04 2008
Fahrradmaschinen
„Wenn man es zu weit gedeihen lässt, dann ist das der Anfang vom Ende. Dann kommen die Fahrräder und verlangen das Wahlrecht, dann bekommen sie Sitze im Landtag und machen die Straßen noch schlechter, als sie ohnedies schon sind, um ihre weitgesteckten Ziele zu erreichen. Aber demgegenüber ist ein gutes Fahrrad ein famoser Kamerad, und es geht ein großer Zauber von ihm aus.“
(Flann O’Brien, Der dritte Polizist)
„Handelt es sich um ein Fahrrad?“ So lautet die
zentrale Frage der zwei Polizisten in Flann O’Briens Roman Der dritte Polizist. Die Vertreter des Staatsapparats haben darin
hauptsächlich mit Fahrrädern zu tun, mit deren Diebstahl oder dem Diebstahl von
Fahrradklingeln, Luftpumpen, Dynamos und Lampen. Hupen, Holzfelgen, Hochsattel,
Rennpedale, Dreigangschaltungen, Hosenklammern und ähnliche Extras sind die
Komponenten eines verfeinerten wie ausufernden Diskurses, der keine Ausflucht
erlaubt. Polizeiliche Virtuosität geht so weit, dass sie selbst den Diebstahl
von Fahrrädern unternimmt, um diesen dann souverän aufzuklären. Umso
ungehaltener reagiert sie, wenn ihre Frage mit Nein beantwortet wird.
Handelt es sich aber um ein Fahrrad, so kommt die Sache erst zur Entfaltung. Zunächst erscheint das Fahrrad als eine recht einfache technische Maschine. Mit etwas Interesse und etwas Einblick in die Wissenschaft der Mechanik könnte ein Mensch es leicht in seiner Funktionsweise begreifen. Flann O’Brien zeichnet in seinem 1940 verfassten und 1967 veröffentlichten Roman allerdings ein über die Maßen fließendes Verhältnis zwischen Fahrrad und Mensch. In der Gemeinde des Dritten Polizisten ist die Atom-Theorie am Werk, eine seltsame Theorie, die den wechselseitigen Austausch, das Fließen der Atome, der Teilchen der Materie zum Inhalt hat; und das meint nicht nur das Fließen innerhalb genau abgegrenzter Körper und Identitäten, sondern den schier unbegrenzten Fluss zwischen Körpern, die einander berühren oder einander nahe kommen, die in Nachbarschaftszonen ineinander übergehen. Es fließt etwa zwischen den Füßen einer Wandernden und der Landstraße, zwischen dem Pferd und seinem Reiter, zwischen dem Schmiedehammer und einer Eisenstange. Anschlüsse, Koppelungen, Kupplungen, Übergänge, Verkettungen.
Erstaunliche Pointe dieser fein ausgedachten Erfindung: Die Persönlichkeit eines Menschen vermischt sich, je mehr Zeit sie auf ihrem Fahrrad verbringt, umso stärker mit der Persönlichkeit des Fahrrads. Das hat konkrete Folgen, vor allem für den Bewegungsmodus und die mit diesem zusammenhängenden Phänomene: Menschen, die sich immer an Wänden entlang bewegen, möglichst zügig gehen, sich nie hinsetzen, und wenn sie stehen bleiben, die Arme in die Seiten stemmen und sich an die Wand lehnen, das Gewicht dabei vollständig auf die Spitze des Ellenbogens legen, oder sich mit dem Fuß auf der Gehsteigkante abstützen. Im schlimmsten Fall, wenn sie zu langsam gehen oder mitten auf der Straße stehen bleiben, fallen sie der Länge nach hin und müssen sich aufhelfen und anschieben lassen. Dementsprechend gibt es im Dritten Polizisten auch mehr oder weniger genaue Buchführung über die Frage, zu wie viel Prozent dieses zusammengesetzte und in Bewegung befindliche Gefüge, diese Maschine, nun Fahrrad und zu wie viel Prozent es Mensch ist – am schlimmsten sieht die Prozentrechnung natürlich beim Briefträger aus. Es hat jedoch den Anschein, als ob die mit der Sache beschäftigte Ordnungsmacht dieser Aufgabe nie ganz Herr würde, nie das ganze Bild zu beleuchten, die fließende Maschine zur Gänze in den umfassenden Lichtkegel der Verwaltung zu bringen imstande ist; und immerhin gibt es auch Fahrräder mit hohem Menschenanteil, die augenscheinlich Emotionalität und Sexualität entwickeln, und beizeiten verschwindet in ihrer Nähe auch unerklärlicherweise Essen.
