05 2003
Zur audiovisuellen Selbstbestimmung: Kinoki.Lumal
Realitäten träumen
Die einzige Form,
in der sich kulturelles Gedächtnis schaffen lässt, ist,
sich in den Träumen der anderen erinnert zu machen.
Das ist keine Metapher: so viele
Völker, die einem Krieg widerstehen, der kulturell,
medial und ökonomisch gegen sie geführt wird und der
sie aus dem Gedächtnis der Menschheit zu löschen droht,
finden ihre einzige und fragile Ruhe, indem sie sich
in den Träumen der anderen erinnert wissen.
Es sind diese Erinnerungen, die
die jeweils eigene kulturelle Praxis nähren, reflektieren
und vervielfältigen, und auf diese Praktiken stützt
sich das soziale Gedächtnis. In der alltäglichen Realität
verankert, gleichen diese Träume Werkzeugen, die befähigen,
das soziale Umfeld zu verändern und umzubauen.
Audiovisuelle Selbstbestimmung
hat die wichtige Aufgabe, diese kollektiven Träume vorzustellen,
aufzuklären und wiederzugewinnen. Sie will ein um die
Wertigkeit der kulturellen Träume bereichertes Bewusstsein
hervorbringen, indem sie zu ihrer Entwicklung durch
eigene Teilnahme beiträgt.
Träumende Wirklichkeit
In revolutionären
Zeiten scheint die Wirklichkeit Welten zu träumen, überraschend
und unerwartet in ihrem Willen diese Träume zu verwirklichen.
Die große russische Revolution zu Beginn des 20. Jahrhunderts
markiert, neben so vielen anderen großen Impulsen, auch
den Beginn eines Kollektivs von Träumern revolutionärer
Realität. Sie formt eine Handvoll Leute, die in ihren
Werken, die sie Kino-Arbeiten nennen, auf der Suche
sind nach einem wahrhaften Ausdruck revolutionärer Identität.
Sie sind begeistert von der Idee, im Reflex der Wirklichkeit,
der ihre Arbeiten erhellt, absolute Genauigkeit erreichen
zu können, und sie experimentieren und schöpfen eine
Vielfalt dokumentarischer Formen. Inspiriert vom Enthusiasmus,
die Kamera als mechanisches Auge zu sehen, das frei
ist von Vorlieben und Vorurteilen, benennen sie sich
in ihrem Manifest von 1924 folgendermaßen:
"Unsere Bewegung nennt sich
Kino-Auge. Wir kämpfen für die Idee des Kino-Auges und
wir heißen Kinoki."[1]
Die ersten Kinoki
schlagen eine grundlegende Methodologie vor, die seit
fast einem Jahrhundert Kino-Arbeiten und eine fortgesetzte
Reflexion über mannigfaltige Fragen der Repräsentation
und Selbstbestimmung hervorbringt:
"Mit den bescheidenen Mitteln,
die uns der Spielfilm überläßt und bisweilen mit überhaupt
keinerlei Mittel konstruieren wir unsere kleinen Kino-Arbeiten.
Der Erfolg oder Mißerfolg unserer Kino-Arbeiten hat
ausschließlich kommerziellen Charakter und beeinflußt
nicht die Nachdrücklichkeit unserer Bemühungen. Alle
unsere Kino-Arbeiten – die, die gelingen und die, die
nicht gelingen – erscheinen uns gleichwertig, weil sich
in ihnen die Idee des Kino-Auges verwirklicht und weil
jede 100 oder 700 schlecht aufgenommenen Meter Film
eine Lektion für die darauf folgenden 200 Meter sind.
