12 2002
Alle oder Keiner? Multiple Namen, imaginäre Personen, kollektive Mythen
Ein multipler Name ist "ein Name, den jeder benutzen kann": Diejenigen, die ihn in die Welt gesetzt haben, seien sie bekannt oder unbekannt, Personen oder Gruppen, beanspruchen ausdrücklich weder ein Monopol für seine Verwendung noch irgendein Copyright. Doch können solche Namen mehr sein als der schlichte Ausdruck der Tatsache, dass ihre Verwender anonym bleiben wollen: Ist der multiple Name auch als Ausdruck von Anonymität nur eine Leerstelle, ein Zeichen ohne eigene Bedeutung, so kann er doch zu einem kraftvollen Signifikanten werden, wenn er sich mit einer bestimmten, erkennbaren und abgrenzbaren Praxis verknüpft. Er bezeichnet dann nicht nur diese (künstlerische, politische, religiöse) Praxis, sondern bindet sie zugleich an die Gestalt einer imaginären Person. Indem die Praxis erkennbar wird und sich mit Leben erfüllt, erwacht auch diese Person zum Leben.
Ihre Gestalt gewinnt Konturen, bekommt eine Geschichte, einen Mythos. Treten Menschen in diese Geschichte ein und nehmen sie an den Praktiken teil, die mit dem multiplen Namen verknüpft sind, so werden sie tatsächlich Teil der imaginären und kollektiven Person: Die Praxis der Einzelnen wird durch den kollektiven Mythos mit Kraft ausgestattet und reproduziert diesen zugleich. Und umgekehrt verliert diese Praxis ihre Konturen und ihre signifikative Kraft, so stirbt auch die kollektive Person, in der sie sich verkörpert.
Der multiple Name hebt die Trennung von Individuum und Kollektiv auf. Er verleiht den einzelnen in magischer Weise Anteil an der kollektiven Gestalt der imaginären Person, in der sich die Bewegung und die Kraft einer unsichtbaren Masse verkörpern. Die Masse gewinnt Gestalt, sie wird in der Form der imaginären Person zum handelnden Subjekt. Gerade die Namen-losen Unterdrückten haben dieses Prinzip immer wieder verwendet. So tauchte es beispielsweise bei den Bauernaufständen auf: 1514 zogen süddeutsche Bauern im Namen des "armen Konrad" ins Feld.
Doch es war kein Anführer, der so die revoltierende Masse verkörperte. Jeder einzelne von ihnen war ,der arme Konrad', der nun gegen seine Bedrückung aufstand. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts verkörperte in England der multiple Name "des General Ludd" die Unterdrückten. Als imaginärer Anführer der Angriffe gegen die neuen Maschinen richtete er seine selten folgenlosen Drohungen gegen die kapitalistischen Betreiber der modernen Formen der Ausbeutung. Obwohl (oder gerade weil) die Bewegung des "General Ludd" keinerlei feste organisatorische Form besaß, war sie jahrelang in der Lage, den Ausbeutern Angst und Schrecken einzujagen.
Während "General Ludd" weder eine reale Person war noch für eine feste Organisation stand, folgen spätere Organisationsformen der Arbeiter der bürgerlichen Trennung zwischen Individuum und kollektiver Praxis. Das Kollektiv (das Proletariat etc.) wird zu einer abstrakten und hierarchisch verwalteten Angelegenheit. Seine symbolische Kraft manifestiert sich nicht mehr unmittelbar in der Praxis jedes einzelnen. Träger dieser Kraft sind allenfalls einige wenige, "herausragende" Individuen, die als Anführer, Helden, Vorbilder fungieren. In der Gegenwart tritt der Gedanke der multiplen Namen nicht zufällig dort in Erscheinung, wo der bürgerliche Kult des herausragenden Individuums am ausgeprägtesten ist, im Bereich der Kunst. Wenn ein multipler Name als Künstlernamen verwendet wird, schließt das Zuordnung eines Werks zu einem individuellen Autor aus. Die Neoisten haben dieses Prinzip konsequent verwendet. Dabei verwandelten sich Künstlernamen wie Harry Kipper in multiple Namen, während andere solcher Namen wie Monty Cantsin mitsamt den zugehörigen Mythen als bewusste Produkte der neoistischen Kunstpraxis anzusehen sind. Schließlich ist als bedeutendstes postsituationistisches Kunstwerk die Schaffung des kollektiven Mythos von Luther Blissett zu nennen, bei dem, wie schon bei Karen Eliot, auf den Namen einer existenten Person zurückgegriffen wurde.
