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09 2025

Lebensnormen, Lebensformen

Über die Begegnung zwischen Tosquelles und Canguilhem

Henning Schmidgen

J’ai appris avec tristesse la mort de Tosquelles.
Ma rencontre de cet homme, dans les circonstances que tu connais,
est un des événements, aussi mémorables qu’imprévus, de ma vie.

Georges Canguilhem an Lucien Bonnafé,
9. Oktober 1994[1]


Queer Tosquelles lässt sich nicht denken ohne einen physiologisch fundierten Begriff von Normativität. Die Fähigkeit, Werturteile zu fällen – also etwa das Nahrhafte vom Giftigen oder das Nützliche vom Schädlichen zu unterscheiden – ist nicht nur eine kognitive Kapazität, und sie ist nicht auf den Menschen begrenzt. Sie lässt sich bereits an einfachen Lebensformen erkennen. So haben vor einigen Jahren Experimente von Joseph Dexter, Sudhakaran Prabakaran und Jeremy Guawardena gezeigt, dass ein in diesem Sinne komplexes Verhalten selbst bei einfachsten Organismen zu beobachten ist. Wie Dexter, Prabakaran und Guawardena durch Versuche an Stentor roeseli – einem einzelligen, bemerkenswert hornförmigen Lebewesen – gezeigt haben, kommen Prozesse der Entscheidungsfindung und des Lernens schon bei Mikroorganismen vor, die über kein Gehirn und kein Nervensystem verfügen.[2]

Den Wissenschaftlern von der Harvard Medical School war es 2019 erstmals gelungen, jene Befunde zu bestätigen, zu denen der Physiologe Herbert Spencer Jennings bereits um 1900 gekommen war, und die in der Folgezeit durch eine Vielzahl von psychologischen und philosophischen Autoren rezipiert worden sind – von Sigmund Freud über Max Scheler, bis hin zu Kurt Goldstein und Georges Canguilhem.[3] Durch ebenso geduldige wie aufmerksame Beobachtungen an Protisten, unter ihnen Stentor roeseli, hatte Jennings gezeigt, dass diese „niederen Organismen“ beispielsweise bei ihrer Nahrungssuche ein durchaus wählerisches Verhalten zeigen. Im Anschluss avancierten diese „Elementarorganismen“ in bestimmten Bereichen der psychologischen und philosophischen Theoriebildung zu einer Art Paradigma der Beziehung von Organismus und Umwelt. Man denke etwa an den späten Freud, der sich in Jenseits des Lustprinzips im direkten Rekurs auf Jennings auf das reizbare „Bläschen“ von Protoplasma bezieht, das in seiner Auseinandersetzung mit der Umwelt fortwährend „Pseudopodien“ ausbildet, mit deren Hilfe es Außenreize „verkostet“.[4]

Der Blick auf diese Forschung und ihre Geschichte ändert nichts an der Provokation von Queer Tosquelles. Der Titel ist offensichtlich ein gezielter Anachronismus, eine ihrerseits „quere“ Verbindung, die sich zudem über die Richtung, in sie weist, noch nicht ganz sicher zu sein scheint. Wenn man unter „Queer Theory“ nämlich jene kritische und post-strukturalistische Theorieströmung versteht, die – hervorgegangen aus den Lesbian and Gay Studies – seit den frühen 1990er Jahren auf die Thematisierung von Gender und von jenen Sexualpraktiken zielt, die außerhalb von Heterosexualität existieren, wenn damit ein Diskurs gemeint ist, der durch Autorinnen und Autoren wie Gloria Anzaldúa, Judith Butler und Eve Kosofsky Sedgwick geprägt und maßgeblich durch Michel Foucault angeregt wurde,[5] dann hat François Tosquelles sicherlich nichts damit zu tun. Der Grund ist einfach: Das hauptsächliche Thema des katalanisch-französischen Psychiaters ist nicht Gender oder Sexualität, sondern die Frage des Wahnsinns, und seine theoretischen Referenzen sind schon aus zeitlichen Gründen kaum mit denen von Butler oder Kosofsky Sedgwick vergleichbar.

Lässt man sich aber auf einen physiologisch fundierten Begriff der Normativität ein, dann kann der fragliche Titel durchaus ein Interesse für sich beanspruchen. Eben das verdeutlicht die Begegnung, die sich in den 1940er Jahren in der psychiatrischen Klinik von Saint-Alban zwischen Tosquelles und Georges Canguilhem ereignet hat. Wie allgemein bekannt, versteckte sich der als Philosoph und Arzt ausgebildete Canguilhem im Sommer 1944 für einige Wochen in Saint-Alban, um Widerstandskämpfer behandeln zu können, die nach der militärischen Auseinandersetzung mit den deutschen Besatzern am Mont Mouchet verwundet worden waren.[6]

Nun ist Canguilhem einer der entscheidenden Vertreter eines Begriffs von Normativität, der auf eine im Leben selbst verankerte Fähigkeit des Urteilens und des Wählens zielt, und Tosquelles bezieht sich wiederholt zustimmend auf dessen Doktorarbeit über das Normale und das Pathologische, in der dieser Begriff entwickelt wird.[7] Wie wir im Folgenden sehen werden, spielt in diesem Zusammenhang das psycho-physiologische Paradigma der einzelligen Organismen eine wichtige Rolle. Tatsächlich ist die Amöbe, eine enge Verwandte von Stentor roeseli, das entscheidende Beispiel, an dem Canguilhem die Fähigkeit von Organismen verdeutlicht, selbst über die Formen und Normen ihres Lebens zu bestimmen, einschließlich ihrer Ausstattung mit Organen.

Dieser Kontext ist hier deswegen von Interesse, da neuere Diskussionen über Queerness sich explizit auf ein so verstandenes Konzept von Normativität berufen. Pierre Niedergang hat es in einem bemerkenswerten Buch Vers la normativité queer unternommen, die gegenwärtige Debatte durch den Rekurs auf Canguilhem zu befruchten. Niedergang setzt dabei an der „Normalisierung von Sexualität“ an, wie sie in den 1990er Jahren in französischen Queer-Diskursen kritisiert wurde. Bei Aktivisten und Schriftstellern wie Didier Lestrade und Guillaume Dustan habe sich zu dieser Zeit, nicht zuletzt in Reaktion auf den Kampf gegen AIDS, eine Vorstellung von Sexualität entwickelt, die sich selbst als weitgehend ungezügelt verstanden habe – als „sans contrainte“, mithin als „anti-normativ“ und sogar „non-normativ“. Dagegen argumentiert Niedergang, dass es diese unbändige Freiheit de facto nicht gebe, sondern es sich auch im Bereich von Queer-Praktiken letztlich immer darum handele, andere und/oder neue Normen zu etablieren.[8]

Für dieses Verständnis von Normativität, das den kollektiven Kampf um alternative Lebensformen in den Mittelpunkt rückt, beruft Niedergang sich auf Canguilhem, denn der habe gezeigt, dass eben dieser Kampf in den Prozess und das Phänomen des Lebenden tief eingeschrieben ist. Das Biologische und das Soziale sind demzufolge eng miteinander verbunden, was nicht nur inhaltlich, sondern auch theoriegeschichtlich als bemerkenswerte Wendung erscheint, denn Niedergang geht hier gleichsam von Foucault, dem oft zitierten Pionier der Queer Theory, auf dessen akademischen Mentor zurück. Niemand anderes als Canguilhem war es ja, der 1960 die Doktorarbeit von Foucault über die Geschichte des Wahnsinns begutachtete – übrigens auch deswegen, weil man in Canguilhems Umfeld von dem Aufenthalt in Saint-Alban wusste.