Die Aufgabe der nächsten Arbeiten besteht darin, die
Forschung aufs Äußerste auszudehnen und die Beobachtungen
ständig zu verfeinern."[2]
Ihr Manifest gipfelt
in einer radikalen Demokratisierung der Kunst:
"Alle Menschen sind mehr
oder weniger Dichter, Maler oder Musiker. Wenn nicht,
dann gibt es weder Dichter, noch Maler, noch Musiker."[3]
Diese Verschrobenheit,
kulturelle Kreativität als populären Traum verstehen
zu wollen, sieht sich bald mit der Ernsthaftigkeit des
stalinistischen realen Sozialismus konfrontiert, der
ihre Ausübung und Entwicklung verhindert; die Kino-Arbeiten
der Kinoki beginnen zu versiegen:
"Wenn man keinen Film machen
kann, der Wahrheit enthält, soll man keinen Film machen.
Ein solcher Film ist nicht notwendig. Alle Mittel für
die Wahrheit."[4]
Nur wer die Wahrheit als alltägliche kulturelle Praxis träumt, gelangt zur Poesie der objektiven Realität. Die Verbindungen zu lösen, die das künstlerische Schaffen mit den populären Praktiken verknüpft, bedeutet die Nabelschnur durchzuschneiden, die die Träume mit den kulturellen Realitäten verbindet. Gezwungenermaßen von ihrem selbst bestimmten Ausdruck entfernt, gerät die Bewegung der Kinoki mehrere Jahrzehnte hindurch in Vergessenheit, bis der Fall des realen Sozialismus wiederum den Raum für eine erneuerte Praxis audiovisueller Selbstbestimmung eröffnet.
Vom Träumen und Wünschen
Die Kinoki des ausgehenden 20. Jahrhunderts bilden sich anhand der Analyse und Debatte der Ablehnung des Sozialismus in einem sechsten Teil der Erde. Ausgerüstet mit Kinoprojektionsapparaten von 35 und 16 mm, die sie vom verschwundenen Regime erben, gehen sie aufs Land, schaffen Wanderkinos an den Rändern der ehemaligen sozialistischen Republiken und suchen die Auseinandersetzung und den Dialog darüber, was sie als Wunschmaschinen bezeichnen.
"So viele Regimes scheiterten an der Unterschätzung der Kraft des Wunsches. Der Wunsch markiert den Ort des Kampfes um Selbstbestimmung im Nabel des Traums. Der Wunsch erstrebt nicht nur seine Fortsetzung und Vervielfältigung – der einzige Aspekt, auf den die kapitalistische Wunschproduktion reagiert –, sondern der Wunsch begehrt seine Verwirklichung im Herzen der kollektiven Träume."[5]
Den politischen Charakter
des Wunsches zu verneinen, reduziert die Träume auf
isolierte individuelle Zufälligkeiten, deren Verantwortung
dann Irrenanstalten und psychiatrische Behandlungen
übernehmen. Von daher die Notwendigkeit, die Haltung
und die Praxis zu verändern, in der audiovisuelle Werke
vorgezeigt werden, um die Kino-Theater zu verändern,
die ein steriles Genießen feiern, das dem audiovisuellen
Ausdruck entgegengesetzt ist, der sich durch den Eindruck
und die Verzückung auszeichnet. Die Kinoki verändern
dies durch den Einsatz mobiler Equipments, die sie in
öffentlichen Räumen, Arbeitsplätzen, Kantinen und Dörfern
installieren, um einen Dialog mit den Leuten zu beginnen,
der allen Beteiligten gleichermaßen zugute kommt: ZuschauerInnen,
VorführerInnen und SchöpferInnen, weil sich ihre Beziehung
zueinander während des Prozesses der Interaktion verändert
und weil dadurch ein gegenseitiger Austausch von Information,
Reflexion und Traum ermöglicht wird. Diese erneuerte
Praxis bringt wiederum den Wunsch nach einer Demokratisierung
der Künste hervor:
"Audiovisuelle Selbstbestimmung
ist: eingreifen in den Produktionsprozeß der Bilder
und machen, daß die Leinwand kollektive Träume und Wünsche
reflektiert."[6]
Das ausdrückliche Ziel der Kinoki ist es, die Konsumenten aus ihrer passiven Haltung zu locken und sie in Produzenten ihrer eigenen Bilder zu verwandeln, Schöpfer einer selbst bestimmten Identität, Darsteller der eigenen kollektiven Träume.
