09 2000
Progressiv politisierte Kultur und politische Progressivität
Die Frage nach der Rolle der Kultur im Prozess der Osterweiterung der Europäischen Union impliziert schon die Idee eines politischen Gebrauchs der Kultur. Man steht vor einer politischen Aufgabe und denkt sich, welche Mittel nötig sind, um die Aufgabe lösen zu können. Einer Reform des politischen Systems wird natürlich Priorität gegeben: es müsse eine parlamentarische Demokratie geben; die Unabhängigkeit der Medien müsse unbedingt gewährleistet werden, sonst hätten wir keine echte Öffentlichkeit, die die demokratischen Prozesse unterstützt und wenn nötig spontan korrigiert. Die politischen, ethnischen, religiösen und sonstigen Minderheiten müssten auch nach den westlichen Standards geschützt werden, sonst würden die neuen Mitglieder politisch instabil, was man unbedingt vermeiden solle. Eine Legislaturreform sei besonders wichtig, damit sich die ehemaligen kommunistischen Länder vollkommen dem westlichen kapitalistischen Markt anpassen könnten. Die Infrastruktur dürfe man auch nicht vergessen, da sie im Osten noch so unterentwickelt wäre, und so wie sie jetzt sei, in einem schlechten Zustand also, mache sie die Kommunikation wenn nicht unmöglich, dann zumindest langsam, unbequem und vor allem zu teuer. Das Bildungswesen, der Finanzmarkt, die Verteidigung, die Sozialversicherung - und natürlich, die Kultur.
Was aber soll Kultur tun? Was kann Kultur überhaupt
politisch leisten?
Vorerst scheint eines schon klar zu sein: Es ist die Politik,
welche hier die Aufgaben der Kultur vorschreibt, und nicht
umgekehrt. Da haben wir es nicht mit zwei unabhängigen
realms zu tun. Politik herrscht und Kultur gehorcht. So scheint
es zumindest auf den ersten Blick.
Die Frage nach der politischen Rolle der Kultur ist immer
schon die Frage nach der sogenannten politischen Dimension
der Kultur, was nicht das Gleiche ist, aber aufs Gleiche hinausläuft,
solange man der Fragestellung selbst nicht kritisch nachgeht.
Wir nehmen nämlich an, dass sich die Kultur nicht bloß
als ein ahnungsloser Diener der Politik an die politische
Arbeit macht, sondern auch eigenwillig gewisse politische
Präferenzen setzen oder, wie man heute so schön
sagt, eine eigene politische Identität entwickeln kann.
Sie könnte also selbst entscheiden, wofür, für
welche Politik, sie sich einsetzen soll. Angenommen, sie kann
richtig unterscheiden: zwischen rechts und links, zwischen
national und kosmopolitisch, zwischen konservativ und progressiv.
Die Kultur trägt teilweise die Verantwortung für
das eigene politische Engagement, weswegen es ihr nicht gleichgültig
sein kann, welche praktische Folgen ihr politischer Gebrauch
haben wird. Dass sie nämlich politisch gebraucht wird,
dafür kann sie nichts; dass sie aber nicht erlauben darf,
sich politisch missbrauchen zu lassen, liegt schon an ihr.
Nur in dem Sinne - im Sinne ihrer praktisch-historischen Verantwortung
- kann Kultur der Bereich politischer Freiheit werden. Es
ist also ein Akt des freien politischen Willens - und nicht
etwa einer kulturellen Affinität -, sich für die
eine oder die andere politische Option zu entscheiden.
Nehmen wir weiterhin an, wir wollten Kultur im Prozess der EU-Osterweiterung so engagiert sehen, dass die politischen Effekte dieses kulturellen Engagements progressiv und nicht etwa konservativ, nationalistisch oder sogar rechtsradikal werden. Bevor man sich diese progressive Identität durch die kritischen Abgrenzungen gegenüber den anderen ideologischen beziehungsweise politischen Optionen mühsam erarbeitet, sollte man überprüfen, ob das Wort "progressiv" in unserer heutigen Situation überhaupt noch eine einigermaßen allgemein anerkannte Bedeutung hat. Wie geht man also mit unseren Fragen progressiv um?
Was heute, allgemeiner Meinung nach, einem politischen Engagement in oder mit der Kultur einen progressiven Charakter verleiht, sind offensichtlich zwei Grundverpflichtungen: eine theoretische und eine historische. Das sind der Antiessenzialismus im theoretischen Bereich und die politische Tradition der sogenannten Neuen Sozialen Bewegungen in der Sphäre konkreter historischen Praxis.
