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09 2025

Ergotherapie, Vagabondage und instituierende Sorge

Isabell Lorey

Francesc Tosquelles wurde 1912 in Reus südlich von Barcelona geboren und hatte durch seinen Patenonkel bereits als zehnjähriger Kontakt zur örtlichen Psychiatrie, dem Institut Pere Mata, sowie zu dessen Direktor, dem sehr reformorientierten Psychiater Emilio López y Mira. Tosquelles war seit Ende der 1920er Jahre involviert in den für Europa revolutionären dezentralen Ausbau der psychiatrischen Versorgung in Katalonien. Personen, die Unterstützung benötigten, wurden zum Beispiel durch Ambulanzen nahe bei ihren Freund:innen, Familien und Nachbar:innen versorgt und nur wenn nötig, in weiter entfernten psychiatrischen Kliniken untergebracht. Diese cormacale Psychiatrie war vor allem daran interessiert, Arbeiter:innen zu versorgen, deren psychische Erkrankungen im Kontext bürgerlich-kapitalistischer Verhältnisse entstehen.[1] Katalonien hatte zu dieser Zeit eine starke anarcho-syndikalistische und kooperative Organisierung, von der auch die comarcalen psychiatrischen Praxen affiziert waren.

Während der linksgerichteten Zweiten Republik von 1931-36 gelang es in Katalonien, einen Zufluchtsort für viele Linke und von Faschist:innen und Nationalsozialist:innen verfolgte Juden und Jüdinnen anzubieten; einige der Geflüchteten waren Psychiater und Psychoanalytiker aus Wien, Berlin, Budapest und Prag. Tosquelles bezeichnete in ironischer Anspielung auf das Wien Freuds, das Barcelona dieser Zeit als petite vienne, als „kleines Wien“. Inmitten dieser vor Antisemitismus und Faschismus fliehenden Migrant:innen entwickelte Tosquelles entscheidende Aspekte seines undogmatischen Denkens und seiner psychiatrischen Praxis, die er als Déconnage, als Déconniatrie bezeichnet. Anders als bei Lacan ist hier nicht die Sprache primär, sondern der Rhythmus, die Sequenz, das Komma, der muskuläre Tonus des Körpers, die Situiertheit. Nicht die wahre Bedeutung, die sichere Wahrheit ist von Interesse, sondern die Asignifikanz, das, was nicht (sofort) Sinn macht, was die Ordnung unterbricht und stört, der Un-sinn.[2]

Während des Spanischen Bürgerkriegs von 1936-39 versuchten die katalanischen Psychiater:innen die dezentrale Versorgung aufrechtzuerhalten und Tosquelles erhielt von seinem Mentor Mira den Auftrag, die cormarcale Struktur auch an der Front zu gewährleisten. Er wurde mit knapp sechsundzwanzig Jahren Klinikleiter in Almodóvar del Campo. Tosquelles betont immer wieder, dass vor allem in den Bürgerkriegssituationen deutlich wurde, dass die (männlichen) bürgerlichen Psychiater Angst vor dem Wahnsinn hatten. In der Erschütterung der bürgerlichen Ordnung erschreckten sie darüber, dass die überlegene Arztposition nicht mehr aufrechterhalten und der Wahnsinn nicht mehr auf Distanz objektiviert werden konnte. Eine dezentrale Versorgung lässt sich deshalb, so Tosquelles, viel besser mit Bauern und Bäuerinnen, Pastoren und Nonnen, aber auch Sexarbeiterinnen gewährleisten: Laien, Amateur:innen können besser improvisieren und experimentieren. Tosquelles sucht nach diesen „normalen Leuten“, mit denen er in psychiatrischen Diensten zusammenarbeiten kann, denn sie wüssten, wie soziale Beziehungen zu leben sind, wie ein gemeinsames Zusammenleben funktioniert. Dies einem auf sich bezogenen bürgerlichen Individualisten beizubringen, dauere viel zu lange. Tosquelles war seit seiner Jugend in anarchistisch-kommunistischen Gruppierungen politisch engagiert, zuletzt in der kleinen katalanischen revolutionären Partei POUM.[3]

Der Bürgerkrieg wurde verloren, im Juli 1939 verkündete Franco den Sieg, viele flohen, Tosquelles erst am 1. September, dem Tag als der Zweite Weltkrieg begann. Bei seiner Flucht über die Pyrenäen soll er, so seine eigene Geschichte, zwei Bücher dabeigehabt haben, die ihn neben Freud und Marx sehr beeinflussten: das eine ist die Dissertation von Jacques Lacan mit dem Titel De la psychose paranoïaque dans ses rapports avec la personnalité (1932),[4] das andere Buch, Aktivere Krankenbehandlung in der Irrenanstalt von 1929, ist von dem deutschen Psychiater und Direktor der Psychiatrie im nordrheinwestfälischen Gütersloh, Hermann Simon.[5]

Angekommen in Frankreich, landete auch Tosquelles nach kurzer Zeit in einem der Geflüchtetenlager, die die Franzosen im Süden des Landes eingerichtet hatten, um den vielen spanischen Republikaner:innen durch die dort herrschenden elenden Bedingungen deutlich zu machen, dass Frankreich, anders als erhofft, nur eine Durchgangsstation, eine Passage, auf ihrer Flucht werden sollte. Tosquelles blieb drei Monate im Lager Septfonds und war in dieser kurzen Zeit mit seinem mit ihm geflohenen Freund Jaime Sauret in der Lage, einen improvisierten psychiatrischen Dienst mit Laien einzurichten.[6] Die psychiatrische Baracke sollte am Rand des Lagers stehen und zwei Türen haben, so seine Bedingungen an den Lagerkommandanten. Eine Tür sollte vom Lager in die Baracke hereinführen und die andere aus der Baracke in die Freiheit hinaus. Denn, so Tosquelles, „es ist einfacher, aus einem Konzentrationslager durch das Passieren eines psychiatrischen Dienstes zu fliehen, als es auf direktem Weg zu tun“.[7] Psychiatrie verstand er als eine „Schule der Freiheit“, nicht individualistisch, sondern gesellschafts-politisch revolutionär: als Passage.

Es sprach sich in der Region bis zum Leiter der psychiatrischen Anstalt in Saint-Alban, im Département Lozère, herum, dass sich ein besonderer Psychiater in diesem Camp in Septfonds aufhielt, und bald erteilte der zuständige Präfekt Tosquelles die Erlaubnis, in Saint-Alban zu arbeiten. Zuerst nicht entsprechend seiner Erfahrungen als Arzt in Katalonien, sondern nur als Pfleger.[8] Es war Januar 1940. Im Juni besetzte Nazideutschland Frankreich.