Das Argument von Niedergang wäre noch überzeugender ausgefallen, hätte es die Erkenntnisse einbezogen, die mittlerweile zu Canguilhems eigener Beschäftigung mit der Frage der Sexualität vorliegen. Wie Ivan Moja-Diez und Matteo Vagelli kürzlich gezeigt haben, hat Canguilhem in den frühen 1940er Jahren – will sagen, kurz vor Abfassung seiner Doktorarbeit über das Normale und das Pathologische – die Frage der vitalen Normativität auch in Hinsicht auf die Bestimmung des Geschlechts erörtert. Mit Blick auf klinische Fälle von Hermaphroditismus, wie sie in den 1930er Jahren etwa durch den Mediziner Louis Ombrédane beschrieben worden waren, hat er dabei die These vertreten, dass der entscheidende Faktor der Geschlechtsbestimmung nicht die Struktur der Sexualorgane sei, aber auch nicht in der mehr oder weniger vitalen Funktion dieser Organe liege. Der entscheidende Faktor sei vielmehr die „Wahl eines bestimmten Verhaltens“, das durch die wertende Aktivität des organischen Individuums hervorgebracht wird.[9]

Im Anschluss an diese Überlegungen argumentiere ich, dass die Denkfigur, durch die die Rede von Queer Tosquelles plausibel werden kann, aus zwei Elementen besteht: erstens, der Vorstellung von Organen, deren Wirksamkeit nicht durch ihre Struktur, aber auch nicht einfach durch ihre Funktion, sondern primär durch ihren Gebrauch bestimmt ist, wobei es übrigens nicht entscheidend ist, ob es sich um innere oder äußere Organe handelt (Organe sind nichts anderes als Werkzeuge) und ob diese von individuellen oder kollektiven Körpern, mithin ganzen Gesellschaften gebraucht werden. Auch die Technik kann also gemeint sein.

Der Gebrauch dieser Organe, nicht das Organ selbst, ist als normativ zu verstehen, und zwar in einem bestimmten Sinn. Der Gebrauch bringt nicht bestimmte Normen oder Standards zum Ausdruck, die im Vorfeld festgelegt worden wären. Vielmehr ist es der Gebrauch selbst, der die Normen definiert – und die ihnen entsprechenden Formen des Lebens.

Zweitens umfasst die fragliche Denkfigur die Vorstellung von so etwas wie einer flüssigen Matrix, einer weichen Umwelt, einem Magma, in dem die Organe existieren, aus dem sie hervorgehen, in dem sie wachsen und sich entwickeln, aber auch wieder verschwinden können. Mit Blick auf die Mikroorganismen ist dies jene dicke Flüssigkeit, jenes (Proto-)Plasma, in dem und durch das Amöben, Ciliaten (wie Stentor roeseli) sowie andere Protisten existieren. Mit Blick auf den Menschen ist es der „Körper ohne Organe“, den Deleuze und Guattari mit Blick auf die Erfahrung der Psychose, insbesondere im Anschluss an Antonin Artaud, beschrieben haben.[10] Und bei Institutionen wären dies die radikalen Offenheiten und Flexibilitäten der Institution, für die die therapeutische Arbeit von Tosquelles oder etwa von Jean Oury, dem späteren Gründer von La Borde, steht.

Die Grundintuition, die in dieser zweiteiligen Figur zum Ausdruck kommt, lässt sich mit einer Feststellung zusammenfassen, die sich in dem Vortrag findet, welchen Tosquelles 1947 an der ENS über „Psychopathologie und dialektischen Materialismus“ gehalten hat, übrigens vor einem Publikum, zu dem auch ein Medizinstudent namens Jean Oury zählte.[11] Mit Blick auf jenes Organ, das wir als Gehirn bezeichnen, erklärt Tosquelles darin, „dass dieses ein Organ ist, das im Lauf des Lebens erzeugt wird, und dass wir es in gewissem Maße selbst sind, die es erzeugen“.[12] Die Rede von Queer Tosquelles macht letztlich nur Sinn im Rekurs auf die damit umrissene Fabrik unter der Haut. Artaud hat sie beschrieben, und im Anschluss daran ist sie sowohl von Oury als auch von Deleuze und Guattari beschworen worden.[13]


1. Umrisse einer Begegnung

Ehre wem Ehre gebührt. Die erste historische Darstellung des Aufenthaltes, den Canguilhem in der Klinik von Saint-Alban absolvierte, findet sich 1986 im zweiten Band von Élisabeth Roudinescos Geschichte der Psychoanalyse in Frankreich, La Bataille de cent ans:

In Saint-Alban herrscht ein Durcheinander von Widerstandskämpfern, Irren und Therapeuten. Paul Éluard und Georges Sadoul verstecken sich dort und lesen Texte, die von Patienten verfasst worden sind. Im Juli [sic] 1944 entsteigt Georges Canguilhem dem Untergrund des Maquis, um dort einige Tage zu verbringen und in den umliegenden Bauernhöfen Verletzte zu versorgen.[14]

Roudinesco beschränkt sich auf das Wesentliche. Tatsächlich ist an dieser Stelle noch nicht die Rede davon, dass Canguilhem sich in irgendeiner Weise für die Klinik von Saint-Alban und die psychiatrische Arbeit von Tosquelles interessiert hätte. Der Autor des Versuchs tritt hier nur in seiner Rolle als Arzt der Résistance auf, der sich um andere Widerstandskämpfer kümmert, die in der Schlacht am Mount Mouchet verwundet wurden.

Im selben Jahr, ebenfalls 1986, spricht auch Tosquelles von diesem Aufenthalt, und zwar im Anhang zur Veröffentlichung seiner medizinischen Doktorarbeit. Die Arbeit über den Sinn des Erlebtens (vécu) in der Psychopathologie hatte er 1948 an der Ecole de Médecine in Paris eingereicht und verteidigt. Als er sie knapp vierzig (!) Jahre später veröffentlichte, beschrieb er im Anhang die vielfältigen Aktivitäten innerhalb der Klinik, die sich auf die künstlerische und literarische Arbeit bezogen. Dabei erklärte er:

Man muss in dieser Hinsicht auch noch die Anwesenheit von G. Canguilhem unterstreichen, mit seiner Neubestimmung der Grenzen und der Dynamik, die dem Normalen und dem Pathologischen eigen sind. Das war für uns eine große Hilfe. Nebenbei sei festgehalten, dass die Arbeiten von Canguilhem eine überaus feste Grundlage in der Gestalt-Psychologie fanden.[15]

Der Unterschied zu Roudinesco ist markant. Während diese ein präzises Datum nennt und nur kurz auf die Widerstandsaktivitäten von Canguilhem abhebt, verweist Tosquelles ohne Datumsangabe auf die Inhalte von Canguilhems historischer und theoretischer Arbeit. Statt dessen Aktivitäten im Widerstand zu erwähnen, bezieht er sich auf die Inhalte von Canguilhems medizinischer Doktorarbeit, dem bereits zitierten Versuch über einige Probleme, das Normale und das Pathologische betreffend.

Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass diese Doktorarbeit im Juni 1943 – also kurz vor dem Aufenthalt von Canguilhem in Saint-Alban – an der Université de Strasbourg verteidigt worden war. Zu diesem Zeitpunkt war die Universität allerdings von Straßburg nach Clermont-Ferrand verlegt worden, um sie vor dem Zugriff der Nationalsozialisten zu schützen. In der Folgezeit entwickelte sich die Université de Strasbourg zu einem wichtigen Zentrum von Widerstandsaktivitäten in der Auvergne. Canguilhem war auf militante Weise in diese Aktivitäten involviert, was unter anderem an seiner Beteiligung an der Schlacht am Mont Mouchet deutlich wird. Auch die Inhalte seiner Arbeit reflektieren dieses Engagement. Letztlich ist Canguilhems Verständnis von Normativität nicht von seinen Aktivitäten im Widerstand zu trennen. Es handelt sich um eine résistance de fond.[16]

Mit Saint-Alban war Canguilhem in doppelter Weise verbunden. Zum einen kannte er von dem Medizinstudium, das er Mitte der 1930er Jahre in Toulouse aufgenommen hatte, den Psychiater Lucien Bonnafé, der die Klinik von Saint-Alban seit 1943 leitete.[17] Zum anderen bestanden über einen seiner Studienfreunde und späteren Kollegen, den Psychologen Daniel Lagache, Verbindungen zwischen dieser Klinik und der Université de Strasbourg. Durch Vermittlung von Lagache wurden einige jüdische Studierende, beispielsweise Denise Glaser, vor dem Zugriff durch die Nazis in der Klinik versteckt.[18] Das hinderte die Besatzer allerdings nicht daran, im Herbst 1943 in Clermont-Ferrand Massenverhaftungen an der Universität vorzunehmen und mehr als hundert Universitätsangehörige (Studierende, Mitarbeitende, Professorinnen und Professoren) in deutsche Konzentrationslager zu deportieren – unter anderem in das KZ Buchenwald, in der Nähe von Weimar.[19]

Inwiefern Canguilhems Doktorarbeit für Tosquelles eine ‚große Hilfe‘ war, bleibt an dieser Stelle unklar, ebenso übrigens wie die Frage, was in diesem Zusammenhang unter „Gestalt-Psychologie“ zu verstehen ist. Auf Gestaltpsychologen à la Wertheimer, Köhler und Kafka bezieht sich Canguilhem in seiner Doktorarbeit nämlich nicht. Möglicherweise zielt Tosquelles mit diesem Label auf die holistischen Arbeiten des deutsch-jüdischen Neurobiologen Kurt Goldstein, insbesondere dessen Abhandlung Der Aufbau des Organismus. Diese Studie stellt in der Tat eine wichtige Grundlage für Canguilhems Arbeit dar, und sie wird bekanntlich auch von Tosquelles sowie von Oury beansprucht – nicht zuletzt deswegen, weil Goldstein im Aufbau ebenfalls auf die Arbeiten von Mikrobiologen wie Jennings rekurriert und die konstruktiven Aspekte des Organismus im Verhältnis zu seiner jeweiligen Umwelt betont.[20]

Im Anhang zur Druckfassung seiner Doktorarbeit bleibt Tosquelles bei der positiven Bewertung und theoretischen Verortung von Canguilhem aber nicht stehen. Er erwähnt auch eine gemeinsame Arbeit, die zwischen Canguilhem, dem Schriftsteller Paul Éluard, dem Psychiater André Chaurand und ihm selbst stattgefunden hat:

Ich bewahre noch wie eine Art von Schatz Texte auf, die sich auf unsere „Begegnungen“ […] beziehen, in welchen dieselbe Patientin (Melle. Co...) [sic] der Gegenstand einer poetischen Lektüre durch Paul Éluard und der Gegenstand einer phänomenologischen und existenzialistischen Lektüre von Canguilhem war… was durch eine Annäherung an dieselbe Patientin durch Chaurand mit dem Rorschach vervollständigt wurde und leider auch durch eine wirklich kurze und ungeschickte Skizze einer Furnierung durch psychoanalytische Begriffe von meiner Seite.[21]

Die Texte, von denen Tosquelles an dieser Stelle spricht, scheinen in seinem Nachlass nicht erhalten zu sein.[22] Aber zumindest der Beitrag von Canguilhem ist posthum veröffentlicht worden – 2015, im Rahmen der Ausgabe der Œuvres complètes. Wir kommen darauf zurück.

Dieser Veröffentlichung vorausgegangen sind einige Äußerungen Canguilhems, in denen er seinerseits auf die Begegnung mit Tosquelles zu sprechen kam. Die Gelegenheiten dazu wurden ebenfalls von der bereits erwähnten Élisabeth Roudinesco geschaffen. Bei einem Kolloquium, dass sie 1991 zum 30. Jubiläum des Erscheinens von Michel Foucaults Histoire de la folie organisierte – jener thèse also, als deren hauptsächlicher Gutachter er fungiert hatte – erläutert Canguilhem die Zusammenhänge, durch die der eigentliche Betreuer von Foucault, der Philosoph Jean Hyppolite, auf die Idee kam, ihn in dieser Funktion anzufragen. Ausschlaggebend sei sein Interesse für psychologische und psychiatrische Fragen gewesen:

Wenn meine medizinische Doktorarbeit von 1943 hauptsächlich Probleme der Physiologie betraf, legte es die Auseinandersetzung mit dem Normalen und dem Pathologischen nahe, sich auch auf Autoren wie Karl Jaspers, Eugène Minkowski und Henri Ey zu beziehen. Im Sommer 1944 habe ich als Mediziner im Widerstand in der Auvergne während einiger Wochen Verletzte im psychiatrischen Krankenhaus von Saint-Alban, in der Lozère, und in der Umgebung versteckt und gepflegt. Schon zuvor in Toulouse hatte ich den Direktor des Krankenhauses, Lucien Bonnafé, kennen gelernt. Er hatte den Arzt François Tosquelles bei sich aufgenommen, von dem man weiß, welchen Platz er seither in den Debatten um die Institutionelle Psychotherapie eingenommen hat. Ich habe bei einigen ihrer Arbeiten mitgemacht. Wir haben viel diskutiert. Ihre Herzlichkeit ist mir lebhaft in Erinnerung.[23]

Canguilhem bestätigt damit die Zusammenarbeit, die zwischen ihm, Tosquelles, Éluard und weiteren Kollegen stattgefunden hat.