In Claude Faraldos orgischem und nach allen
Seiten hin fliehendem Film Themroc
(1972) gibt es eine kleine Szene, in der die Maschine Mensch/Fahrrad aus einem
ganz anderen Grund umfällt: nicht weil ihre humanen Prozentanteile schwinden,
sondern weil ihr eine komplementäre soziale Komponente entzogen wird, von der
sie abhängig ist. Soziale Abhängigkeit und Unterwerfung durchzieht den ersten
Teil des Films, der mit der Repräsentation des Stereotyps eines fordistischen
Arbeitstags beginnt. Auch das Leben jenseits der Arbeit, die morgendliche
Vorbereitung auf die Arbeit und der Weg zum Arbeitsplatz entsprechen der Logik
des Fließbandes: Die Fabrik, die Arbeit, der Weg dorthin sind kleinteilig in
zeitliche Raster eingeteilt und normiert, schon vor dem Frühstück ist die
wiederkehrende Perspektive auf die Küchenuhr, zugleich technische wie soziale
Maschine, durch die gerasterte Zeit der Fabrik geleitet. Devianz entwickelt
sich nur im absoluten Innen der abgeschotteten privaten Phantasie, etwa im
Begehren nach der jungen Schwester, mit der die von Michel Piccoli gespielte
Hauptfigur Themroc noch immer in der engen mütterlichen Wohnung lebt.
In der zweiten Szene biegt der Protagonist mit seinem Fahrrad aus dem Hinterhof seiner heruntergekommenen kleinbürgerlichen Mietskaserne in die Straße ein. Er ordnet sich nun nicht irgendwie und zufällig in den Verkehr ein. Als fixer Bestandteil des genau getimeten und durch Wiederholung präzisierten Ablaufs des Wegs zur Arbeit trifft er beim Einbiegen in die Straße auf seinen Kollegen, der sich exakt im selben Moment aus dem gegenüberliegenden Hof von der anderen Seite her mit seinem Fahrrad einreiht. Dann fahren beide die lange Gerade Schulter an Schulter durch ihre gegenseitige Stütze gestützt als eine Maschine hinunter.
Sozialität im Fordismus impliziert die Gleichzeitigkeit von sozialer Unterwerfung und Solidarität als gegenseitiger Abhängigkeit. Massenhafte Ströme zur Metro, Gleichförmigkeit und Wiederholung, die Stechuhr, das allgegenwärtige Dispositiv der Disziplin und Überwachung, das die Subjekte als Räder der fordistischen sozialen Maschine konstituiert und dazu viele kleine Maschinen erfindet und ineinander verzahnt, in Themroc etwa in der Synchronizität der Bleistiftspitzmaschine des Vorzimmeraufsehers und der Manikürmaschine der Sekretärin. Und dennoch blitzen hier und da kleine Differenzen auf. Themroc lässt es nicht bei der Allmacht des Dispositivs bewenden. Der erste größere Ausbruch, die Verwandlung auf dem Klo, das ansteckende Gebrüll, die Wendung zur sexuellen Befreiung: Was in den kleinen devianten Andeutungen schon am Anfang des Films anklingt, wuchert in seinem Lauf in eine wilde Flucht aus dem fordistischen Zwang in eine anarchische Sphäre.
Themroc ist ein Agent des Übergangs, des Vorschimmers eines Lebens, das dem fordistischen Regime entkommt. In diesem Übergang erfindet er neue Waffen. Er wirft nicht den Holzschuh in die technischen Anlagen, seine Form der Sabotage besteht darin, dass er die Fabrik flieht. Er flieht, und im Fliehen noch ändert er die Ordnung des Umkleideraums in der Fabrik und jene des öffentlichen Verkehrs, indem er auf den Schienen schlendernd den Fahrplan der Metro durcheinander bringt. Macht, Machtbeziehungen und Machtverhältnisse erweisen sich als ubiquitär, doch der Widerstand Themrocs ist primär und produktiv. Aus dem Setting der Fabrik fliehend, erfindet er ein ganzes neues Terrain. Einschnitte, Brüche, Brechungen, Zerstückelungen. Mitten im fordistischen Dispositiv zeichnet Piccoli ein neues Dispositiv, er mauert die Tür zu seinem Zimmer zu, reißt mit einem Vorschlaghammer die Außenmauer ein, wirft die Einrichtung in den Hof und beginnt ein wildes neues Leben.