Angekommen nach dem Entkommen aus verschiedenen Flucht- und Kriegsszenarien, verfügte Tosquelles in jungen Jahren bereits über profunde Erfahrungen in experimenteller und improvisierender Psychiatrie sowie über umfassende Kenntnisse verschiedener internationaler psychiatrischer Ansätze, vor allem aus seiner Zeit in Reus und im Barcelona des petite vienne – Erfahrungen und Wissen, die für Psychiater:innen in Frankreich außergewöhnlich waren. Wie Tosquelles in Le vécu de la fin du monde dans la folie, seiner 1948 verteidigten Dissertation betont, sind viele seiner Erfahrungen inmitten der „allgemeinen sozialen Umwälzungen“ in Europa zwischen 1936-1945 entstanden, als der Alltag in katastrophaler Weise von Unsicherheit, Sorge und der tiefen Erschütterung sozialer Beziehungen geprägt war.[9] „Katastrophische Erlebnisse vom Ende der Welt“ sind in der Psychopathologie oft jene, die von Personen erzählt werden, die an Schizophrenie leiden. Wie Deleuze und Guattari verwebt auch Tosquelles die Erfahrungen der Schizophrenie mit konkreten sozialen Analysen und den Möglichkeiten für nicht-katastrophische, emanzipatorische Transformationen des Zusammenlebens. Die eigenen Erfahrungen sind hilfreich für die therapeutische Arbeit mit katastrophischen Erlebnissen, wie etwa die „vraies phantasmagories[10], die wahren Täuschungen der Sinne, die Tosquelles selbst bei seiner Ankunft in Saint-Alban hatte. Er spricht von renaissance, von Wiedergeburt, die über das Erlebnis der Katastrophe hinausweist, „bei der man ein anderer werden konnte, ohne aufzuhören, selbst zu sein“, devenir autre, sans cesser d’être sois-même.[11] Solche Transformationen des devenir autre ereignen sich nie ohne soziale Beziehungen, nie ohne Beziehung zu anderen Menschen. Es ist ein Werden, das Beweglichkeit und Wanderung impliziert, „die Fähigkeit, sich selbst ins Exil zu begeben“[12] sowie die „Überwindung von mehr oder weniger geschlossenen oder vermeintlich geschlossenen Situationen“[13]. Tosquelles hatte mehrmals den nahen Untergang erlebt und diese Erfahrung in Richtung einer „Wiedergeburt“ passiert. Dieses vermutete unmittelbar bevorstehende Sterben bezeichnet er als depressions, die ihn nicht haben verzweifeln lassen, sondern sie ermöglichten den grundlegenden Optimismus in seiner therapeutischen Arbeit und auch die Affirmation in der déconnage.

Tosquelles war in Saint-Alban 1940 freilich nicht nur mit seinen eigenen katastrophischen Erlebnissen konfrontiert. Durch die Besatzung durch die Nazis flohen viele in den Süden Frankreichs, in die Zone libre. Paul Balvet, der Direktor des in der südlichen Zone gelegenen Saint-Alban öffnete das Asyl für die Aufnahme von Geflüchteten, was, so Tosquelles, „mehr als karitativ“ war, denn diese Aktivität hatte „große Auswirkungen auf das Krankenhaus“. Die Erlebnisse vieler Geflüchteter drangen in das Asyl hinein: „ein brodelndes Leben, eine Atmosphäre der Katastrophe und der Allgegenwart des Leidens, die den authentischsten Wahnsinn angesichts der allgemeinen Panik fast lächerlich erscheinen ließ.“[14] Diese Allgegenwart von katastrophischen Erlebnissen, diese Panik vor Verfolgung und Tod, von denen nun alle in Saint-Alban umgeben waren und die sich mit den Aktionen der Résistance verbanden, ließen sich nicht wegdrängen und ausschließen; man konnte sich den katastrophischen Erlebnissen nur zuwenden.

In der Aufnahme von Geflüchteten und auch dem Verstecken von Verfolgten zeigte sich der Unwille vieler Akteur:innen in Saint-Alban, das psychiatrische Asyl als eine abgeschlossene Anstalt des diagnostizierten individualistischen Wahnsinns zu betrachten, der von einer vermeintlichen Normalität außerhalb weggesperrt werden konnte. Stattdessen wurden therapeutische Praxen weiterentwickelt, mit denen das Überwinden geschlossener und aussichtsloser Situationen durch respekt- und vertrauensvolle soziale Beziehungen erlernt werden konnte. Dafür musste die Institution selbst als „offener Ort“ verstanden und aufrechterhalten werden. „Ob ein Ort offen oder geschlossen ist, hängt nicht nur von den Mauern ab. Er ist offen für (die Umgebung), für das wirkliche Leben“[15], schreibt Tosquelles.

Saint-Alban war 1940 eine Institution mit sechshundert Patient:innen, die keine der Einschließung mehr war, sondern sich bereits in einem Reformprozess befand.[16] Joana Masó hat daran erinnert, dass einige Frauen diesen Prozess voranbrachten. Nicht nur Germaine Balvet arbeitete ebenso wie ihr Mann, der Direktor des Asyls, als Psychiaterin in Saint-Alban, allerdings informell.[17] Sie spielte dort eine wichtige Rolle, denn sie hatte sich bereits in ihrer Dissertation in den 1930er Jahren mit den sozialen Beziehungen zwischen Kranken und Pflegenden befasst.[18] Die institutionellen und therapeutischen Veränderungen in Saint-Alban gingen in den 1930ern vor allem auf Agnès Masson zurück, die vor Paul Balvet das Asyl geleitet und mit ihrem „sozialistischen und feministischen Engagement“ den Reformprozess angestoßen hatte.[19] Bereits unter Massons Leitung (1933-36) verbinden sich Flucht, Migrationserfahrung sowie eine anti-faschistische Haltung mit einer modernisierten Psychiatrie. Masson musste als Gegnerin des Faschismus aus Italien fliehen, wurde 1927 in Frankreich eingebürgert und 1933 als erste Frau zur Direktorin eines französischen psychiatrischen Krankenhauses ernannt.[20] Sie ließ fließendes Wasser, Elektrizität, Zentralheizung installieren, neue Pavillons und eine Wäscherei bauen, sie schaffte den cabanon des fous[21] und die Zwangsjacken ab, und sie organisierte mit den Patient:innen eine Bibliothek und ein Kino.[22]

Bald nach Tosquelles‘ Ankunft wurde Lucien Bonnafé Direktor in Saint-Alban. Mit ihm übernahm 1942 ein linker Anti-Faschist die Leitung der Institution. Seit den 1930er Jahren verstand er sich als Surrealist und öffnete Saint-Alban für Intellektuelle und Künstler:innen und machte es zum Zufluchtsort für Juden und Jüdinnen sowie Widerstandskämpfer:innen der Résistance.[23] Saint-Alban wurde zum vielfältigen Asyl und hörte auf, ein einfaches Krankenhaus zu sein. Zwischen Gästen, Geflüchteten und Patient:innen fand ein wechselseitiger Austausch statt; was ‚drinnen‘ und was ‚draußen‘ war, war nicht mehr klar zu unterscheiden (was nicht als eine Auflösung des Asyls oder ein Niederreißen der Mauern misszuverstehen ist).


Sich auf schräge Weise verwandt machen

Es gibt eine Stelle, in der Tosquelles von seiner Amme spricht, wo sich in der Leichtigkeit der Erzählung einige Aspekte wiederfinden, wie er Versorgung, Austausch und die Bedeutung des Vagabundierens denkt – und was ‚queer‘ im Zusammenhang mit Tosquelles bedeuten kann.