Dass es dabei nicht nur um vielfältige ‚Diskussionen‘, sondern auch um tatkräftige Unterstützung ging, wird aber erst bei einer späteren Gelegenheit deutlich – in einem Interview, das Canguilhem im Gefolge eines wiederum von Roudinesco organisierten Colloquiums gibt. 1993 wurde das 50-jährige Jubiläum des Erscheinens seiner medizinischen Doktorarbeit über das Normale und das Pathologische gefeiert. In einem daran anschließenden Interview kommt Canguilhem erneut auf seinen Aufenthalt in Saint-Alban zu sprechen:

Ja, ich habe zwei Monate im Widerstand verbracht, an jenem Ort, der das Symbol der Résistance in der Auvergne geworden ist, d.h. dem Mont Mouchet, und da hat es sich ergeben, dass ich mit dem psychiatrischen Krankenhaus von Saint-Alban in Kontakt getreten bin, wo ich jemanden wiedertraf, den ich seit Toulouse kannte, nämlich Bonnafé, und einen aus dem frankistsichen Spanien geflüchteten Psychiater, der Tosquelles hieß und der seither berühmt geworden ist. Ich könnte Ihnen etwas erzählen über eine Befragung (interrogation), die ich unter der Anleitung von Tosquelles mit einer Dame im psychiatrischen Krankenhaus von Saint-Alban durchgeführt habe.[24]

Bei dieser Gelegenheit bleibt noch unklar, welche Art von ‚Befragung‘ gemeint ist. Erhellt wird dies erst 2015, durch die besagte Veröffentlichung des entsprechenden Dokuments in Band IV der Œuvres complètes.


2. Canguilhem in Saint-Alban

Über die Arbeit, die er im Sommer 1944 in Saint-Alban leistete, gibt ein Notizbuch von Canguilhem Auskunft. Es trägt den Titel „Beobachtung, die von Dr. Tosquelles angeregt und überwacht wurde. Aufenthalt in Saint-Alban vom 23. Juni bis 5. Juli 1944“ (Observation proposée et contrôlée par le Docteur Tosquelles. Sejour à St. Alban du 23 juin au 5 juillet 1944).[25] Aus den Notizen ist ersichtlich, dass die ‚Befragung‘, die Canguilhem durchführte, auf einer Anwendung des Rorschach-Tests beruhte. Neben Chaurand, der – wie Tosquelles mitteilt – diesen Test mit der fraglichen Patientin durchführte, ist dieses diagnostische Werkzeug also auch von Canguilhem benutzt worden.

Liest man die entsprechenden Ausführungen, wird deutlich, wieso Tosquelles die Untersuchung von Canguilhem als ‚phänenomenologisch und existenzialistisch‘ bezeichnet. Denn die Beschreibung, die Canguilhem liefert, hat Anklänge an die philosophische Terminologie von Jean-Paul Sartre, mit dem er an der ENS im selben Jahrgang gewesen war:

Wir zeigen Frau C. die Rorschach-Tafeln. Da es das allgemeine Problem der Ähnlichkeit ist, das sich für sie sehr ausdrücklich stellt, schien es interessant zu sein, die Kommentare festzuhalten, die neben den ausdrücklichen – und im Übrigen wenig systematischen – Versuchen zur Identifikation qua Ähnlichkeit gemacht wurden. [...] Im Allgemeinen geht Frau C. durch Unterscheidungen, Ausschlüsse, Verneinungen vor: Dies ist kein Bein, das ähnelt nicht einem Flugzeug. Die Welt ist für Frau C. aller Qualitäten beraubt. Es gibt für sie keine sinnlichen Eigenschaften mehr. „Was ich esse, ist null und nichtig.“ [...] Zusammengefasst: eine bemerkenswerte Erfahrung der Nichtung (néantisation).[26]

Es geht also nicht um eine stringente Anwendung des Rorschach-Tests, mit einer entsprechenden Auswertung. Canguilhem scheint eher ein exploratives, qualitatives Verfahren zu verfolgen, das vorwiegend an den Inhalten der Antworten interessiert ist, statt, wie beim ‚klassischen‘ Rorschach, auf deren formale Aspekte zu achten.

Die Rede von „Nichtung“ bezieht sich offensichtlich auf Sartre, aber nicht nur auf diesen. Zweifellos rekurriert Canguilhem damit ebenfalls auf die Terminologie und die Interessen von Tosquelles, die – wie die Doktorarbeit von 1948 deutlich machen wird – auf das psychotische „Erlebnis“ des Weltuntergangs ausgerichtet waren, welchem vor allem schizophrene Patientinnen und Patienten ausgesetzt sind. Tatsächlich wird die von Canguilhem untersuchte Patientin „Mme. C.“ kurze Zeit später auch in der Doktorarbeit von Tosquelles erwähnt werden (allerdings als „Mlle. C.“), wenn es um die Einsamkeit und Isolation der Schizophrenie geht. So gibt Tosquelles etwa folgenden Dialog mit Mme. C. wieder. Der erinnert einerseits wiederum an Sartre, andererseits scheint er aber schon auf Beckett voraus zu verweisen:

Frage: Was möchten Sie tun?
Antwort: Wir warten…
Frage: Wer bin ich?
Antwort: Niemand.[27]

Wie gesagt, neben Tosquelles war auch Paul Éluard mit dieser Patientin vertraut. Vielleicht ist sie es sogar, die in einem Zeitungsartikel, den die Tochter des Dichters, Cécile Éluard, im Herbst 1945 bei einem erneuten Besuch und Aufenthalt in Saint-Alban verfasst hat, zur Sprache kommt. In diesem Artikel ist jedenfalls die Rede von einer weiblichen Patientin, die sich folgendermaßen äußert: „Wer bin ich? Zwischen mir und dem Schöpfer gibt es einen riesigen Unterschied, ich kenne mich nicht und ihn nicht. Ich bin nichts und stecke in der Unmöglichkeit des Lebens. Ich bin das Nichts […]“. Cécile Éluard kommentiert diesen Diskurs, in dem sie darauf hinweist, ähnliche Fragen hätten sich auch „Philosophen wie Pascal, Platon und Sartre“ gestellt.[28] Was bei Canguilhem implizit bleibt, wird damit ausdrücklich herausgestellt.