Das Gebrüll, die Zertrümmerung und das animalische Stöhnen – der Film beinhaltet kein einziges Wort in einer bekannten Sprache – erweisen sich als ansteckend. Die Angriffe des Staatsapparats, der mit viel-, und doch einfältigen Mitteln (Überredung, Androhung der Waffengewalt, Lachgas, Zumauerung) versucht, die Ordnung wiederherzustellen, werden lachend zurückgeschlagen. Zwei von den Polizisten werden in diesem Setting schließlich am Spieß gebraten und gefressen. Und während Themroc/Piccoli im Inneren der nach Außen geöffneten Behausung und in neuen, freien Beziehungen den Versuch eines anderen Lebens unternimmt, während sich die Wildheit immer mehr ausbreitet, widerfährt seinem Kollegen draußen auf der Straße am nächsten Morgen der Entzug der komplementären sozialen Komponente: Gewohnt an das tägliche Ritual des gegenseitigen Stützens und Gestütztwerdens übersieht er beim Einbiegen vom Hof in die Straße die neue Situation und – fällt unvermittelt mitsamt seines Fahrrads um. Diese Maschine der sozialen Unterwerfung, der Synchronie von Abhängigkeit und Solidarität, existiert nicht mehr. Am folgenden Morgen hat der Kollege Stützräder an sein Fahrrad montiert.
1946 veröffentlichte Luigi Bartolini seinen Roman Ladri di Biciclette. Kurz darauf verwandelte Vittorio de Sica den
Stoff in einen Klassiker des italienischen Neorealismus, gespielt von
LaiendarstellerInnen, gedreht direkt auf den Straßen Roms. 1948 kamen die Fahrraddiebe als Film heraus, Bartolini
hatte der Verfilmung vorerst zugestimmt, protestierte dann aber vehement gegen
die radikale Bearbeitung durch de Sica. Das Filmbuch variiert zwar auch das
Sujet des Buchs an einigen Stellen, die entscheidende Wendung liegt jedoch in
der Wendung der Subjektposition: Während der Ich-Erzähler des Buchs, ein
bürgerlicher Dichter, als vom Diebstahl betroffenes und dennoch autonomes
Künstlersubjekt souverän, distanziert und moralisierend die Psychologie, Philosophie
und Ökonomie der Diebe von Rom untersucht, ist der Arbeiter Antonio,
Protagonist des neorealistischen Films, im entgegen gesetzten Sinn „Subjekt“:
den Zwängen des rauen Alltags unterworfen
und ausgeliefert. Der Fahrraddiebstahl ist für den Helden des Buchs Anlass,
eine gelassene, planvolle, fast luxuriöse Suche zu beginnen, das Aufspüren des
Geräts oder seines Diebs genauso wie den Diebstahl selbst als graziösen Sport,
ja als eine Kunst zu inszenieren; ganz anders für den Antihelden des Films,
denn für ihn entwickelt sich daraus eine manisch-panische Bewegung, planlos und
getrieben, auf Kontingenz und Wahrsagung angewiesen. Während der Poet des Buchs
aufgrund des Kreislaufs von Diebstahl und Wiederbeschaffung in der anarchischen
Geographie Roms dazu übergeht, zur Sicherheit zwei Räder zu besitzen, hat
Antonio, der Protagonist des Films, sein Fahrrad überhaupt nur für kurze Zeit
in Händen: Am Anfang der Filmnarration, inmitten von Arbeitslosigkeit und
bitterer Armut der unmittelbaren Nachkriegszeit, bekommt er Arbeit als
Plakat-Affichierer, allerdings nur unter der Auflage, ein Fahrrad zur Verfügung
zu haben. Um sein altes Fahrrad einzulösen, muss im Pfandhaus die Bettwäsche
seiner jungen Familie dafür eingesetzt werden.
Schon am ersten Arbeitstag wird Antonio sein Rad gestohlen, und zwar während er sich auf der Leiter damit abmüht, seine ersten Plakate zu affichieren. Nicht ein einzelner Dieb, sondern ein in perfekter Arbeitsteilung agierendes Gefüge aus mehreren Komponenten sondiert zunächst genau das Terrain. Ein unauffällig gekleideter Mann stellt sich zwanglos neben das Fahrrad, ein weiterer, jüngerer Mann mit „deutscher Kappe“ wartet den geeigneten Moment ab und fährt das Rad dann eilig davon. Der erste Mann tut, als hätte er vom Diebstahl nichts bemerkt, und stellt sich Antonio scheinbar versehentlich in den Weg, und schließlich schwingt sich ein Dritter auf jenes Auto, auf das Antonio schon zur Verfolgung aufgesprungen ist, und führt es auf eine falsche Fährte. Gegen diesen arbeitsteilig agierenden Schwarm von Fahrraddieben ist Antonio völlig chancenlos. Als er zum Tatort zurückkehrt, haben sich alle möglichen ZeugInnen verlaufen.