„Ich machte eine Reihe von Steh- und Gehversuchen, eher bei meiner Amme als bei mir zu Hause. Sie war eine Bäuerin, die außerhalb der Stadtmauern von Reus weniger als einen Kilometer entfernt wohnte und das Gemüse und Obst von ihrem Hof auf dem Markt in Reus verkaufte. Ich wurde nicht von meiner Mutter gestillt. Was soll's: Die Dinge sind, wie sie sind. Bei meiner Amme, deren Sohn gerade gestorben war und die mich deshalb wie eine echte Mutter aufnahm, gab es Katzen und Hunde – und sogar einen Esel oder ein Pferd. Sie wissen, dass es sich dabei um Tiere handelt, die auf allen Vieren laufen und mir daher nicht lange als Vorbild dienen konnten. Mir war es viel wichtiger, auf zwei Füßen zu stehen.“[24]

Die Verhältnisse, in denen Tosquelles lernt, auf seinen beiden Füßen zu stehen und zu laufen, sind nicht die der ‚leiblichen‘ Familie. Mit der Ernährung durch die bäuerliche Amme werden die bürgerlichen Familienkonstruktionen von Anfang an gesprengt. Die Mutter ist nicht die primär Versorgende, die Amme wird zur weiteren Mutter. Tosquelles hat also mehrere Mütter. Zugleich werden durch die vielfältige Sorge Klassenunterschiede neu verwoben, nicht nur die der Versorgung mit Nahrung und Zuwendung, sondern auch durch die trauernde Sorge der Amme um ihren Sohn. Nur weil sie ihn verloren hat (vielleicht spielt die höhere Kindersterblichkeit bei der ärmeren Landbevölkerung eine Rolle), kann sie ein anderes (bürgerliches) Kind versorgen und auf eine besondere Weise verwandt machen. Die zweite Mutter lebt jenseits der Stadtgrenze, die für die verschiedenen Versorgungsverhältnisse passiert werden muss, wenn das Kind zur Amme aufs Dorf kommt und wenn die Bäuerin ihr Gemüse auf dem städtischen Markt verkauft. Verschiedene Versorgungs- und Austauschverhältnisse sind in die Umgebung eingelassen, verbunden mit dem Austausch von Nahrung auf dem städtischen Markt und an der Brust, der ökonomisch, physisch und psychisch zugleich ist.

Eine weitere Dekonstruktion der ödipalen Familie ereignet sich durch die umfassende solidarische Verschwisterung. „Ich hatte keine Geschwister, ich habe sie erfunden, und deshalb […] kann ich Sie als meine [Geschwister] betrachten. Die ganze Welt kann mein Bruder sein.“[25] Blutsverwandtschaft spielt keine Rolle. Wie es nicht nur die eine Mutter gibt, gibt es auch nicht den einen Vater: „Ich hatte von Anfang an mindestens zwei oder drei Väter. Meine Mutter hat mich nicht nur den anderen Tosquelles vorgestellt. Sondern sie hat mich auch meinem Patenonkel vorgestellt, der ihr Bruder war.“[26]

Auf einem Treffen von Psychiatern in Paris spricht Tosquelles einmal von „Poly-Vätern“ und kommentiert diese Situation: „Es gab Kollegen, schlimmer als pflichtbewusste Katholiken, die sagten: ‚Es gibt nur einen Vater!‘ Ich antwortete: ‚Mehrere Väter! Deshalb kann ich auch mit Leichtigkeit von einem zum anderen passen.‘“[27] Und weiter: “Ich glaube, ohne meine Beziehung zu meinem Vater zu sehr zu idealisieren oder die Gewalt des Ödipus zu leugnen, dass ich immer der Freund meines Vaters war. Mein Vater war immer mein Freund…”[28]

Tosquelles ersetzt die ödipale Familie nicht nur durch ein weitläufiges Verwandtmachen, sondern auch das Vater-Sohn Verhältnis durch Freundschaft.[29] Die Vaterfigur ist keine Autorität mehr – weder eine familiale, noch eine gesellschaftliche; der Vater wird zum enthierarchisierten Komplizen; vervielfältigt und auf Augenhöhe ist so kein Patriarchat zu machen. Tosquelles dekonstruiert hier Freud und Lacan zugleich – der Vatermord wird überflüssig, der symbolische Vater fällt in sich zusammen.

Das Prinzip des Einen wird zurückgewiesen, und damit jede einheitliche, homogene normative Identitätsbildung.

Dieses queere Setting ist in hohem Maße politisch. Mit dem Fokus auf Multiplizität sind nicht nur heteronormative familiale Geschlechtseindeutigkeiten aufgebrochen; zugleich sprengt Tosquelles die liberale bürgerliche Trennung zwischen privat und öffentlich, mitsamt ihren geschlechtsspezifischen Zuordnungen. Mit der Mannigfaltigkeit kann das Passieren, die grenzüberschreitende Migration, das Vagabundieren zum zentralen Thema werden.

Die Subjektivierung, die Tosquelles in diesen Fabulierungen entwirft, bewegt sich in Verbundenheit mit Freund:innen in einem Verständnis von grundlegender Solidarität, passt zwischen verschiedenen Ordnungen, dekonstruiert, zersplittert die eine Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, verunmöglicht Heimelichkeit, und bleibt beweglich in der erweiterten potenziell befreundeten kooperativen und transversalen Umgebung. Diese fundamentale Dekonstruktion der heteronormativen Familie in eine erweiterte verschwisterte Verwandtschaft – Donna Haraway hat von oddkin gesprochen[30] – ist die Grundlage von Tosquelles' politischer und therapeutischer Praxis.

Und noch über diese Umgebung der vielen Väter, vielen Mütter, vielen Verwandten hinaus, lernt man laufen nicht durch eine Identifikation mit den Erwachsenen, auch nicht mit anderen Kindern, sondern mit Hühnern. Tosquelles erinnert sich in L’enseignement de la folie an das Federvieh im Hof seiner Amme:

"Das erste Tier, das mir sehr geholfen hat, aufrecht zu stehen und zu gehen, war ein Huhn – oder besser gesagt, Hühner. Ich lief so schnell ich konnte hinter ihnen her ... Sie standen auf ihren zwei Pfoten und pickten vagabundierend überall dort, wo es Körner und gelegentlich auch viele kleine Steinchen gab. Wenn die Hühner mit den Flügeln flatterten, dann nie, um weit oder hoch zu fliegen. Ich glaube, dass das ein Hinweis auf meinen mäßigen Ehrgeiz ist.

Nebenbei bemerkt: Als ich zum ersten Mal herumtollte, interessierte mich der Unterschied zwischen Hennen und Hähnen nicht: Beide waren ‘Hennen’. Vielleicht ist es auch das winzige Volumen von Gersten- und Weizenkörnern, dem ich mein anhaltendes Interesse an den klein[st]en, alltäglichen Dingen, den Nichtigkeiten [den petits riens] verdanke, die für das Leben und Überleben eines jeden Menschen unerlässlich sind."[31] 


Vor der Ordnung

Es sind die Armen und Besitzlosen, die im Land umherstreichen; ‚Landstreicher‘ werden sie im Deutschen genannt. Das deutsche Verb ‚streichen‘ wird bereits im 16. Jahrhundert als ‚faul‘, ‚ohne Beschäftigung herumstreichen‘ verwendet.[32] Oft ohne festen Wohnsitz, gelten die Herumziehenden als unstet, auch im Sinn von ‚instabil‘ und zugleich wird ihnen eine undisziplinierte, eine „wilde Unabhängigkeit und Freiheit“[33] zugeschrieben. Sie streichen durch die Umgebung der Sesshaften und deren bürgerlich kapitalistische Ordnung. Sie befinden sich in ungefügiger Freiheit vor der Ordnung.