Das nachweisbare Ausmaß der aktiven Beteiligung von Canguilhem am Kontext der Institutionellen Psychotherapie ist damit umrissen. Gleichsam im Gegenzug sind die Bezugnahmen auf Canguilhem zu erörtern, die sich bei Tosquelles sowie im weiteren Diskurskontext der Institutionellen Psychotherapie finden: Oury, Guattari, Deleuze und Guattari…

Es ist nicht zu hoch gegriffen, in eben diesem Kontext die erste Rezeption des Versuchs von 1943 zu verorten.[29] Camille Robcis hat wohl als erste auf diese Rezeption hingewiesen, allerdings ohne ihr besondere Beachtung zu schenken und sie in einen angemessenen Zusammengang zu stellen. Tatsächlich erwähnt Robcis auch den Aufenthalt von Canguilhem in Saint-Alban, geht aber – ähnlich wie Roudinesco in ihrer ersten Notiz dazu – an dem Sachverhalt vorbei, dass Canguilhem aktiv in die Arbeit der Klinik involviert gewesen ist.[30]

Umso wertvoller ist daher Robcis‘ Hinweis auf eine Aufsatz-Veröffentlichung von 1945, in der sich Bonnafé, Chaurand und Tosquelles mit der Struktur und dem Sinn des pathologischen „Erlebnisses“ auseinandersetzen. Wie bei Robcis zitiert, heißt es in diesem Bericht unter anderem:

In der psychiatrischen Klinik zeigt sich der Kranke von vornherein als eine andere „Lebensform“, doch die Arbeiten zur medizinischen Methodenlehre orientieren sich auch in diese Richtung. Canguilhem hat in einer Studie über das Normale und das Pathologische kürzlich hervorgehoben, ohne sich dabei auf Begriffe der psychiatrischen Klinik zu berufen, dass das pathologische „Erlebnis“ [l’événement morbide] nicht eine einfache, quantitative veränderte Fortführung des physiologischen Zustands ist, sondern eine andere „Form des Lebens“.[31]

Das ist eine der frühesten, wenn nicht die früheste öffentliche Bezugnahme auf Canguilhems Arbeit. Zu beachten ist dabei, dass „Form des Lebens“ in Anführungsstrichen steht, als ob es ein Zitat wäre. Allerdings wird dieser Ausdruck von Canguilhem selbst gar nicht auf einschlägige Weise verwendet. Viel eher ist bei ihm von genre de vie die Rede, aber dieses Konzept ist etwas anders gelagert. Im Rekurs auf den Soziologen Maurice Halbwachs bezeichnet Canguilhem damit die gleichermaßen soziale wie biologische Lebenswirklichkeit unterschiedlicher Klassen einer Gesellschaft.[32] Was an dieser Stelle mit forme de vie gemeint ist, ist wahrscheinlich etwas anderes, nämlich die „Norm des Lebens“, also der Sachverhalt, dass die Erfahrung der Krankheit Ausdruck einer vitalen Normativität ist.

Wie dem auch sei, in der hier zur Sprache kommenden Auffassung, dass Krankheit nicht einfach eine quantitative Abweichung von einem Gesundheitsdurchschnitt ist, sondern ein qualitativ anders gearteter Zustand, ist möglicherweise eben der inhaltliche Grund dafür zu erkennen, dass Tosquelles 1986 erklärt, Canguilhems Studie über das Normale und das Pathologische sei für die Arbeit in Saint-Alban eine „große Hilfe“ gewesen.

Diese Vermutung wird durch weitere Bezugnahmen auf Canguilhem bestätigt, die im Kontext der Institutionellen Psychotherapie zu registrieren sind. Neben Tosquelles ist es kein anderer als Jean Oury, der sich in seiner medizinischen Doktorarbeit auf Canguilhem beruft. Oury teilt mit Tosquelles die Begeisterung für Goldstein, der ja auch für Canguilhem der letztlich grundlegende Autor war. Aber er bezieht sich in seiner thèse auch direkt auf Canguilhems Studie zum Normalen und Pathologischen. So heißt es 1950 in seinem Versuch über das künstlerische Schaffen, dass der Unterschied der Begriffe „Normalität“ und „Nomalität“ durch „Canguilhem sehr gut erklärt worden“ sei. Diese Erklärung sei auch für die Betrachtung des Künstlerischen produktiv:

Anormalität und Anomalität sind voneinander unabhängig. Ein normales Individuum kann ein anomales Werk schaffen (Beispiel: jedes Gemälde neuer Ausrichtung wird als anomal betrachtet); ein anormales Individuum kann ein „normales“ Werk schaffen.[33]

Übrigens ist es genau diese Begrifflichkeit, die Deleuze und Guattari aufgreifen werden, wenn sie in Tausend Plateaus die Prozesse des „Intensiv-Werdens, des Tier-Werdens, des Unwahrnehmbar-Werdens“ erläutern.[34] Auch sie berufen sich dabei explizit auf den Versuch von Canguilhem und liefern im Anschluss daran eine Definition der Anomalie, die im Kontext der Queer Studies durchaus Aktualität für sich beanspruchen kann. Offenkundig sind nämlich auch Prozesse des Frau-Werdens mitgemeint, wenn Deleuze und Guattari schreiben:

Man hat einmal festgestellt, dass das Wort „anomal“, ein veraltetes Adjektiv, einen ganz anderen Ursprung hat als das Wort „anormal“ hat: „a-normal“, das lateinische Adjektiv ohne Substantiv, bezeichnet das, was nicht die Regel ist oder der Regel zuwiderläuft, während „An-omalie“, das griechische Substantiv, das sein Adjektiv verloren hat, das Ungleiche bezeichnet, das Unebene, die Unebenheiten, die Grenze der Deterritorialisierung.[35]

Vermittelt über Oury und Tosquelles findet damit eine fortgesetzte Bezugnahme auf die von Canguilhem profilierte Fähigkeit von organischen Individuen, die Formen und Normen ihres Lebens selbst zu bestimmen, statt – und zwar auch und gerade, wenn diese Normen nicht mit dem „Normalen“, mit dem Gängigen und dem Durchschnittlichen übereinstimmen. Wie es im Versuch von Canguilhem dazu pointiert heißt: „Verschiedenheit […] bedeutet nicht Krankheit. Das Anomale ist nicht schon das Pathologische.“[36]


3. Der Körper ohne Organe

An dieser Stelle ist auf den Vortrag zurückkommen, den Tosquelles 1947 an der Ecole Normale Supérieure gehalten hat. In „Psychopathologie und dialektischer Materialismus“ lässt er nicht nur seine Vertrautheit mit der psycho-physiologischen Forschung zu den „einzelligen Wesen“ erkennen – also jenen Mikroorganismen, auf die sich Jennings, Goldstein und Canguilhem in paradigmatischer Weise berufen haben.[37] Tosquelles bezieht sich auch wiederholt auf den Physiologen Claude Bernard. Dessen Einführung in das Studium der experimentellen Medizin fungiert dabei als eine Art Chiffre für eine materialistische Lebenswissenschaft. Auch Oury bezieht sich in diesem Sinne auf Bernard.[38]

In anderen seiner Veröffentlichungen befasste sich Bernard aber mit der Struktur und Funktion der einzelligen „Elementarorganismen“. Und bemerkenswerterweise hat er diese schon im späten 19. Jahrhundert auf eine Weise beschrieben, die in mancher Hinsicht die Schilderung vorwegnimmt, die Artaud vom „organlosen Körper“ gegeben hat. Bei Bernard heißt es:

