Konzeption des dialektischen Bildes und weist darauf hin, dass auch Hannah Arendt ähnliche Beschreibungen unerwartet und plötzlich artikulierter Wahrheit verwendet habe, als sie angesichts des Auschwitzprozesses schrieb:

"Anstelle der ganzen Wahrheit wird der Leser jedoch Momente der Wahrheit finden, und einzig vermittels dieser Augenblicke kann man dieses Chaos aus Grauen und Bosheit artikulieren. Diese Augenblicke tauchen unerwartet auf, wie Oasen in der Wüste. (...)"[14]

Die Momente der Wahrheit sind also ebenso eingesprengt in die Berichte bzw. Bilder der Vorgänge des Verbrechens, wie die messianische Zeit in Benjamins Konzeption der Jetztzeit. Dementsprechend weist Didi-Huberman darauf hin, dass auch die vier unter ungeheuren Anstrengung hergestellten Photos der Häftlinge von Auschwitz "Momente der Wahrheit" darstellten. Diese Formulierung bedeutet aber zweierlei: auf der einen Seite partizipieren sie, wie Benjamins dialektische Bilder, zweifellos an Wahrheit. Auf der anderen Seite sei es hingegen unstatthaft, "die ganze Wahrheit" von diesen Bildern zu verlangen. Es seien

"winzige Proben, die einer hochkomplexen Realität entnommen wurden, kurze Momente eines Kontinuums, das nicht weniger als fünf Jahre gedauert hat. Aber sie sind für uns – für unseren heutigen Blick – die Wahrheit selbst, das heißt ihr Relikt, ihr armseliger Überrest: das Sichtbare, das von Auschwitz bleibt."[15]

Die Bilder zeigen also Wahrheit – aber eben nicht die "ganze" Wahrheit. Sie erweisen sich als janusköpfiges Konstrukt, in dem "Momente der Wahrheit" artikuliert werden können.

 

Momente der Wahrheit

Auch Didi-Huberman artikuliert hier das Paradox, dass dieses Konzept der Bildlichkeit gleichzeitig vermittelt und unvermittelt, konstruiert und am Realen partizipierend gedacht wird. Das Bild zeige gleichzeitig Wahrheit und "Dunkelheit", also Unschärfe und andere Parameter, die die Bilder bis in die Unverständlichkeit abgleiten ließen.[16] Trotzdem sei diese unvollständige, teils verdunkelte und oft auch völlig unerträgliche Wahrheit aber die einzige, über die wir verfügten. Die Schwierigkeit für Historiker, mit diesen Bildern umzugehen, beruhe darauf, dass von diesen Bildern gleichzeitig zu viel und zu wenig verlangt werde: Verlangt man ihnen zuviel – die "ganze Wahrheit" - ab, tritt Enttäuschung ein: die Bilder sind plötzlich nur mehr abgerissene Fetzen, Filmstückchen, also inadäquat. Verlangt man zu wenig von ihnen und verweist sie in den Bereich des Simulakrums werden sie damit aus dem historischen Feld ausgeschlossen. Denn aus dem Simulakrumcharakter der Bilder schließen die Historizisten dann, dass das Universum der Lager überhaupt nicht repräsentierbar sei, da "es überhaupt keine Wahrheit des Bildes gibt, des fotografischen oder filmischen Bildes genau so wenig wie des gemalten oder geformten."[17] An beiden Polen dieser Verhältnissetzung zur Wahrheit versagen die Bilder also. Das Bild ist nicht wahrheitsfähig, was gleichzeitig bedeutet, dass es auch nachträglich eben jenem Abgrund der Auslöschung anheim fällt, dem es unter ungeheuren Anstrengungen zu entkommen trachtete.