Vor allem in Deutschland werden die, die man als ‚Irre‘ bezeichnet, im 16. Jahrhundert aus den Städten verjagt.[34] Im 17. Jahrhundert beginnt man damit, die Wahnsinnigen zu „internieren“, und zwar zusammen mit den armen Ungefügigen vor der Ordnung: man mischt die Irren mit einer Bevölkerung, so Foucault in Wahnsinn und Gesellschaft, „mit der man ihnen eine Verwandtschaft zugesteht“, eine Verwandtschaft des Vagabundierens.[35] Die verwandten Vagabundierenden – die Armen und die Irren – werden kriminalisiert, verfolgt und eingesperrt. Am Beginn des Industriekapitalismus gelten sie alle als arbeitsscheu und unproduktiv. Auch die Irren werden „in die Verfolgung des Müßiggangs mit einbezogen“[36], so Foucault. Sie werden der „sozialen Nutzlosigkeit“ bezichtigt.[37] In Frankreich steckt man alle Müßiggänger:innen in Arbeitshäuser – der Zwang zur Arbeit setzt sich durch.[38] Auch in England und Deutschland wird im 18. Jahrhundert die Repression gegenüber den Vagabundierenden mit „Nützlichkeit“ legitimiert: aus Ausschluss wird ausbeutender Einschluss. Die Arbeitskraft soll nun auch in den Internierungshäusern – errichtet nicht selten „an den industrialisiertesten Punkten des Landes“ – produktiv gemacht werden. Zudem soll die Einsperrung in Zeiten von Arbeitslosigkeit „gegen Agitation und Aufstände“ schützen.[39]

Zum Ende des 18. Jahrhunderts entdeckt man dann die „Notwendigkeit, den Geisteskranken eine besondere Pflege zu geben“[40], sich in besonderem Maße um sie sorgen zu müssen. Doch es funktioniert nicht mit diesen Internierungshäusern für alle Vagabundierenden. Anfang des 19. Jahrhunderts verschwinden sie schließlich, weil sie als „Gefängnisse des Elends“[41] gelten. Viele dieser Häuser werden später als Psychiatrien genutzt.[42] Die soziale Frage musste anders beantwortet werden.[43]

Foucault zitiert einen Frederick Morton Eden, der sich am Ende des 18. Jahrhunderts darüber beklagt, dass Vagabundierende „wie Wilde [leben], ohne verheiratet, begraben, getauft zu sein; und diese ausgelassene Freiheit ist schuld daran,“ so Eden, „daß so viele Menschen Gefallen am Vagabundieren finden.“[44]

Offensichtlich ist das Vagabundieren auch mit nicht-bürgerlicher Vergeschlechtlichung und Sexualität verbunden, mit dem Ungezähmten, Undisziplinierten, mit dem, was in diesem Sinne „wild“ ist, schräg, fremd und queer, mit nicht-identitären Lebensformen. Es ist eine Praxis vor der Ordnung. Ganz wesentlich hat das Vagabundieren mit der Verweigerung von Arbeit und damit mit Besitzlosigkeit zu tun. Vagabundierende sind das Gegenteil der ‚anständigen‘, ‚normalen‘ Leute.

Wenn Tosquelles in seine therapeutische Praxis das „Recht auf Vagabundieren“ einschreibt, dann geht er vom Vagabundieren aus, ohne es bändigen zu wollen. Ganz im Gegenteil arbeitet er bewusst mit der vagabundierenden Inventionskraft vor der Ordnung. Deshalb spreche ich von vagabundierender Psychiatrie als einer Psychiatrie, die das Vagabundieren der Armen und der Irren gleichermaßen berücksichtigt und sie ontologisch, zeitlich sowie räumlich vor der Ordnung situiert.


Hermann Simon

Ich möchte den Gedanken weiterführen, dass vagabundierendes Umherirren kriminalisiert, durch Arbeitszwang, Nützlichkeitsdiskurs und Produktivität gebändigt und beruhigt wurde. Erinnern wir uns: Tosquelles hat 1939 bei seiner Flucht über die Pyrenäen nicht nur Lacans Dissertation bei sich, sondern auch Hermann Simons Aktivere Krankenbehandlung in der Irrenanstalt. Das Buch erschien zehn Jahre zuvor, 1929, und ist die Beschreibung des systematischen Einsatzes von Ergotherapie in der Psychiatrie.

Der deutsche Psychiater Simon, geboren 1867, weiß, dass die „Beschäftigungsbehandlung“[45] bereits „seit Jahrhunderten“ praktiziert wurde.[46] Er kritisiert, dass Arbeit als Therapie durch die seit Ende des 19. Jahrhunderts dominante Dauerbettbehandlung und Dauerbäder in den Hintergrund getreten war; Entlassungen wurden massiv erschwert, lebenslange Anstaltsaufenthalte waren die Regel.[47] Das Besondere an Simons Kritik dieser auf Bett und Bad konzentrierten Anstaltsfürsorge ist, dass er das sogenannte „Anstaltsmilieu“ für Hospitalisierung und das Entstehen chronischer Krankheiten mitverantwortlich macht. Die „langdauernde Bettlage“ führe zu „geistiger Isolierung“, schreibt er, zum „Verlust der geistigen Regsamkeit, zum Stumpfsinn, zur geistigen Verödung“.[48] Er spricht von „Krankheitserscheinungen“ des „Anstaltsbetriebes“ und davon, dass für die Institution selbst eine Therapie gefunden werden muss: eine „Milieutherapie“.[49] Er versteht Therapie als „Umweltgestaltung“, weil die unmittelbare Umwelt Auswirkungen auf die Kranken habe, deshalb brauche es eine „freundliche und heitere“ räumliche Umgebung. Aber auch die „lebendige Umgebung“ durch Ärzte und Pflegepersonal beeinflussen die Stimmungen und das Krankheitsbild der Patient:innen. Als Alternative zur klinischen Psychiatrie entwickelt Simon über Jahrzehnte hinweg die „aktivere Krankenbehandlung“ sowohl durch therapeutische Gestaltung des Anstaltsmilieus, das heißt der Institution als Umgebung, als auch durch systematische Ergotherapie.

Eher zufällig und aus der Not heraus kann er damit 1905 beginnen, als er die westfälische Anstalt in Warstein übernimmt, die zwar nach seinen Wünschen errichtet wurde, allerdings noch nicht fertig ist als er als Direktor antritt. Aufgrund mangelnder Arbeitskräfte setzt Simon mehr improvisiert als zielgerichtet Patient:innen zur Fertigstellung der Anstalt ein (vor allem für Erd- und Gartenarbeiten). Nach kurzer Zeit wird klar: Der verstärkte Arbeitseinsatz verbessert das Anstaltsklima erheblich. Die Atmosphäre wird „viel ruhiger und geordneter“[50], die Patient:innen sind weniger gewalttätig. Bisher eher abwesende Kranke werden regsamer und aufmerksamer. Als Simon die Warsteiner Anstalt kurz vor dem Ersten Weltkrieg verlässt, sind neunzig Prozent der Patient:innen regelmäßig beschäftigt.[51] Aus den improvisierten Arbeitseinsätzen entwickelt Simon im Lauf von zwei Jahrzehnten ein systematisches therapeutisches Konzept. Erst in den 1920er Jahren beginnt er damit, seine Erkenntnisse in philosophische, erziehungswissenschaftliche und biologische Erklärungsansätze einzuordnen.[52]

Simon nimmt am Ersten Weltkrieg teil und führt ein Kriegstagebuch, aus dem seine konservative Haltung bereits deutlich wird. Er bedauert beispielsweise, dass „immer nur die Besten fielen und die Minderwertigen übrig blieben.“[53] Nach Kriegsende übernimmt Simon 1919 die neu gebaute Provinzheilanstalt Gütersloh und kann nun erstmals sein therapeutisches Konzept „unter laborähnlichen Bedingungen in die Praxis umsetzen“.[54] Er kann die Anzahl der Patient:innen regulieren und die Mitarbeitenden gezielt auswählen, damit seine „aktivere Krankenbehandlung“ überhaupt institutionell möglich wird. Denn die gesamte Einrichtung muss systematisch in die neue Milieu- und Arbeitstherapie eingebunden werden. Alles ist auf Simon als Direktor ausgerichtet; er hat kein Interesse, Hierarchien abzubauen, sondern will vor allem „Ruhe und Ordnung“ schaffen, in dem die Kranken aus therapeutischen Zwecken zu Tätigkeiten aktiviert werden. Jede:r wird individuell nach ihrer oberen Grenze von Leistungsfähigkeit in ein fünfstufiges Schema von einzelnen Beschäftigungen eingeordnet.[55] Durch die „volle Ausnutzung der Kräfte“[56] soll allmählich die Leistungsfähigkeit jedes Einzelnen gesteigert werden.