Es ist nicht wichtig, ob ein Lebewesen Organe hat oder mehr oder weniger unterschiedene und komplizierte Apparate, Lungen, ein Herz, ein Gehirn, Drüsen und so weiter. All das ist nicht notwendig, um ein Leben auf vollkommene Weise zu führen. Die niederen Wesen leben ohne diese Apparate, die nur das Merkmal der luxuriösen Organisationen [des Lebendigen] sind. Vor allem für die Allgemeine Physiologie ist das Studium der niederen Lebewesen von Nutzen, weil bei ihnen das Leben sozusagen im nackten Zustand existiert.[39]

Rund hundert Jahre später schreiben Deleuze und Guattari mit Artaud:

Keinen Mund. Keine Zunge. Keine Zähne. Keinen Kehlkopf. Keine Speiseröhre. Keinen Magen. Keinen Bauch. Keinen Hintern. […] Der Körper ist der Körper/er ist allein/und braucht keine Organe […]. [40]

Nicht nur die psychotische Erfahrung per se, nicht allein das oft zitierte Beispiel des Eis, sondern ebenso die skizzierte Form physiologischer Forschung (Bernard zufolge die Allgemeine Physiologie) sollte man also im Blick haben, wenn man die Figur des Körpers ohne Organe genauer begreifen möchte.

In seinem Vortrag übersetzt Tosquelles diese Figur in die Forderung, die Materie als solche müsse im Sinne der Dialektik als komplex und dynamisch aufgefasst werden:

Die Dialektik lehrt uns vor allem, jede Sache in ihrer Entwicklung aufzufassen. Danach können Geist, Energie und Materie nicht länger als irreduzible Antinomien erscheinen: Es handelt sich um Stadien, die der Entwicklung eines Ganzen entsprechen, von dem sie Teile sind.[41]

Dieser Entwicklungsgedanke erscheint zunächst als sehr allgemein. Im Folgenden wendet Tosquelles diese dynamisierte, fast möchte man sagen ‚animistische‘ Sichtweise der Materie aber auf den lebendigen Organismus an. So erklärt er, dass das Organ des Gehirns nicht nur nicht von seiner Umgebung, sondern auch nicht von seiner Entwicklung abgetrennt werden kann: Vielmehr käme es darauf an, „die biologische Tätigkeit eines bestimmten Organs als konstitutiv zu begreifen für die einheitliche Struktur dieses bestimmten Organs, für seine Materialität.“[42]

Im Weiteren bezieht sich Tosquelles auf die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte von Marx, um die hier aufscheinende Tatsache zu erläutern, dass der Mensch durch sein eigenes, aktives Leben den Menschen hervorbringt – sich selbst und den anderen produziert – und zwar bis hin zu den Verhältnissen des Körpers und seiner Organe. Statt dies weiter zu vertiefen, sei die inhaltliche Konvergenz zu den Auffassungen von Canguilhem betont. Dieser beruft sich in seinem Versuch zwar nicht direkt auf Marx, auch wenn er, wie an anderer Stelle gezeigt wurde, durchaus als Vertreter eines „vitalistischen Marxismus“ gelten kann.[43]

Das wird auch daran deutlich, dass Canguilhem, wenn er seine Auffassung der Normativität des Lebens erläutert, auf genau die Mikroorganismen rekurriert, mit denen auch Bernard und Tosquelles vertraut waren. In den entsprechenden Passagen des Versuchs wird dabei auch die Frage der Sexualität direkt angesprochen:

Leben bedeutet schon für die Amöbe: auswählen und verwerfen. Ein Verdauungsapparat, Geschlechtsorgane, das sind Verhaltensnormen eines Organismus.[44]

Organe sind die Normen des Verhaltens. Genau das ist die Auffassung des Primats des Gebrauchs oder, mit Tosquelles gesagt, der „biologischen Tätigkeit“, die am Anfang dieses Beitrags schon im Rekurs auf die Frage der Geschlechtsbestimmung hervorgehoben wurde: Nicht die Struktur, nicht die Funktion, sondern der Gebrauch ist der entscheidende Faktor.

Normativität ist in diesem Sinn eine Praxis. Tatsächlich kann das von Canguilhem angeführte Beispiel der Amöbe zeigen, dass das Verhalten selbst die Organe hervorbringt. Genauso beschreibt es jedenfalls einer der anderen Mikrobiologen dieser Zeit, Alfred Binet, wenn er darauf verweist, dass die Nahrung bei diesen Lebewesen „entweder mithilfe eines permanenten Mundes“ aufgenommen wird oder „mithilfe eines vorübergehenden Mundes, der bei Bedarf improvisiert wird“.[45] Die Organe entstehen mit ihrem Gebrauch, und sie verschwinden danach wieder, in der flüssigen Matrix, die den Körper dieser Elementarorganismen ausmacht.

Canguilhem ist sich darüber bewusst, dass die Psychoanalyse über eine ähnliche Auffassung von der Normativität des Lebens verfügt. Besonders der späte Freud mit seinem Rekurs auf die einfachsten Formen lebender Organismen, die aus einem kaum differenzierten „Bläschen“ von Protoplasma bestehen, hat eine vergleichbare Konzeption entwickelt, unter anderem in Jenseits des Lustprinzips. Auch in seiner bemerkenswerten Studie zur „Verneinung“ bindet Freud die Entstehung der Urteilsfunktion an die Einverleibung und Ausstoßung von Nahrung zurück, die sich bei Mikroorganismen beobachten lässt.[46]

1943, nach der Veröffentlichung des Versuchs und nach dem Aufenthalt in Saint-Alban bezieht Canguilhem sich in diesem Kontext aber noch auf einen anderen Autor. Um die Verankerung der Urteilsfunktion und damit der Wertsetzungen im Leben selbst zu erläutern, stützt er sich in den frühen 1950er Jahren auf den katalanischen Physiologen Ramón Turró, der um die Jahrhundertwende Professor im städtischen Labor von Barcelona war. Schon 1914, also noch vor Freud, hat Turró eine Abhandlung über die „Ursprünge der Erkenntnis“ veröffentlicht, in der er ebenfalls der Ernährung eine vordringliche Stelle in der Entwicklung von Urteilen eingeräumt hat.[47] Turró spricht in diesem Zusammenhang von der „Existenz einer Art niederer Intelligenz“, aus denen die Strebungen resultieren, die den Organismus in der Auswahl seiner Nahrung sozusagen unbewusst leiten. Zugleich akzentuiert er die buchstäblich entscheidende Rolle des organischen Individuums: „Es ist das Subjekt, das sich aus sich selbst heraus die entsprechenden Portionen einteilt, und so ist es immer gewesen.“[48] Dem hat an dieser Stelle Canguilhem nichts hinzuzufügen.