Was aber, wenn diese Bilder insistieren? Wenn sie "trotz allem" repräsentieren, und zwar nicht nur irgendetwas, sondern die Wahrheit? Didi-Huberman benennt hier wiederum die Pole, zwischen denen das Paradox der Wahrheit sich abspielt: auf der einen Seite das ethisch absolut notwendige Insistieren (auf) einer geschichtlichen Wahrheit, die auch dann wahr bliebe, wenn jegliches Zeugnis von ihr vernichtet worden wäre; auf der anderen Seite die Einsicht, dass deren Wahrnehmung nur innerhalb einer medial (sozial, politisch) vermittelten und somit manipulierbaren und opaken Konstruktion geschehen kann.

Die vier Photos, von denen Didi-Huberman handelt, können als Momente der Wahrheit verstanden werden, die die fast geschlossene ideologische Decke der nationalsozialistischen Dokumentalitäten durchschlagen, innerhalb eines kurzen, unter ungeheuren Anstrengungen hergestellten Intervalls, in dem es zwar gelingt, das zu zeigen, was im faschistischen System unter allen Umständen unsichtbar und bildlos bleiben soll. Gesehen worden ist es allerdings damals nicht, und auch heute noch, so erzählt Didi-Huberman voller Abscheu, schrecken Historiker nicht davor zurück, die Bilder auf teils abscheulichste Weise zu manipulieren, um sie so als historische Dokumente "plausibel" zu machen. Was damit wegkadriert wird – die Schieflage des Ausschnitts, der dunkle Umriss der Gaskammer, aus der heraus zwei dieser Aufnahmen angefertigt wurden, die Unschärfen und Verwischungen –, sind eben jene Aspekte, denen sich der Benjaminsche Moment der Gefahr deutlich eingeprägt hat, der Moment einer gefährdeten Produktion eines winzigen Zeit-Intervalls, das die nationalsozialistische Kontrolle jeglicher Bildproduktion an einem genau begrenzten Ort durchschlägt.

Die "ganze Wahrheit" ergibt sich jedoch erst aus einer genauen Kontextualisierung, oder "Beschriftung" solcher Bilder, wie es etwa am Beispiel der Kontroverse um den Umgang der Wehrmachtsausstellung mit einigen ihrer - Verbrechen dokumentierenden - Fotos nachzulesen ist. Nachdem von anderen Historikern in Frage gestellt worden war, ob die ausgestellten Fotos auch wirklich Verbrechen der Wehrmacht oder solche des sowjetischen Geheimdiensts zeigten, war eine exakte Rekonstruktion der Tathergänge erforderlich, die sich aus dem zu Sehenden keineswegs unmittelbar erschloss und den Historikern eben jene Aufgabe der genauen Lektüre und Beschriftung abverlangte, die Benjamin seinem Fotografen vorhergesagt hatte: "die Schuld" auf den Bildern aufzudecken und "den Schuldigen zu bezeichnen". Die Rekonstruktion führte dann nicht nur zur Neubeschriftung der fraglichen Bilder, sondern auch zu einer genaueren Reflexion über den Status von Fotografien als Dokumente.[18]

Anhand dieser Diskussion wird aber deutlich, wie dringend die Frage einer Politik der Wahrheit insistiert, die keineswegs durch rein relativistische Einwände abzuweisen ist. Der relativistische Einwand gegen das Bild als reine Konstruktion spielt hier dem revisionistischen Einwand gegen die Ermittlung der Täter in die Hände. Das Ergebnis wäre eine fortgesetzte Auslöschung von Momenten der Wahrheit. Die "Dringlichkeit" des Dokumentarischen liegt im ethischen Dilemma begründet, von einem Geschehen Zeugnis ablegen zu sollen, das als solches nicht zu vermitteln ist, sondern notwendig Elemente von Wahrheit ebenso wie von "Dunkelheit" enthält. Auf der anderen Seite kann diese Notwendigkeit einer "Rettung" wiederum in ein appellatives Moment umschlagen, das von humanitären und karitativen Motiven vereinnahmt und in einen liberal-humanitären Dokumentalitätsduktus überführt werden kann. Der Imperativ der "Rettung" wird hier zum interventionistischen Appell uminterpretiert und somit in neue Formen von Gouvernementalität und humanitärer, auf "Opfer" fokussierter Wahrheitspolitik gelenkt. Die elendsvoyeuristischen Bildformen, die dieser "Rettungs"-Gedanke entwickelt, gehören zu den potentesten Dokumentalitäten der Gegenwart und legitimieren militärische ebenso wie ökonomische Invasionen.