Simon verändert mit seiner „aktiveren Krankenbehandlung“ die Rolle von Ärzt:innen und Pflegenden und vor allem die psychiatrische Therapie auch deshalb grundlegend, weil er die gesamte Anstalt und das ärztliche Denken nicht an Krankheit ausrichtet, sondern an dem verbliebenen Vermögen der so genannten ‚gesunden‘ Person. Den Patient:innen sollen tendenziell die gleichen Pflichten und Verantwortungen wie Gesunden zugetraut werden. Die Patient:innen sollen „sozial geheilt“ und durch eine (wieder)erlernte „nützliche Selbstführung“[57] „geordnet […] in die soziale Gemeinschaft“[58] wieder eingefügt werden.

1924 wird Simons Ansatz durch einen Vortrag auf der Jahrestagung des Deutschen Vereins für Psychiatrie in Innsbruck bekannt; viele Kolleg:innen reisen daraufhin nach Gütersloh; 1927 lässt sich bereits von einer internationalen Berühmtheit der Gütersloher Anstalt und einer weitgehend positiven Rezeption des Simonschen Modells als epochalen psychiatrischen Ansatzes sprechen.[59]

Ab Mitte der 1920er Jahre, im Sozialstaat der Weimarer Republik, wird die mehr und mehr auf Entlassung ausgerichtete Simonsche Praxis zum Teil eines differenzierten psychiatrischen Versorgungsmodells mit „offener Fürsorge“, also ambulanten Versorgungsstellen, und Familienpflege: das Ziel – zumindest für die männlichen Patienten – ist die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt.[60] Damit werden die Pathologisierten durch die Ergotherapie dreifach produktiv: zum einen als Arbeitskraft in der Anstalt, dann entlasten sie die Anstalt und das Gesundheitssystem durch schnellere Entlassung, und schließlich wird der Arbeitsmarkt durch teilweise handwerklich ausgebildete billige Arbeitskräfte erweitert.

Simons Modell ist erfolgreich und auf Drängen von Kollegen legt er 1929 sein Buch Aktivere Krankenbehandlung in der Irrenanstalt vor.[61] Der erste Teil „Zur Arbeitstherapie“ ist der Wiederabdruck eines längeren Aufsatzes von 1927, der zweite Teil geht weit über die Beschreibung der Arbeitstherapie hinaus;[62] er ist doppelt so lang wie der erste und ordnet das Modell in biologische Zusammenhänge ein. Simon versteht die Psychiatrie nun als „angewandte Biologie, und angewandte Logik“[63] und verknüpft psychiatrisches Handeln mit der „allgemeinen Entwicklung der menschlichen Kultur und Zivilisation“[64]. Er formuliert klar: „Die Wurzel allen Übels […] liegt in der Untätigkeit. Müßiggang ist nicht nur aller Laster – [d.h. aller ‚unsoziale[n] Eigenschaften‘] –, sondern auch der Verblödung Anfang. Leben ist Tätigkeit!“[65] Simon verbindet Arbeit, Gesundheit und Leben; der Sinn des Lebens ist Tätigkeit, Müßiggang und Arbeitsunfähigkeit sind unsozial und damit eigentlich kein Leben. Diejenigen, die zur Ergotherapie nicht taugen, werden als „das Krankhafte, das Schwächliche“[66] der Gesellschaft markiert. Simon betont den „Kampf ums Dasein“, die Fortpflanzung des „(biologisch-) Stärkere[n]“. Er schreibt: „Die Umwelt reagiert […] mit erbarmungsloser Logik auf jede Schwäche […], jede Unzweckmäßigkeit mit der Vernichtung des Lebens.“[67] Der Arzt kämpft gegen das „Krankhafte“, das „Unsoziale“ und dient der Sicherung der ‚gesunden‘ menschlichen Existenz. Gewalt gegen Kranke und das Verweigern jeglicher Hilfeleistung erfährt so eine vermeintlich positive biologistische und sozialdarwinistische Begründung.[68] In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre zeigte sich Simon zunehmend mit einer völkisch-nationalen Gesinnung; sein Denken, so Bernd Walter, war „Teil und Reflex“[69] einer dominant werdenden biologistischen und rassenhygienischen Weltauffassung, die nicht zuletzt unter deutschen Psychiatern sehr verbreitet war. Simon forderte in Zeiten der Weltwirtschaftskrise und verschärfter Austeritätspolitiken zunächst die Reduktion sozialstaatlicher Leistungen für die als „krankhaft“ Diffamierten. 1929 hielt er, um „der großen Gefahr“ für das ‚Volk‘ entgegenzutreten, „die Sterilisation in möglichst weitem Umfang“ für angebracht, allerdings auf freiwilliger Basis.[70] Eugenische Positionen fanden Ende der 1920er Jahre noch keine Mehrheit bei den Anstaltspsychiatern, auch nicht bei Simon. Zuvor eingebunden in die vielfältigen Versorgungsinfrastrukturen des Weimarer Sozialstaates, äußerte er sich nun sehr kritisch gegenüber wohlfahrtsstaatlichen Leistungen und unterstrich die Notwendigkeit, statt der Versorgung die selbstverantwortliche biologische Leistungsfähigkeit zu fördern.[71] Simons Denken zeigt, dass sich biologistisch-sozialdarwinistisches Denken problemlos mit fundamentalen Reformansätzen verbinden ließ und in den Krisenjahren Ende der 1920er Jahre ins rassenhygienische Gedankengut kippte. Anfang der 1930er Jahre näherte sich Simon eugenischen Ideen. Seine Losung war nun: „Volk, werde hart!“[72], die Versorgung der Schwachen setzte er mit dem „Untergang der Kultur“ gleich, die Überlebensfähigkeit des ‚Volkes‘ galt als primär gegenüber den Bedürfnissen des Einzelnen. Belegt ist zudem, dass Simon von Hitler überaus begeistert war und die „NS-‚Machtergreifung‘ als ‚Gegenrevolution‘ gegen Marxismus und Weimarer ‚Parteienstaat‘“ begrüßte.[73] 1934 ging er in den Ruhestand.[74]


Tosquelles' Bezüge auf Simon

In seinem Buch Le travail thérapeutique en psychiatrie von 1967 äußert sich Tosquelles ausführlich zur Aktiveren Krankenbehandlung von Simon. Tosquelles ist vor allem davon inspiriert, dass Simon die aktivere Therapie auf das gesamte ensemble des Krankenhauses und alle attitudes des medizinischen und Pflegepersonals ausdehnt; dass er die Aktivitäten der gesamten Institution einbezieht, die „Eigenaktivität“ der Kranken berücksichtigt[75] und sie nicht wie üblich als verantwortungslos betrachtet. Verantwortung ist für Simon der nicht moralische Austausch mit der Umgebung. Tosquelles sieht Simon ganz klar als Wegbereiter der „institutionellen Psychotherapie“.[76]

Was Tosquelles entschieden zurückweist, ist, Verantwortung als ein „biologisches Erfordernis“ zu betrachten.[77] Sein ganzer Bezug auf Simon basiert auf der Destillation des „biologischen Denkens“ aus der Praxis der Ergotherapie und dem Verständnis von Umgebung, von entourage. Denn, wenn Tätigkeit und Arbeit als biologisch betrachtet werden, führt das, so macht Tosquelles sehr deutlich, „bekanntlich direkt oder indirekt zum Mord, und das war bei den Kranken in Deutschland der Fall. […] [D]iese Kranken waren einfach nur ‚biologische‘ Wesen, also Tiere. Die dem ‚biologischen‘ Gesetz des Milieus unterworfen waren. Die Geschichte ist zu jung, als dass wir sie vergessen könnten.“[78]