Schluss

Der Gedanke liegt nahe, dass Canguilhem sich in seiner Bezugnahme auf die katalanische Physiologie durch den Kontakt mit Tosquelles hat anregen lassen, mit dem er während seines Aufenthalts in Saint-Alban diskutiert und zusammengearbeitet hat und den er bis in die 1990er Jahre in bester Erinnerung behalten sollte. Ebenso nahe liegt der Gedanke, dass das verbindende Moment zwischen Canguilhem und Tosquelles jener vitalistische Marxismus ist, der die Frage des Lebens auf das Engste mit dem Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur verbunden hat. Marx hat diesen Stoffwechsel als „Arbeit“ beschrieben und zu verstehen gegeben, dass diese keineswegs nur eine bewusste, kognitive Tätigkeit ist, sondern bis auf die Ebene des Körpers und seiner Organe reicht. Eben diese Art von dialektischem Materialismus ist es, der auch für das Verständnis eines Queer Tosquelles von beträchtlicher Bedeutung ist.

In der psychiatrischen Theorie von Tosquelles übersetzt sich der vitalistische Marxismus zum einen in das materialistische Bekenntnis zum „Gebiet der klassischen medizinischen Biologie, von dem die Psychiatrie sich nicht entfernen kann und nicht entfernen soll“.[49] Die Psychiatrie ist demzufolge nicht einfach eine Geisteswissenschaft, aber auch keine reine Sozialwissenschaft. Sie zählt zunächst und vor allem zu den Lebenswissenschaften. Ihr Ansatzpunkt ist der Körper und dessen Organe. Zum anderen manifestiert er sich in der Überzeugung, dass sich noch im Wahnsinn „die Anwesenheit des Menschen offenbart“ und bekräftigt die Existenz eines unendlichen Feldes, „in dem jede Form, jedes Ereignis möglich sind“.[50]

Fest verankert in einer Betrachtung des Körpers und seiner Organe wendet sich diese Psychiatrie dagegen, in den psychischen Erlebnissen der Verneinung, der Katastrophe, des Weltuntergangs einen „Nicht-Wert“ (non-valeur) zu unterstellen, wie es in der Psychoanalyse, aber letztlich auch in einer an Heidegger orientierten Daseinsanalyse der Fall ist, und zwar aus einem einfachen Grund: „Die Freiheit, die Verantwortlichkeit, der Sinn und die eigentliche Energie des Verrückten (aliéné) würden verschwinden.“[51]

Deswegen schließt Tosquelles an die Ausführungen an, die der frühe Marx der Produktion des Menschen als „Gattungswesen“ gewidmet hat, und an Canguilhems Darstellung des Verhältnisses des Normalen und des Pathologischen. Folgerichtig erklärt er mit einer Formulierung, die ihre Aktualität bis heute nicht verloren hat: „Der normale Mensch und der Wahnsinnige sind Wesen, die sich selbst hervorbringen, indem sie Bewusstsein von ihrem Sein erlangen.“ Und er fügt hinzu: „Der Wahnsinn ist eine Erschaffung (création), keine Passivität.[52]

Die Menschen sind Lebewesen, die sich selbst hervorbringen. Sie sind es, die aktiv die Normen bestimmen, nach denen sie leben wollen. Unter der Überschrift Queer Tosquelles ist dies der erste, entscheidende Satz.

 

 

[1] “Mit Traurigkeit vernehme ich den Tod von Tosquelles. Meine Begegnung mit diesem Mann, unter den Dir bekannten Umständen, ist eines der ebenso unerwarteten wie unvergesslichen Ereignisse meines Lebens.“

[2] Joseph Dexter, Sudhakaran Prabakaran und Jeremy Guawardena, „A Complex Hierarchy of Avoidance Behaviors in a Single-Cell Eukaryote“, in: Current Biololgy 29/24 (2019), S. 4323–4329. Wo nicht anders angegeben, stammen alle Übersetzung fremdsprachiger Texte von mir (H.Sch.).

[3] Judy Johns Schloegel und Henning Schmidgen, „General Physiology, Experimental Psychology, and Evolutionism. Unicellular Organisms as Objects of Psychophysiological Research, 1877-1918“, in: Isis 93 (2002), S. 614-645.

[4] Sigmund Freud, Jenseits des Lustprinzips, in: Gesammelte Werke, chronologisch geordnet, Bd. 13, London: Imago, 1940, S. 1–69, besonders S. 25–31.

[5] Als Überblick siehe z. B. Donald E. Hall und Annamarie Jagose (Hg.), The Routledge Queer Studies Reader, London/New York: Routledge, 2013, sowie Mike Laufenberg und Ben Trott (Hg.), Queer Studies. Schlüsseltexte, Berlin: Suhrkamp, 2023.

[6] Zu dieser Episode siehe etwa Karine Ben Faour, „Georges Canguilhem. Entre folie et résistance“, in: Trait d’union. Les chemins de l’art brut à Saint-Alban-sur-Limagnole, Lille: Musée d‘art moderne, 2007, S. 27–31.

[7] Georges Canguilhem, „Versuch über einige Probleme, das Normale und das Pathologische betreffend“ [1943], in: ders., Das Normale und das Pathologische, übers. von Monika Noll und Rolf Schubert, hrsg. von Maria Muhle, Berlin: August Verlag, 2013, S. 19–243. Zu den psychologischen Konzeptionen von Canguilhem siehe Luc Surjous, « Science et soin du psychisme dans l’œuvre de Georges Canguilhem», in: L’Évolution psychiatrique 89/2 (2024), S. 357–376; sowie Camille Limoges und Pierre-Olivier Méthot, «Le Traité de Psychologie de Canguilhem et Planet. Situation, interprétation et portée d’un ouvrage inachevé», in: Philosophie 163 (2024), S. 45-60.

[8] Pierre Niedergang, Vers la normativité queer, Toulouse: blast, 2023, S. 9–21.

[9] Ivan Moja-Diez und Matteo Vagelli, „Georges Canguilhem on Sex Determination and the Normativity of Life“, in: History and Philosophy of the Life Sciences 44/4 (2022), S. 1–24.

[10] Siehe besonders Gilles Deleuze und Félix Guattari, Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, übers. von Gabriele Ricke und Ronald Voullié, Berlin: Merve, 1992, S. 205–227.

[11] Jean Oury, Il, donc. Conversations avec Pierre Babin et Jean-Pierre LeBrun, Paris: 10/18, 1978, S. 10–11.

[12] François Tosquelles, Psychopathologie im Lichte des dialektischen Materialismus, in: François Tosquelles, Materialismus, Psychopathologie, Begehren. Zwei Vorträge, aus dem Französischen, hrsg. und eingel. von Stefan Nowotny, Wien u.a.: transversal texts, 2025, S. 52.

[13] Siehe Jean Oury, Essai sur la conation esthétique [1950], Orléans: Éditions Le Pli, 2005, S. 148, sowie Gilles Deleuze und Félix Guattari, Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, übers. von Bernd Schwibs, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1974, S. 9. Siehe dazu insgesamt auch die Position von Didier Eribon, Grundlagen eines kritischen Denkens, übers. von Oliver Precht, Wien/Berlin: Turia + Kant, 2018, der an Foucault ebenso wie an Deleuze und Guattari anschließt.

[14] Elisabeth Roudinesco, La bataille de cent ans. Histoire de la psychanalyse en France, II (1925–1985), Paris: Seuil, 1986, S. 204.