Ein Heer von Träumern
Die Winde der Veränderung
im Südosten Mexikos erinnern die Träumer der Welt an
die Blume des Wortes, die den Wunsch auffordert, in
den Träumen des indigenen Gedächtnisses zu erblühen.
Gleichberechtigte Welten träumend, schafft das Wort
Übereinkünfte und beginnt die Wirklichkeit zu verändern.
Durch die Interaktion im interkulturellen, multiethnischen
und polyphonen Dialog verändert sich Kinoki mit seiner
Ankunft in Kinoki.Lumal. Gewachsen um Lumal, das Volk
und die Erde der Maya-Tzeltal, beginnen die Kino-Arbeiten
mit Dörfern und Gesellschaften der Tzeltales; nächtens
unter dem bestirnten Himmel, oder unter einem Dach verwirklicht
sich, was Lumal Kino-Mekapal nennt: Video-Kino, das
mit dem Mekapal getragen wird, der unvergleichlichen
indigenen Trage-Erfindung.
Die Projektionen auf Großleinwand
verschaffen dem Kollektiv Zugang zur erstmaligen Begegnung
mit dem audiovisuellen Medium. Die Leute erlernen die
Handhabe und den Gebrauch des Mediums und suchen, analysieren
und projizieren audiovisuelle Arbeiten in den Dörfern,
die es so wollen.
Der Eindruck, den dies im sozialen
Leben hinterläßt, ist überwältigend: das Kino vermag
die Leute ohne Rücksicht auf politische, ideologische,
religiöse oder sexuelle Unterschiede zu versammeln.
Aufgrund dessen ist jede Funktion des kommunitären Videos
ein Beitrag zur Rekonstruktion des sozialen Geflechts
und zur Verständigung auch in bereits gespaltenen Dörfern.
Die Leute schätzen das Kino als Mittel transparenter
Information und gleichzeitig als intelligente Form der
Unterhaltung.
Dank der Wertschätzung, die die
Leute der Ankunft des Kino-Mekapal beimessen, das mit
einer Last von tragbaren Träumen in ihre Dörfer kommt,
entwickelt sich Kinoki.Lumal beträchtlich; die Kino-Arbeiten
der Gruppe verlieren ihren ausschließlich reproduktiven
Charakter und beginnen mit der Ausarbeitung, Schöpfung
und Produktion einer kollektiven indigenen Audiovision.
Indem sie sich in der Handhabe und im Gebrauch von Bild
und Tonaufzeichnungsmaschinen fortbilden, realisieren
verschiedene Dörfer und Gesellschaften einige ihrer
Träume mittels eigener Repräsentation. Die Arbeiten
werden später in denselben Dörfern vorgeführt und stärken
dieserart die Kommunikation zwischen allen, weil auf
diese Weise die Dorfgemeinschaften wiederum zu Schöpfern
und Darstellern in ihren eigenen Träumen, ihrer eigenen
Geschichte und Wirklichkeit werden.