Einen, der glaubt, eine kulturelle Identität sei etwas an sich Objektives, das man in der Realität vorfinden und nach bestimmten Merkmalen erkennen bzw. beschreiben kann, würden wir kaum für progressiv halten. Diese statische Welt, in welcher die verschiedenen, voneinander getrennten Kulturen unmittelbar aus der Natur in die historische und soziale Realität hineinwachsen, ist uns vollkommen fremd. Daraus lässt sich keine politische Dynamik entwickeln, und um die geht es uns aber. Deswegen setzen wir voraus, diese kulturellen Identitäten seien etwas Kontingentes und Prekäres, das sich erst durch ein gegenseitiges Differenzieren herausbildet, was wieder ein instabiler Prozess ist, der von ständigen, nie endgültig auflösbaren Konflikten gekennzeichnet ist.
Dieser Zugang ist im Einklang mit einer der wichtigsten Errungenschaften des modernen Denkens - dem Bruch mit der Kategorie des Subjekts als einer rationalen und transparenten Entität. Ob bei Freud und Psychoanalyse oder im Poststrukturalismus, in der Sprachphilosophie und Hermeneutik, die moderne Philosophie hat die Hauptideen des Antiessenzialismus im Wesentlichen immer wieder bestätigt. Um die politische Dimension der Kultur zu verstehen, scheint der antiessenzialistische Ansatz aber nicht genug zu sein. Was ihn wirklich politisch macht, ist nämlich das Konzept der Hegemonie, das die Natur der Macht und ihre Verbindungen zur Kultur in sein Zentrum rückt. Von Antonio Gramsci eingeführt wurde es von Chantal Mouffe und Ernesto Laclau in ihrem Buch "Hegemony and Socialist Strategy" wieder entdeckt. Die Macht wird hier nicht als eine äußerliche Relation vorgestellt, die sich zwischen den schon bestehenden Identitäten abspielt, sondern vielmehr als etwas, das diese Identitäten erst recht konstituiert.
Chantal Mouffe gibt uns ein Beispiel: Was Demokratie bedeutet, hängt von ihrer Fixierung als dem Signifikanten ab: ob sie auf ein gewisses Signifikat fixiert ist, welches sie mit dem privaten Eigentum und dem Individualismus verbindet, oder sich an ein anderes Signifikat im Diskurs hält, welches sie mit der Artikulation eines Kampfes gegen Unterdrückung in Verbindung setzt. Diese Artikulation wird in einer wichtigen Hinsicht durch die kulturellen Praxen etabliert. Das ist der Grund, warum Kultur eine so wichtige Rolle beim Kreieren eines hegemonialen Verhältnisses spielt. So erscheint das ganze Feld der Kultur gleichsam als Szene und Objekt eines politischen Kampfes.
Kombiniert mit dem Konzept der Hegemonie ermöglicht uns ein antiessenzialistischer Ansatz, mit dem Problem der kulturellen Identitäten - ein heißes Thema der Osterweiterung - so umgehen zu können, dass gleichzeitig sowohl die Natur der Macht als auch die Verbindungen zwischen Kultur und Macht berücksichtigt werden. Nur wenn sie verwickelt ist in die Prozesse der Domination und des Widerstandes, das heißt, wenn sie sich ins Feld des Kampfes verwandelt, wird Kultur politisch.
Das passiert jedoch nur unter spezifischen historischen Bedingungen, womit wir schon bei der zweiten Voraussetzung eines progressiven politischen Engagements sind. Das ist die schon genannte Tradition der Neuen Sozialen Bewegungen, die allesamt in den sechziger Jahren das Licht der Welt erblickten: Feminismus, Studentenrevolte, Antikriegs- und gegenkulturelle Jugendbewegungen, sexuelle Minderheiten, civil rights movements, antikolonialistische revolutionäre Bewegungen der Dritten Welt usw. Vom Anfang ihrer Aktivitäten bis zu unseren Tagen war Kultur für diese Bewegungen nicht bloß das Feld, sondern gerade die Grammatik ihres politischen Kampfes. Sie haben historisch die Umwelt für das moderne Konzept einer politisierten Kultur geschaffen. Ihr Vermächtnis ist, oft in einer unsichtbaren Weise, überall präsent und bildet einen unvermeidlichen Bestandteil eines jeden politischen oder kulturellen Engagements, das sich heute noch für progressiv halten will.
Der theoretische Antiessenzialismus und die Tradition der Neuen Sozialen Bewegungen bilden für uns offensichtlich den einzigen Horizont, in dem sich die Idee einer politischen Progression in universalistischer Hinsicht noch einigermaßen geltend macht. Die beiden einst politisch vielversprechenden Modelle sind inzwischen in der ihnen so natürlichen Sphäre der Kultur alt geworden, ohne in den letzten zwei Jahrzehnten je einen ernsthaften Versuch unternommen zu haben, diese Sphäre selbst für eine Weile zu verlassen und sich draußen in der politischen Realität auf die Probe zu stellen. Sie haben zwar immer nur das versprochen, was sie halten konnten, nämlich eine progressive Politisierung der Kultur. Ist das aber heute auch politisch progressiv?