Was Tosquelles begeistert, ist, dass Simon sieht, dass die Institution krank machen kann, dass die Symptome der Kranken von der entourage hopitalier, der Umgebung des Krankenhauses, also von der „institutionellen Krankheit“[79] kommen können. Folglich, so Tosquelles, muss man, um die Kranken versorgen zu können, zunächst die Institution und die Nachbarschaft (le quartier) analysieren und versorgen. Man muss „das zwischenmenschliche Umfeld [, das milieu] einbeziehen, das sie [die Kranken] umgibt [entoure] und von dem sie abhängen“.[80] Die entourage, die Umgebung und die Nachbarschaften bestehen demnach aus sozialen und ökologischen Beziehungen, aus Austausch und Affizierungen; sie bilden das Milieu, das nicht einfach um jemanden herum ist, das nicht einfach jemanden umkreist; es ist auch nicht einfach wechselseitig relational. Die Krankheit entsteht im Milieu, das heißt, sie ist situiert, sie hat einen Ort, un lieu, und sie entsteht inmitten dieses Ortes. Sie ist durchdrungen von den sozialen Verhältnissen, menschlichen und nicht-menschlichen. Die Umgebung ist produktiv, sie konstituiert: Sie kann krank machen und sie kann unterstützen, heilen, sorgen, ermächtigen.

Für Tosquelles geht es bei der Ergotherapie deshalb auch „nicht darum, ‘die Kranken arbeiten zu lassen‘, um dieses oder jenes Symptom zu verringern. Es geht darum, die Kranken und das Pflegepersonal arbeiten zu lassen, um die Institution zu pflegen [soigner]: damit die Institution und das Pflegepersonal aus erster Hand erfahren, dass die Kranken menschliche Wesen sind, die immer für das, was sie tun, verantwortlich sind.“[81]

Die Institution darf kein Ort sein, an dem in stumpfer Wiederholung Tätigkeiten ausgeführt werden; kein Ort, der festbindet, streng verregelt ist, bürokratisch, in der Ordnung erstarrt. Die Institution ist auch kein Objekt und keine Struktur, die umsorgt wird, die Sorge umgibt die Institution nicht einfach. In Tosquelles‘ Verständnis von „soigner l‘institution“ besteht die Institution aus Bewegungen, ist dynamisch. Deshalb trifft „soigner l’institution“ nicht genau, um was es hier geht: Es ist das ensemble der Sorgebeziehungen, die jede einzeln und gemeinsam instituieren, die das entstehen lassen, die das schaffen, was ‚Institution’ genannt wird. Es ist die Sorge, die instituiert, die hervorbringt. Deshalb spreche ich von instituierender Sorge, von einer Sorge, die erfinderisch ist, die unentwegt und immer wieder anders, in Wiederholungen und Ereignissen, in dis/kontinuierlicher Renaissance instituiert.

Ausgangspunkt instituierender Sorge ist die nicht zu unterbindende Zirkulation von Affizierungen, der Austausch mit und die Bewegung durch soziale/n und ökologische/n Umgebungen. Die Zirkulation von Affizierungen ist unbändige Bewegung, sie ist wie das Vagabundieren vor der Ordnung. Sie ist nicht jenseits des Milieus, sondern verweist auf dessen Dynamik.

Das Besondere der therapeutisch instituierenden Sorgepraxis ist, dass sie sich um das Vagabundieren und die Affizierungen sorgt, ohne sie bändigen oder in Ordnung bringen zu wollen. Im Vagabundieren und in den Affizierungen wird Ungefügigkeit präserviert, gefördert, prozessiert: Die therapeutisch-instituierende Sorge ist eine geographisch diffundierende Praxis, sie ist selbst eine vagabundierende Psychiatrie, die sich in unterschiedlichen Phasen verschieden entwickelt und im revolutionären Katalonien „cormacale Psychiatrie“, in Saint-Alban „Geopsychiatrie“ und später in Frankreich „Sektorpsychiatrie“ genannt wird.[82] Bevor „irgendeine individuelle Kur begonnen wird“, wird „die Umgebung“ behandelt,[83] schreibt Guattari 1976 über die Praxis von Saint-Alban. Das Ziel ist nicht Ruhe, Ordnung und Hierarchie – auch das ist ein gravierender Unterschied zu Simon –, sondern der soziale Austausch und die Zirkulation der Affizierungen, die geprägt sind von Selbstverwaltung und Kooperativen, wie im von den Patient:innen organisierten Club Balvet, um den sich in Saint-Alban viele kulturelle Aktivitäten abspielen. Tosquelles beschreibt in dem Interview Une politique de la folie:

„Der Mensch ist ein Typ, der sich von einem Platz zum anderen bewegt. Er kann nicht die ganze Zeit am selben Ort bleiben. Das heißt, der Mensch ist immer ein Pilger, ein Typ, der woanders hingeht. Das Wichtigste ist der Weg.

Der Club war ein Ort, an dem sich die Menschen, die aus den verschiedenen Quartieren des Krankenhauses kamen, treffen konnten und Beziehungen zu Unbekanntem, Ungewöhnlichem und manchmal Überraschendem aufbauen konnten. Von diesem Moment an blieben ihre Reden und Handlungen nicht mehr auf das Leben innerhalb des Quartiers fixiert […].

Deshalb ist es notwendig – wie man in La Borde sagt –, dass es eine Freiheit gibt, herumzulaufen, dass man von einem Ort zum anderen gehen kann. Ohne dieses Vagabundieren, dieses ‚Recht auf Vagabundieren‘ […] kann man nicht von Menschenrechten sprechen. Das erste Menschenrecht ist das Recht auf Vagabundieren.

Der Club war ein Ort, an dem sich die Vagabundierenden treffen konnten, der Ort einer Praxis und einer Theoretisierung des Vagabundierens, des Ausbruchs, der Dekonstruktion-Rekonstruktion. Man muss sich erst von irgendwo trennen, um woanders hinzugehen, sich zu unterscheiden, um anderen, den Elementen oder den Dingen zu begegnen.“[84]

Während Simon in den 1920er Jahren immer anti-demokratischer wird, drehte sich im diffundierenden Saint-Alban alles um therapeutische Praxen zur demokratischen Mitsprache und Partizipation. In der déconniatrie müssen Patient:innen Einfluss auf ihre Aufenthalts- und Pflegebedingungen nehmen können. Jede:r Patient:in muss es möglich sein, eine „klare Vorstellung von seiner Arbeit als Teil der ‚Gesamtheit‘ von Arbeiten zu haben, die für sich genommen das ‚Aktivste‘ in dieser echten ‚institutionellen Therapie‘ darstellen“[85], schreibt Tosquelles. Ständig müssen die materiellen und sozialen Mittel für die institutionelle Psychotherapie geschaffen werden. Ergotherapie ist dann nie einfach Beschäftigung, sondern die „Wiedergewinnung und Umwandlung von irgendetwas in etwas Nützliches“.[86] Auch die Nützlichkeitskomponente übernimmt Tosquelles von Simon, subvertiert sie und wendet sie zugunsten der vagabundierenden Psychiatrie: die Praxis des Reparierens, das Wiederverwerten von Abfällen und Abfallmaterialien. Vor allem die Jungen tun das, schreibt er: „Sie kaufen Trödel auf dem Flohmarkt und bauen Fahrräder! Das erste Fahrrad brauchte fast ein Jahr, um zu fahren, die nächsten waren etwas schneller. Wir warten nicht darauf, dass die Verwaltung alle Werkzeuge kauft, sondern stellen sie selbst her.“[87]