Beim Versuch, die Polizei für die Wiederbeschaffung des Fahrrads zu gewinnen, nimmt ein erster Polizist die Tat zwar auf, winkt dann aber gleich ab; die Sache sei nun protokolliert, der Bestohlene möge sein Fahrrad nur selber suchen. Noch mehr als das Buch ist der Film der nun beginnenden durch die Stadt vazierenden Suche nach dem Rad gewidmet, vom Schwarzmarkt auf der Piazza Vittorio zur Verzweiflung an der Porta Portese, wo die Fahrraddiebe ihre Beute wieder in Umlauf bringen, in unglaublichen Mengen und einem nicht abreißenden Strom des immer neu herangebrachten Materials. Wenn sie glauben, es sei zu leicht wieder erkennbar, zerlegen sie es, wenn nötig, in alle Einzelteile, und verkaufen diese einzeln – Glocken, Bremsen, Sattel, Pumpen, Pedale, Dynamos, Scheinwerfer, Reifen, etc. Dementsprechend teilen auch Antonio und seine Freunde den Blick auf, rastern die Szenerie: einer schaut auf die Rahmen, einer auf die Reifen, einer auf die Glocken und die Pumpen. Doch durch die mannigfaltigen Tarnstrategien wie das Auswechseln von einzelnen Teilen oder den Neuanstrich sind die besonderen Merkmale des Fahrrades zum Verschwinden gebracht, die Identität des Rads nicht mehr festzustellen. Auch ein schnell herbei geholter zweiter Polizist scheint nicht gerade interessiert an der Lösung des Falls. Im Buch Bartolinis finden sich Polizisten sogar unter den Verkäufern am Schwarzmarkt, und die Geschäfte der offiziellen Fahrradhändler sind ebenso in das Gefüge der Fahrraddiebe integriert.
Neben und unterhalb der manischen wie erfolglosen Suche nach dem Fahrrad entwickelt der Film eine Studie der sozialen Maschine seiner Diebe. An der Porta Portese sieht Antonio plötzlich den jungen Dieb, der sein Fahrrad weggefahren hatte, verliert ihn dann jedoch wieder. Als er ihn zum zweiten Mal entdeckt, kann er ihn verfolgen und auf der Straße stellen, wo seine Familie wohnt. Dabei macht er die Bekanntschaft der sozialen Maschine als unüberschaubarer Menge. Die halbe Nachbarschaft solidarisiert sich mit dem nun einen epileptischen Anfall erleidenden Jungen, der herbeigerufene Polizist, der dessen Wohnung durchsucht, bringt Antonio dazu, von einer Anzeige Abstand zu nehmen. Die soziale Maschine der Fahrraddiebe franst völlig aus, ihre Umrisse sind diffus, Innen und Außen sind nicht mehr unterscheidbar. Als Konsequenz versucht Antonio in seiner Verzweiflung am Ende selbst, Fahrraddieb zu werden, erfolglos, er wird bei seinem ersten Versuch sofort ertappt.
Der Status des den ökonomischen Verhältnissen in seiner Ganzheit unterworfenen Arbeitersubjekts im Film erhellt das maschinische Setting der Fahrraddiebe allerdings genauso wenig wie die fiktive Souveränität des bürgerlichen Dichtersubjekts aus dem Buch. Und auch ein Zusammenlesen der so unterschiedlichen Fügung des Protagonisten in die Narration von Original und Verfilmung hilft uns hier kaum weiter. Die zwei Seiten des Subjekts, das in Buch und Film so getrennt als entweder souverän oder unterworfen inszeniert wird, dieses zweiseitige Dispositiv der sozialen Unterwerfung reicht nicht aus, um die ausschwärmende Maschine der Fahrraddiebe zu erfassen. Selbst ein Subjektbegriff, der ohne Dichotomie von Souveränität und Unterwerfung auskommt, selbst die komplementäre Konstruktion der beiden Pole führt nur zu einem beschränkten Verständnis maschinischer Subjektivierungsweisen. Offensichtlich geht es hier – in der schwarmförmigen Sozialität der Fahrraddiebe und der Schwarzmärkte – um eine weit diffusere Form, die nicht über das Zählen, Messen, Rastern als Staatsapparat erst Subjekte konstituiert und dann deren umfassende soziale Unterwerfung und Abhängigkeit sicherstellt. Eine opake und schwer greifbare Form der maschinischen Indienstnahme scheint hier am Werk, die Erfindung und Kooperation ohne sichtbare Hierarchie, ohne Unterwerfung in Gang setzt, die sogar Staatsapparate übercodieren und in das Dispositiv der Maschine einzuspeisen vermag.
Mit dem Gefüge der Fahrraddiebe treten auch die Ambivalenzen aller drei Fahrrad-Maschinen deutlicher zu Tage: die drohende Gefahr, die Fahrräder würden Sitze im Landtag beanspruchen und die Herrschaft übernehmen, die im Film zwar nicht gezeigte, aber – wir wissen es – seit den 1970er Jahren vollzogene Integration von nicht nur Themrocs Aufstand in den Differenzkapitalismus, schließlich die Maschine der Fahrraddiebe als mafiöse, vielleicht sogar faschistoide Mikropolitik, das sind die negativen Pole einer schillernden und changierenden Ambivalenz der Maschine. Doch es geht auch ein großer Zauber von ihr aus.