Kinoki.Lumal bewegt
sich in Richtung der audiovisuellen Selbstbestimmung,
indem es einige der Übereinkünfte, die das Wort erlangt,
in die Praxis übersetzt:
"Es ist unabdingbar, den
indigenen Völkern ihre eigenen Kommunikationsmedien
zu übergeben, die eine bessere und neue Beziehung zwischen
den indigenen Völkern und zwischen ihnen und dem Rest
der Gesellschaft erlauben."[7]
Auf dem Weg haben
wir viele Dinge von den Leuten gelernt, und wir möchten
ihnen diesen Gefallen zurückgeben, indem wir ihnen
Kino zur Verfügung stellen, weil dieses Kino existiert
und bereits Hoffnungen entwickelt hat durch den kreativen
Beitrag der indigenen Bauern, die mit uns ihre Erfahrungen,
ihre Wärme und Emotion geteilt haben und uns ihren Rat
und ihre Ideen geben. Mit ihnen eine erneuerte kulturelle
Praxis träumend, versucht Kinoki.Lumal:
"die Planung, die Produktion
und die Verteilung einer kommunitären Audiovision zu
ermöglichen, das soziale Geflecht nach Möglichkeit zu
rekonstruieren, die interkulturelle Kommunikation zu
erleichtern und den Prozeß der audiovisuellen Selbstbestimmung
durch das Wiedererlangen des politisch-kulturellen Gedächtnisses
zu bestärken."[8]
Elemente einer traumwandlerischen Theorie
Formen indigenen Kinos
Frühe kinematografische
Theorie zu Beginn des 20. Jahrhunderts analysiert, daß
der Eindruck des neuen Ausdrucksmediums sich dem Schock
schuldet, dem unerwarteten Schlag, mit dem der Schnitt
den Blick überrascht, dem Wechsel der Perspektive, der
den gemeinen Sinn für Kontinuität stört, der Abruptheit
der visuellen Montage.[9]
Eine audiovisuelle indigene Theorie
wird sich anhand der Beobachtung der kulturellen Verschiedenheiten
im Umgang und Einsatz dieser strukturellen Charakteristika
entwickeln. Die verschiedenen Praktiken des indigenen
Kinos zeigen uns, dass die selbst bestimmte audiovisuelle
Repräsentation nicht auf dem Überraschenden und Abrupten
fußt; im Gegenteil schafft sie alternative audiovisuelle
Ausdrucksformen, indem sie versucht, ein kohärentes
und panoramaartiges Kontinuum zu repräsentieren.
"Wir versuchen Sequenzaufnahmen
zu entwickeln, um die Teilnahme der Zuschauer zu provozieren
und um die innere Kraft der kollektiven Anteilnahme
der Leute zu wecken."[10]
Wenn diese Sequenzen zur kollektiven Teilnahme einladen, dann weil sich in ihnen einige Züge des indigenen symbolischen Universums widerspiegeln. Ununterbrochene Aufnahmen, die eine zeitliche und räumliche Kontinuität schaffen, laden zu einer kontemplativen und harmonischen Lektüre ein. Wir träumen davon, dass eine solche kulturelle Praxis von einer Weltsicht vorgezeichnet ist, die die verschiedensten Elemente in eine Art von integralem Mosaik zu verschmelzen vermag. In der Sprache der Maya-Tzeltal finden wir ein Verb, das in seiner Bedeutung das weite Feld von Reflexion und Beobachtung absteckt: "snopel", das sowohl "denken" als auch "beobachten, um zu erkennen" ausdrückt.
Gleichermaßen scheint
es, dass in der Ablehnung der abrupten visuellen Montage
und im Gebrauch von Panoramasequenzen, die mit bestimmten
Abstand aufgenommen sind, um den Bildausschnitt der
Interaktion verschiedener Darsteller zu öffnen, sich
ausdrückt, was die indigenen Bauern so oft als die Charakteristik
des Lebens ihrer Vorfahren beschreiben: Respekt.
"Der Schnitt in die Großaufnahme
ist eine äußerst brutale Form, den Blickpunkt des Filmschaffenden
festzulegen und die eigene Interpretation der Wirklichkeit
dem Zuseher aufzuzwingen."[11]
Inhalte des indigenen Kinos
Indigene Leute ziehen
es aufgrund von kulturellen Traditionen vor, sich selbst
zuerst als Mitglieder einer Gruppe zu verstehen und
danach erst als isolierte Individuen; ihre Lebensweise
ist nicht individualistisch.