Kooperatives sorgendes Instituieren will keinen Ort der Freiheit schaffen oder den Wahnsinn befreien. Wenn Tosquelles von einer „Schule der Freiheit“ spricht, steht nicht das Erlernen eines Lebens in Freiheit, eines Lebens „draußen“ im Fokus, nicht die Eingliederung in einen Arbeitsmarkt, nicht das Funktionieren in der kapitalistischen Ordnung. Leben ist nicht Arbeitsfähigkeit, nicht hierarchisiert durch Zugehörigkeit. Es ist Vielfalt, viele Väter, viele Mütter, making oddkin, kooperative Freundschaften. Kooperatives sorgendes Instituieren ermöglicht Prozesse, in denen Freiheit neu formuliert, als vagabundierende Freiheit neu erfunden wird.[88]

Ein psychiatrisches Asyl muss, gerade weil es den Wahnsinn nicht als eine Krankheit betrachtet, die von den gesellschaftlichen Verhältnissen isolierbar ist, eine Passage ermöglichen, „die Bedingungen für andere Wege“ schaffen.[89] Das Vagabundieren ist primär, vor der Ordnung, vor dem Normalen, es bedeutet nicht-identitäre Lebensformen, queer. Die Inventionskraft des Vagabundierens nährt die instituierende Sorge, die es undiszipliniert ausweitet und multipliziert.

 

[1] Vgl. Josep M. Comelles, “Forgotten paths: culture and ethnicity in Catalan mental health policies (1900-1939),” in: History of Psychiatry, 21(4), 2010, S. 406-423.

[2] Vgl. François Tosquelles, “Une politique de la folie. Entretien” [1987], in: Chimères. Revue des schizoanalyses 13, 1991, S. 66-81.

[3] Vor allem die POUM war Stalin ein Dorn im Auge, weil sie sich klar gegen die moskautreue Spanische Kommunistische Partei richtete (vgl. ebd.; sowie auch das Kapitel zu Tosquelles in Camille Robcis, Disalienation. Politics, Philosophy, and Radical Psychiatry in Postwar France, Chicago: University of Chicago Press, 2021; und Joana Masó (Hg.), Tosquelles. Soigner les institutions, Paris: L'Arachnéen, 2021).

[4] Jacques Lacan, De la psychose paranoïaque dans ses rapports avec la personnalité [1932], Paris: Seuil 1975; in deutscher Übersetzung: Jacques Lacan, Über die paranoische Psychose in ihren Beziehungen zur Persönlichkeit und Frühe Schriften über die Paranoia, Wien: Passagen 2002.

[5] Hermann Simon, Aktivere Krankenbehandlung in der Irrenanstalt, Berlin: De Gruyter, 1929.

[6] Vgl. Jacques Tosquellas, „La guerre d’Espagne vue par une personne dite de la deuxième generation,” in: Exils et migrations ibériques aux XXee et XXIee siècles 9-10(1), 2018, S. 259-276

[7] Giovanna Gallio, Maurizio Costantino, “The School of Freedom”, Interview mit François Tosquelles, in: Per la Salute Mentale / For Mental Health. Pratiche, ricerche, culture dell’innovatione / Practices, Research, Cultures in the Process of Innovation 4, 1987, S. 181-209, hier S. 186.

[8] Jean-Claude Polack in Angela Melitopoulos’ und Maurizio Lazzaratos Videoessay Déconnage (2012). Siehe den Beitrag von Angela Melitopoulos in dieser Ausgabe von transversal.

[9] François Tosquelles, Le vécu de la fin du monde dans la folie. Le témoignage de Gérard de Nerval, zuerst veröffentlicht von Éditions de l’Arefppi, 1986; als Neuauflage von Jérôme Millon in Grenoble 2012 herausgebracht, hier S. 14. – Alle Übersetzungen in diesem Text sind, wenn nicht anders angegeben, von der Autorin.

[10] Ebd.

[11] Ebd.

[12] Ebd., S. 211.

[13] Ebd., S. 210.

[14] François Tosquelles, «La Résistance: Saint-Alban”. Interview mit Lucien Bonnafé und Georges Daumézon, in: Recherches 17, 1975, S. 80-95, hier S. 83.

[15] Ebd., S. 86.

[16] Vgl. Gallio/Costantino, „School of Freedom“, S. 191; sowie Tosquelles, “Une politique de la folie”. – Zur Zahl der Patient:innen bei seiner Ankunft, siehe Tosquelles, «La Résistance: Saint-Alban”, S. 83.

[17] Tosquelles, «La Résistance: Saint-Alban”, S. 82.

[18] Ebd., sowie Joana Masó, „Du collectif avec des femmes. Soin et politique autour de l’hôpital psychiatrique de Saint-Alban, 1930-1960”, in: Cahiers du Genre 73, 2022, S. 233-262.

[19] Joana Masó erinnert auch ausdrücklich an das politische und pflegerische Engagement der Ordensschwestern des Saint-Regis Ordens (Masó, „Du collectif avec des femmes“, S. 238).

[20] Vgl. ebd., S. 239.

[21] Ein cabanon des fous ist ein Verschlag in Irrenhäusern für besonders unruhige Kranke. Ein carbanon ist ebenso ein dunkles Verlies in Gefängnissen.

[22] Vgl. Masó, „Du collectif avec des femmes”, S. 240. Siehe auch Masó (Hg.), Tosquelles, S. 174-187.

[23] 1933 gehörte Bonnafé (1912-2003) in Toulouse zur surrealistischen Gruppe „Trapèze volant“, zusammen mit Gaston Massat, Elise Lazes, Jacques Matarasso, Gaspard Gomis und Jean Marcenac.

[24] François Tosquelles, L’enseignement de la folie. Entretiens, Toulouse: Éditions Privat, 1992, S. 154 f.

[25] Tosquelles in der Langfassung des Interviews “Une politique de la folie”, zitiert nach der englischen Übersetzung von Angela Melitopoulos, Ways of Meaning. Machinic animism and the revolutionary practice of geo-psychiatry, London 2016 (nicht gedruckte Dissertation), S. 53: “I didn’t have any brothers, I invented them, that is why Madam, Sir, I can consider you as if you were my brothers. The whole world can be my brother.”

[26] Ebd.

[27] Ebd., S. 75-76.

[28] Ebd., S. 74.

[29] Elisabeth von Samsonow im Videoessay von Angela Melitopoulos und Maurizio Lazzarato, Déconnage, 2012.

[30] Donna Haraway, Staying with Trouble. Making Kin in the Chthulucene, Durham: Duke University Press, 2016, S. 2.

[31] Tosquelles, L’enseignement de la folie, S. 155, Herv. IL.

[32] Grimmsches Wörterbuch: „streicher“

[33] Grimmsches Wörterbuch: „Landstreicher“.

[34] Vgl. Michel Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1969, S. 25.

[35] Ebd., S. 92.

[36] Ebd., S. 91.

[37] Ebd., S. 92.

[38] Ebd., S. 80 f.

[39] Ebd., S. 85. Foucault bezieht sich auf England.

[40] Ebd., S. 91.

[41] Ebd., S. 88.

[42] Vgl. ebd., S. 89.

[43] Vgl. ebd., S. 424.

[44] Ebd., S. 84. Foucault bezieht sich auf Frederick Morton Eden, The State of the Poor, or an History of the Labouring Classes in England, 3 Bände, hier Bd. 1, London 1797, S. 160. Zur moralischen „‘libertinage der Bettler‘“, siehe Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft, S. 92 f.