[15] François Tosquelles, Le vécu de la fin du monde dans la folie, Vorwort von Jean Oury, Nantes: Éd. de l’AREFPPI, 1986, S. 241.

[16] Siehe dazu Lucien Bonnafé, „Sur la résistance de fond. Un modèle: Georges Canguilhem“, in: Chimères 29 (1996), S. 171–180.

[17] Lucien Bonnafé, „Psychiatrie en Résistance“, in: Chimères 24 (1995), S. 11–27.

[18] Tosquelles, Le vécu de la fin du monde, S. 238, und Raphael Koenig, „Résistance et vie intellectuelle à Saint-Alban (1940–1944)“, in: Carles Guerra und Joana Masó (Hg.), La déconniatrie. Art, exil et psychiatrie autor de François Tosquelles, Barcelona: Arcàdia, 2021, S. 107–116.

[19] Als Übersicht dazu siehe etwa Léon Strauss, „L’université française de Strasbourg repliée à Clermont-Ferrand“, in: Christian Baechler, François Igersheim und Pierre Racine (Hg.), Les Reichsuniversitäten de Strasbourg et de Poznan et les résistances universitaires, 1941–1944, Strasbourg: Presses Universitaires de Strasbourg, 2005, S. 238–261.

[20] Kurt Goldstein, Der Aufbau des Organismus. Einführung in die Biologie unter besonderer Berücksichtigung der Erfahrungen am kranken Menschen, Den Haag: Nijhoff, 1934, S. 137.

[21] Tosquelles, Le vécu de la fin du monde dans la folie, S. 241.

[22] Ich danke Elena Vogman und Jacques Tosquellas für diese Auskunft.

[23] Georges Canguilhem, „Ouverture“, in: Penser la folie. Essais sur Michel Foucault, Paris: Galilée, 1992, S. 37–42, hier S. 40.

[24] François Bing und Jean-François Braunstein, „Entretien avec Georges Canguilhem“, in: François Bing, Jean-François Braunstein und Élisabeth Roudinesco (Hg.), Actualité de Georges Canguilhem. Le normale et le pathologique, Le Plessis-Robinson: Synthélabo, 1998, S. 121–135, hier S. 123.

[25] Georges Canguilhem, „Observation à l’hôpital psychiatrique de Saint-Alban (Lozère). (Juillet 1944, Maquis). Mme C...“, in: ders., Œuvres complètes, tome IV. Résistance, philosophie biologique et histoire des sciences (1940-1965), hrsg. von Camille Limoges, Paris: Vrin, 2015, S. 183–189.

[26] Canguilhem, „Observation à l’hôpital psychiatrique de Saint-Alban“, S. 184, S. 185 und S. 186.

[27] Tosquelles, Le vécu de la fin du monde dans la folie, S. 44.

[28] Cécile Agay [=Cécile Éluard], „J’ai visité des femmes enfermées dans leur propre univers“, in: Les Étoiles (9. Oktober 1945), S. 3, zit. nach François Tosquelles. Soigner les institutions, hrsg. von Joana Masó, Paris: L’Arachnéen, 2021, S. 199-201, hier S. 200.

[29] Siehe in diesem Sinn auch Pierre-Frédéric Daled, „Un demi-siècle de réception de l’Essai sur quelques problèmes concernant le normal et le pathologique“, in: Pierre-Frédéric Daled, Mathias Girel und Nathalie Queyroux (Hg.), Georges Canguilhem, 80 ans après Le Normal et le Pathologique, Paris: Éditions Rue d’Ulm, 2024, S. 19–38.

[30] Camille Robcis, Disalienation. Politics, Philosophy, and Radical Psychiatry in Postwar France, Chicago/ London: University of Chicago Press, 2021, S. 35.

[31] Robcis, Disalienation, S. 36 sowie S. 164 Anm. 93, sowie Lucien Bonnafé, André Chaurand und François Tosquelles, „Structure et sens de l‘evénément morbide“, in: Annales médico-psychologiques 1 (1945), S. 174–181, hier S. 175–176. Merkwürdigerweise scheint Daled („Un demi-siècle de réception de l’Essai“, S. 22) anzunehmen, dass der Text von Bonnafé, Chaurand und Tosquelles erst 1986 veröffentlicht worden ist.

[32] Siehe dazu Frédéric Keck, „Vie sociale et genres de vie. Une lecture des Causes du suicide de Maurice Halbwachs“, in: Revue d’histoire des sciences humaines 13 (2005). S. 33–50.

[33] Oury, Essai sur la conation esthétique, S. 132.

[34] Deleuze und Guattari, Tausend Plateaus, S. 317–422.

[35] Ebd., S. 332.

[36] Canguilhem, „Versuch über einige Probleme“, S. 139.

[37] Tosquelles, Psychopathologie et matérialisme dialectique, S. 30; in deutscher Übersetzung in: Tosquelles, Materialismus, Psychopathologie, Begehren. Zwei Vorträge.

[38] Oury, Essai sur la conation esthétique, S. 99 und S. 137.

[39] Claude Bernard, Leçons sur les phénomènes de la vie commune aux animaux et aux végétaux [1878], Paris: Vrin, 1966, S. 151.

[40] Deleuze und Guattari, Anti-Ödipus, S. 14-15.

[41] Tosquelles, Psychopathologie et matérialisme dialectique, S. 22–23.

[42] Ebd., S. 30.

[43] Benjamin Prinz und Henning Schmidgen, „Vitalist Marxism. Georges Canguilhem and the Resistance of Life“, in: Theory, Culture & Society 41/4 (2024), S. 3-21.

[44] Canguilhem, „Versuch über einige Probleme“, S. 138. Diese Passage steht in direkter Verbindung mit den oben zitierten Ausführungen zur Anomalie.

[45] Alfred Binet, „La vie psychique des micro-organismes“, in: Revue philosophique de la France et de l’étranger 24 (1887), S. 449-489; S. 582-611, hier S. 475.

[46] Sigmund Freud, „Die Verneinung“, in: Gesammelte Werke, chronologisch geordnet, Bd. 14, London: Imago, 1941, S. 9–15.

[47] Ramón Turró, Les Origines de la connaissance, Paris : Alcan, 1914.

[48] Turró, Les Origines de la connaissance, S. 31 und S. 38. Siehe auch Georges Canguilhem (Hg.), Besoins et tendances. Textes et documents philosophiques, Paris: Hachette, 1952, S. 6–10.

[49] Tosquelles, Le vécu de la fin du monde, S. 107–108.

[50] Ebd., S. 108 und S. 121. Siehe dazu auch den Begriff der „Plastizität“ in Catherine Malabou, Was tun mit unserem Gehirn?, übers. von Ronald Voullié, Zürich: Diaphanes, 2021.

[51] Ebd., S. 108.

[52] Ebd. Siehe dazu insgesamt auch die Ausführungen von Oury, Essai sur la conation esthétique, S. 65–66 und S. 123–124, der sich genau auf diese Formulierungen stützt.