Ein besonders hinterhältiger Angriff auf bürgerliche Subjektkonzepte ist es, reale Individuen unversehens oder sogar gegen ihren Willen in kollektive Personen zu transformieren. Ein populäres Beispiel hierzu: Eine relativ leicht zu erlernende Praxis ist es, mit blonder Perücke und Sonnenbrille angetan schlecht zu singen. So blieb es nicht aus, dass dem ersten Heino erst ein zweiter (der wahre ...) und dann viele weitere nachfolgten. Ein weiteres Beispiel ist der Versuch, bei der Zürcher Bürgermeisterwahl den Kandidaten des bürgerlichen Lagers, Andreas Müller, kurzerhand in eine kollektive Person zu verwandeln - um Teil dieser Person zu werden, genügte es, Müller zu heißen und unter diesem Namen auf einem Stimmzettel zu erscheinen.
Auch in einem aktuellen politischen Kontext tritt ein multipler Name in Erscheinung. Eine der genialen medienstrategischen Leistungen der zapatistischen Guerilla von Chiapas war es, den Namen ihres Sprechers Subcomandante Marcos zu einem kollektiven Namen zu machen ("Wir alle sind Marcos").
Damit setzten sie nicht nur die bereits in dem Titel "Subcomandante" angelegte Dekonstruktion des Prinzips des Revolutions- oder Guerillaführers fort, sondern sie schufen zugleich eine neue Form des kollektiven Mythos: Die Person des realen Guerilleros bleibt ohne eine fixierbare, festgeschriebene Geschichte. Die erkennbaren Attribute wie Skimütze und Uniform verstecken seine wahre Rolle als leeres Zeichen nicht, sondern unterstreichen sie sogar noch. Gerade weil die reale Person unscharf bleibt, kann diese Leerstelle durch zahllose Erzählungen und Legenden gefüllt werden. In diesem Prozess wurde der kollektive Mythos "Marcos" zum allgegenwärtigen Träger verschiedenster Bedeutungen, zum Ausdruck und Identifikationspunkt subversiver wie sexueller Phantasien (Diese bringen die symbolische Potenz der kollektiven Person vielleicht am deutlichsten zum Ausdruck: Obwohl weder sein Gesicht noch sein Körper je zu sehen waren, wurde Marcos zum ,attraktivsten' Mann Mexikos gewählt). Schließlich konnten Zehntausende mit dem Ruf "Auch wir sind Marcos" durch die Straßen von Mexico City ziehen und sich damit in machtvoller Weise politisch artikulieren.
Der Mythos von "EI Sub" unterscheidet sich dabei deutlich von dem eines individuellen Helden wie Che Guevara: eine Aussage wie "Auch ich bin Che Guevara" wäre einfach blödsinnig. Die Herrschenden in Mexiko haben übrigens die Funktionsweise des kollektiven Mythos und der damit verbundenen magischen Praxen sehr genau verstanden. Das zeigen ihre verzweifelten (und erfolglosen) Bemühungen, das hinter dem Namen Marcos "in Wirklichkeit" stehende Individuum ausfindig zu machen, sein Gesicht zu zeigen und ihn so vom kollektiven Mythos zum bürgerlichen Individuum zu reduzieren.
Der Ursprung der multiplen Namen verliert sich im Dunkel der Geschichte, sie verweisen auf uralte religiöse und magische Praktiken. Bereits der älteste noch lebendige dieser Namen zeigt das Prinzip in voller Klarheit: Alle sind schon immer und von Natur aus Buddha. Zugleich aber ist die Teilhabe an der kollektiven Person durch eine Praxis vermittelt: "Indem ihr die Praxis des Buddha verwirklicht, seid ihr dem Buddha gleich. Ihr seht mit denselben Augen, hört mit denselben Ohren und sprecht mit demselben Mund. Es gibt da nicht den geringsten Unterschied."
Durch die Verwendung multipler Namen werden also in gleichsam naturwüchsiger Weise archaische Formen aufgegriffen, die die Trennung von Individuum und Kollektiv in Frage stellen: Multiple Namen sind nicht in erster Linie Formen der Anonymität (als solche sind sie nicht besser als gar kein Name), sondern die denkbar schärfsten Angriffe auf moderne Konzepte bürgerlicher Subjektivität und Identität. Sie demonstrieren anschaulich, dass diese Konzepte nur der Natur des Menschen fremde Illusionen sind. Damit manifestieren sie die zeitlose Wahrheit der Vorstellungen, dass die menschliche Identität nichts ist als Artikulation und Schnittpunkt kollektiver Praxen, dass eine menschliche Natur jenseits dessen nicht existiert. Diese eigentliche subversive Kraft des multiplen Namens zeigt sich freilich nur in der konkreten Praxis: Werde auch du Luther Blissett!
aus: autonome a.f.r.i.k.a. gruppe: Handbuch der Kommunikationsguerilla, Berlin, Hamburg, Göttingen: Assoziation A 1997