Das Problem, das hier entsteht, ist ein ethisches und politisches. Der Begriff der "Rettung" erweist sich als ambivalent, entsprechend der Politik der Wahrheit, in die er sich einschreibt: Auf der einen Seite verweist er, wie in Didi-Hubermans Beispiel, auf die Benjaminsche "Tradition der Unterdrückten"[19], die ein Geschichtsverständnis von uns verlangt, das die massiven Auslöschungen faschistischer Repräsentation zurückweist und den wenigen Gegenbildern, die unter unsäglichen Mühen entstehen konnten, gebührenden Respekt erweist. Wir müssen in diesem Fall darauf insistieren, die in den Fotos aufgehobenen "Momente der Wahrheit" gründlich zu lesen und zu bergen, anderenfalls es keinen Sinn mehr hat, überhaupt von Wahrheit zu sprechen. Auf der anderen Seite ist der Begriff der "Rettung" zutiefst verstrickt in vitalistische Konzeptionen einer Authentizität, die nur zu oft durch den voyeuristischen und instrumentalisierenden Verweis auf "nacktes Leben" abgesichert werden soll, laut Giorgio Agamben der Nullpunkt menschlicher Existenz[20]. Einerseits kann es ihm gelingen, wie in Didi-Hubermans Beispiel, eine herrschende, in diesem Fall faschistische Wahrheitspolitik herauszufordern. Andererseits wird diese, sich auf nacktes Leben berufende Wahrheitspolitik durch die Figur der "Rettung" erst konstituiert, wie z.B. in den humanitären Wahrheitspolitiken des Jahrtausendwechsels.

Es ist dieses Paradoxon, das von Chico Marx in seinem unwiderstehlichen Gedankenblitz zusammengefasst wurde: "Who are you going to believe – me or your own eyes?" Es gibt kaum eine Sichtbarkeit, die nicht mit Machtverhältnissen durchtränkt ist – sodass wir fast sagen können, dass das, was wir sehen, immer schon von Machtverhältnissen vorgesehen ist. Auf der anderen Seite insistiert auch der Zweifel an diesen Sichtbarkeiten mit einer Vehemenz, die eine eigene Form von Macht zu konstituieren imstande ist. Chicos Frage ist daher prinzipiell unbeantwortbar. Wir müssen sie offenlassen – und hoffen, dass diese verwirrende Lücke den Weg auf andere Sichtbarkeiten freilegt.

 

Literatur:

Adorno, Theodor W. (1970). Über Walter Benjamin. Frankfurt/Main, Suhrkamp.

Agamben, Giorgio (2002). Homo Sacer. Frankfurt/Main, Suhrkamp.

Anderson, Dag T. (2000). Destruktion/Konstruktion. Benjamins Begriffe. Frankfurt/Main, Suhrkamp.

Arendt, Hannah (1967b). Wahrheit und Politik. Wahrheit und Lüge in der Politik. München, Piper: S. 44–92.

Benjamin, Walter (1966). Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt/Main, Suhrkamp.

Benjamin, Walter (1978). Geschichtsphilosophische Thesen. Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsaetze. Frankfurt/Main, Suhrkamp.

Benjamin, Walter (1982). Gesammelte Schriften. Frankfurt/Main, Suhrkamp.

Didi-Huberman, Georges (2003). Bilder trotz allem. Über ein Stück Film, das der Hölle entrissen wurde. Unveröffentlichtes Vortragsmanuskript, gehalten an der Akademie der Bildenden Künste Wien, 14.12.02. Wien.