Die indigene Wirklichkeit konstruiert
sich gemäß einer komplexen Integration von allen und
allem, und indigenes Kino wird aufgrund dieses Verständnisses
vorgehen, das einen inhärenten Bestandteil ihrer Weltsicht
darstellt. Indigenes Kino wird kollektiv sein, weil
das indigene Leben selbst kollektiv ist; der Hauptdarsteller
dieses Kinos sind die Leute, ein kollektiver und zahlreicher
Darsteller löst den individuellen Helden ab.
Individuelle Dramas werden sich
nur entwickeln, je nachdem ob diese Erzählungen auf
den Geschichten des kollektiven Gedächtnisses basieren
und wenn diese Geschichten einen Sinn für das Kollektiv
haben und das Verständnis aller Leute fördern.
Der Prozeß der Schaffung des
Kollektivs ist das interne Motiv der indigenen audiovisuellen
Repräsentation und gleichzeitig seine qualitative Kraft:
der kollektive Darsteller ist Teilnehmer und Schöpfer
zugleich. Seine Anwesenheit kann mehr als die jedes
individuellen Darstellers über die objektive Geschichte
informieren und über die Distanz, die notwendig ist,
um einen reflexiven Zuschauer zu formen.
Mariategui, der große politische
Denker Perus, sagte, als er sich auf Konzepte der Freiheit
bezog, dass ein Indigena niemals weniger frei ist, als
wenn er alleine ist, und die selbst bestimmte Praxis
indigenen Kinos beweist dies auf ihre Weise: in den
Interviews fordern die Bauern die Anwesenheit ihrer
Genossen, um sich in Ruhe und Zuversicht darüber zu
befinden, was sie sagen werden.[12]
Die indigenen Leute besitzen
eine außerordentliche Fähigkeit, im Kollektiv zu handeln,
und sie gehen auf diese Weise vor, weil das ihre Form
ist, sich im symbolischen Universum zu verorten.
Der Traum des Schutzgottes[13]
Es war eine große
Ehre und Anerkennung der Kino-Arbeiten von Kinoki.Lumal,
als wir die Einladung des großen Komitees Ajaw Tepepul[14]
erhielten, gemeinsam mit ihnen einen Dokumentarfilm
über ihren wichtigsten Schutzgott, den alten Großvater,
den Rilaj mam zu erarbeiten. In vielen Aspekten war
die Arbeit über die Gottheit der Leute von Santiago
Atitlan wie eine Probe für so viele Reflexionen und
Träume über ein selbst bestimmtes indigenes Kino.
Der Schutzgott repräsentiert
den kollektiven Darsteller par exellence: in der Tradition
und in den Gebräuchen, die sein Andenken in der kulturellen
Praxis der Atzteken hervorbringt, handelt die Gemeinschaft
in stimmiger Art und Weise als der Interpret ihres kollektiven
Traumes.
Außerdem charakterisiert sich
dieser Traum durch den Wunsch, sich zu verwirklichen,
um die soziale Wirklichkeit zu verändern. Seit seinem
Ursprung bezeichnet der kulturelle Traum der Maya-Tzutuhil
den selbst bestimmenden Willen des Volkes: Die alten
Schutzgötter entscheiden, sich einen Behüter zu verfertigen,
sich einen Gott zu schnitzen. Was fremder Religiosität
wie ein Sakrileg vorkommt, markiert die innere Kraft
der Geste Tzutuhil: Als sich erweist, dass der Schutzgott
einen schelmischen Charakter besitzt, zögern die Alten
nicht, seine Arme und Beine abzuhacken, und seit dieser
Zeit auch bleibt er ständig angebunden.