[45] Hermann Simon, „Beschäftigungsbehandlung”, in: Oswald Blumke, Gustav Kolb, Hans Roemer, Eugen Kahn (Hg.), Handwörterbuch der psychischen Hygiene und der psychiatrischen Fürsorge, Leipzig: DeGruyter, 1931, S. 108-113.

[46] Ebd., S. 109; siehe auch Simon, Aktivere Krankenbehandlung in der Irrenanstalt, u.a. S. 8.

[47] Vgl. Simon, „Beschäftigungsbehandlung”, S. 109.

[48] Simon, Aktivere Krankenbehandlung in der Irrenanstalt, S. 5.

[49] Ebd., S. 52.

[50] Ebd., S. 10.

[51] Ebd.

[52] Vgl. Bernd Walter, „Hermann Simon – Psychiatriereformer, Sozialdarwinist, Nationalsozialist?“, in: Der Nervenarzt 73, 2002, S. 1047-1054, hier S. 1048.

[53] Ebd., S. 1047. Walter verweist auf Simons Tagebuch, aber zitiert nicht daraus

[54] Ebd., S. 1049.

[55] Simon, Aktivere Krankenbehandlung in der Irrenanstalt, S. 24-30.

[56] Simon, “Beschäftigungsbehandlung”, S. 109.

[57] Simon, Aktivere Krankenbehandlung, S. 13.

[58] Ebd., S. 3.

[59] Walter, „Hermann Simon“, S. 1049 f.

[60] Vgl. Urs Germann, „Arbeit als Medizin: Die ‚aktivere Krankenbehandlung‘ 1930-1960, in: Marietta Meier, Brigitte Bernet, Roswitha Dubach, Urs Germann, Zwang zur Ordnung. Psychiatrie im Kanton Zürich, 1870-1970, Zürich: Chronos, 2007, S. 201; siehe auch Bernd Walter, Psychiatrie und Gesellschaft in der Moderne. Geisteskrankenfürsorge in der Provinz Westfalen zwischen Kaiserreich und NS-Regime, Paderborn: Schöningh, 1996, S. 261-267, sowie Walter, „Hermann Simon“, S. 1050.

[61] Walter, „Hermann Simon“, S. 1050.

[62] Der erste Teil „Zur Arbeitstherapie“ ist ein genauer Wiederabdruck einer früheren Veröffentlichung (in: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie, Bd. 87, 1927; siehe Simons Angabe in „Zur Einführung“ am Beginn von Aktivere Krankenbehandlung) und ist vornehmlich praxisorientiert (s.a. Walter, „Hermann Simon“, S. 1050). Der zweite Teil (S. 50-167) trägt den Titel „Erfahrungen und Gedanken eines praktischen Psychiaters zur Psychotherapie der Geisteskrankheiten“. Schon am Beginn des ersten Teils spricht Simon von „Schizophrenen oder Minderwertigen“ (S. 5).

[63] Simon, Aktivere Krankenbehandlung, „Zur Einführung“.

[64] Walter, „Hermann Simon“, S. 1050.

[65] Simon, Aktivere Krankenbehandlung, S. 7. „… nicht nur aller Laster – bei unseren Kranken nennen wir es ‚unsoziale Eigenschaften‘ – sondern auch …“

[66] Ebd., S. 134.

[67] Ebd., S. 60.

[68] Genauer siehe Walter, Psychiatrie und Gesellschaft in der Moderne , S. 267-277.

[69] Walter, „Hermann Simon“, S. 1050.

[70] Zit. nach Walter, „Hermann Simon“, S. 1051: Archiv LWL, Bestand C10/11 Nr. 271, Niederschrift über die Konferenz der Anstaltsdezernenten am 24. und 25. Juni 1929 in Kiel und Neustadt in Holstein.

[71] Seine sozialdarwinistische/biologistische Kritik an sozialstaatlicher Fürsorge ging so weit, dass er 1931 vor einem Kreis evangelischer Akademiker in Gütersloh zum Thema „Minderwertigkeit und Fürsorge“ Folgendes äußerte: „Es wird wieder gestorben werden müssen. Es fragt sich nur, welche Millionen sterben müssen. Der Tod ist und bleibt auch eine Erlösung. Auch die Kirche beginnt zu erkennen, dass die starke Rücksichtnahme auf die Kranken und Schwachen eine Grausamkeit gegen die Gesunden und Tüchtigen ist […].“ Zit. nach Walter, „Hermann Simon“, S. 1053. Simon nimmt damit in gewisser Weise die vernichtenden „T4-Aktion“ von Rüdin diskursiv vorweg. 1946 hielt Simon seine Äußerungen „nicht mehr für taktisch-opportun […]. Damals hat ja niemand auch nur an die Möglichkeit solcher kommenden Ereignisse gedacht. Was ich in meinem damaligen Vortrag, dem ja auch viele Theologen beiwohnten, ausführte, richtete sich lediglich gegen die bevorzugte Verhätschelung alles Schwachen und Minderwertigen im Vergleich zu dem Tüchtigen und Gesunden, das auch der göttlichen Weltordnung widerspricht“. (Ebd., Fn. 13: Archiv LWL, Bestand 661/Nachlass Simon, Manuskripte, Vorträge, „Minderwertigkeit Fürsorge“ vom 22.10.1931, Blatt 9).

[72] Archiv LWL, Bestand 661/Nachlass Simon, Korrespondenz Deutscher Verband für psychische Hygiene, Schreiben Simons an den Vorstand vom 10.05.1931; zit. nach Walter, „Hermann Simon“, S. 1051, Fn. 6.

[73] Vgl. Archiv LWL, Bestand 661/Nachlass Simon, Persönliches, „Deutsche Politik“ vom 02.02.1933; Archiv LWL, Bestand 661/Nachlass Simon, Persönliches, „Revolution“, vom 24.06.1933; zit. nach Walter, „Hermann Simon“, S. 1052, Fn. 8 und 9. Zum Bezug Simons auf die NS-Machtergreifung, siehe ebd., S. 1053

[74] Zu den Umständen, siehe ebd.

[75] François Tosquelles, Le travail thérapeutique en psychiatrie [1967], Toulouse: éditions érès, 2022, S. 73 , Herv. i.O.

[76] Ebd., S. 80-83. 

[77] Ebd., S. 74 f.

[78] Ebd., S. 75 f., Herv. IL.

[79] Ebd., S. 76.

[80] Ebd., S. 79.

[81] Ebd., S. 79, Herv. i.O.

[82] Vgl. Tosquelles, “Résistance: Saint-Alban,” S. 89.

[83] Félix Guattari, Psychotherapie, Politik und die Aufgaben der institutionellen Analyse, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1976, S. 83.

[84] Tosquelles, “Une politique de la folie”, S. 77-78, Herv. I.L. – Die wuchernde Institution in Saint Alban wird paradoxerweise durch die deutsche Besetzung zunächst des nördlichen und westlichen Frankreich und die Kriegsereignisse am Beginn der 1940er Jahre begünstigt, weil die Beziehungen, die zu den Bauern, den Dorfbewohner:innen, aber auch zu den Gendarmen bestehen, helfen, die Netzwerke und Infrastrukturen der Résistance auszubauen. Tosquelles spricht von Gendarmen, Lehrern, Pfarrern und Notaren, „die in der Résistance aktiv waren“. (Tosquelles, “Résistance: Saint-Alban”, S. 89.)

[85] Tosquelles, Le travail, S. 107.

[86] Ebd., S. 109, Herv. i.O.

[87] Ebd, S. 100.

[88] Vgl. Gallio/Costantino, „School of freedom“, S. 199.

[89] Ebd., S. 202.