Godard, Jean-Luc (1984). Einführung in eine wahre Geschichte des Kinos. Frankfurt/Main.

Hamburger Institut Für Sozialforschung (2002). Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941-1944. Ausstellungskatalog. Hamburg, Hamburger Edition.

Handelman, Susan (1991). Fragments of Redemption. Bloomington/Indianapolis, University of Indiana Press.

Hattendorf, Manfred (1999). Dokumentarfilm und Authentizität. Ästhetik und Pragmatik einer Gattung. Konstanz, UVK Medien.

Kracauer, Siegfried (1964). Theorie des Films. Frankfurt/Main, Suhrkamp.

Lemke, Thomas (1997). Eine Kritik der politischen Vernunft. Hamburg, Argument Sonderband neue Folge AS251.

Pasquino Pasquale, Fontana Allessandro (1978). "Wahrheit und Macht" Gespräch mit Michel Foucault vom Juni 1976. Dispositive der Macht. Berlin, Merve.

Vertov, Dziga (1998). Vorläufige Instruktion an die Zirkel des Kinoglaz. Bilder des Wirklichen. Texte zur Theorie des Dokumentarfilms. Eva Hohenberger. Berlin, Verlag Vorwerk: S. 87-93.



[1] Lemke 1997, S. 32.

[2] Zu diesen Begriffen s.a. Lemke 1997, S. 31.

[3] Vertov 1998a, S. 88.

[4] Lemke 1997, S. 348.

[5] Benjamin 1978, S. 93.

[6] Anderson 2000, S. 147–185, S. 181.

[7] Adorno 1970, S. 24

[8] Benjamin 1982, S. 595.

[9] Benjamin 1978, S. 94.

[10] Kracauer 1964, S. 11.

[11] Jean-Luc Godard, Histoire(s) du Cinéma, Paris 1998, S. 86; zit. nach Didi-Huberman 2003.

[12] Didi-Huberman 2003, S. 17 f.

[13] Didi-Huberman 2003.

[14] zit. nach Didi-Huberman, S. 18. Original in: Hannah Arendt, Der Auschwitzprozess. In : Nach Auschwitz. Essays und Kommentare I. Hg. Eike Geisel und K. Bittermann. Berlin, ed. Tiamat. S. 99–136, S. 102. Kursivierung im Original.

[15] Didi-Huberman 2003, S. 23.

[16] Didi-Huberman 2003, S. 19.

[17] Zit. nach Didi-Huberman 2003, S. 20. Original in Laurent Gerverau: "Représenter l´univers concentrationnaire". In: BÉDARIDA François, GERVEREAU Laurent, La Déportation et le Système concentrationnaire nazi, musée d'Histoire contemporaine, BDIC, 1995, S. 244.

[18] S. dazu auch Hamburger Institut für Sozialforschung 2002. insb. S. 108–120: "Die Fotografie gilt als das Medium, das die Wirklichkeit unverfälscht und wahrheitsgemäß abbildet. Dabei ist das Bild immer nur ein Ausschnitt dessen, was vor dem Objektiv geschah, es zeigt einen kleinen Moment aus dem Zeitablauf. Wie jedes schriftliche Dokument verlangt auch die Fotografie einen quellenkritischen Umgang. Anders als der abstrakte Text suggeriert das gegenständliche Bild dem Betrachtenden, er oder sie sei Zeuge des Geschehens. Die Fotografie ist eine noch wenig genutzte Quelle. Zu vielfältig scheinen die Probleme bei der Überprüfung von Authentizität und Wahrheitsgehalt zu sein. Gleichzeitig verstärken die fehlenden oder widersprüchlichen Angaben in den Archiven die bestehende Unsicherheit im Umgang mit bildlichen Quellen. Das methodische Handwerkszeug zur angemessenen Deutung von Fotos ist bisher kaum entwickelt" (S. 106).

[19] Benjamin 1978, S. 84.

[20] Agamben 2002, z. B. S. 17–21.