Wortwörtlich verknotet im Herzen
des kulturellen Traumes hört der Schutzgott nicht auf,
im kollektiven Gedächtnis erinnert zu werden:
"Der Rilaj mam wird immer
begleitet, niemals beginge man die Würdelosigkeit, ihn
alleine zu lassen, und genauso wenig vergeht ein Tag,
ohne dass ihm ausreichend zu rauchen und zu trinken
angeboten wird."[15]
Indem wir den Schutzgott
und seine Brüderschaft auf dem Weg von einem Haus ins
andere begleiteten, traten wir ein in eine komplexe
Dynamik zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem. Wie das
Sichtbare auf das Unsichtbare verweist, so deutet die
Maske des Rilaj mam, als einzig Fassbares seines Gesichtes,
durch seinen Inhalt auf eine konkrete Lesbarkeit dessen,
was sie verbirgt:
"Der Mund und die Augen,
die die Maske hat, die Furchen an Mund und Augen haben
ihre Bedeutung."[16]
Durch die Teilnahme am kollektiven Traum vermag die Kino-Arbeit einige Aspekte zu erhellen, die Tradition und Brauch im Herzen der Dunkelheit situieren: Stück für Stück werden der Gottheit ihre Kleider und Tücher angezogen, Stück für Stück wird modelliert und artikuliert, was Gewand und Aufputz verbergen: den Tinej mam, den Stamm des heiligen Tz´atel, den Baum der roten Bohnen, der das Bild der Tzutuhil in ihrem symbolischen Universum trägt.
Geteilte Träume
Anhand der Reflexion des Bildes des Rilaj mam laden uns die Mayas der anderen Seite der Grenze ein, noch weiter zu träumen: Kann es sein, dass der große Ausgelassene in seinen nächtlichen Flügen in anderen Gegenden der weiten Maya Gebiete auftaucht, bekleidet mit seinen Gewändern und Hüten, und mit den Schwestervölkern scherzt? Ist der Bankil, der schelmische Bruder der Tzeltales, die Erscheinung des Bildes der Tzutuhil, der es nicht mag, wenn im Umgang mit ihm, uns der Respekt, oder der Schnaps, oder die Zigarren fehlen?
Hoffentlich wird diese kleine Reflexion über Kino und Traum nicht allzu literarisch genommen. Dass Kino träumen macht, erweist sich nächtens: nahe an der Leinwand, niedergelegt, um die panoramische Sicht zu genießen, schlafen die Kinder, ihre audiovisuelle Selbstbestimmung träumend.
[1] Kinoki Manifest, Moskau 1924; die historischen Kinoki sind: Jelisaveta Svilova, Dziga Vertov, Michail Kaufman, Boris Kudinov, Ilja Kopalin, Pjotr Sotov und Buschkin.
[2] Kinoki Manifest, Moskau 1924
[3] ibid.
[4] Dziga Vertov, Tagebücher, Moskau 1937
[5] Kinoki, Wunschmaschinenmanifest, Wien 1990
[6] Kinoki, Bilder träumen, Wien 1992
[7] Übereinkünfte von San Andres, Chiapas, 1996
[8] Kinoki.Lumal, Tragbare Bildwelten, Chiapas, 2000
[9] Walter Benjamin, Kleine Geschichte der Fotografie, Berlin, 1927
[10] Ukamao Gruppe, Jorge Sanjines Aramayo, Theorie und Praxis eines Kinos mit den Leuten, Mexiko, 1979
[11] ibid.
[12] So verwirklichen auch die Tzeltal Gesellschaften die Interviews in den Dokumentationen: "Kino-Mekapal" und "Kapel, Kaffee", Kinoki.Lumal, Chiapas, 2000
[13] In Ermangelung eines adäquateren Terminus übersetzen wir das Konzept des "Nawal" vorerst mit Schutzgott.
[14] Komitee für soziale Entwicklung, Santiago Atitlan, Guatemala
[15] Alberto Vallejo Reyna, Auf den Wegen der alten Schutzgötter, Guatemala, 2001
[16] Diego Chavez Petzey in: Der alte Großvater, Rilajmam, Kinoki.Lumal, 2002