12 2002
Gibt es den Neoismus?
"Each decade has Neoists and their situation is always different. We formed a network to revolt against oppression, and we hope that our efforts will end with big retrospective exhibitions in the world's most established mueseums, because we know that each revolution ends with the imprisonment and execution of its leaders and participants." [1] (Monty Cantsin)
Der Kontaktmann
Der Copper Grill, nahe der Londoner Liverpool Street Station, ist ein billiges Steak-Restaurant im Stil der 50er und dürfte auch seit diesen nicht mehr renoviert worden sein. Seinen Charme gewinnt das Lokal durch die rote Plastikbepolsterung und Verchromung. Hier hatte ich ein Treffen mit Stewart Home vereinbart. Langsam füllte sich das Lokal mit den Managern der Büros der Umgebung. Es war Lunch-Zeit.
Stewart Home ist nicht nur erfolgreicher Verfasser von Redskin-Pulp-Romanen, die sich zum Großteil aus gesampelten Gewalt- und Pornoszenen zusammensetzen. Er ist vor allem Wortführer und einziges Mitglied der Neoist Alliance, einer neoistischen Fraktion, die sich 1986 vom Hauptstrang des Neoismus abspaltete. In seinem letzten Roman Slow Death bringt er beides zusammen. In Slow Death gründet die Trendkünstlerin Karen Eliot eine Geheimloge namens Semiotic Liberation Front mit dem Ziel, den Neoismus in die Kunstgeschichte einzuschleusen, und setzt als Verbindungsmann den Skinhead Johnny Aggro ein. Dieser gibt an die Mitglieder der Loge die Weisung aus: "Your Lodge must study Neoism and do everything to promote the movement. Also, my masters want you to begin a campaign of vandalising statues and sculptures" [2]. Ich warte.
Mit fünfzehn Minuten Verspätung betritt die Neoistische Allianz in Gestalt von Stewart Home, der in Slow Death selbst als Bob Jones auftritt, den Copeer Grill. Die Neoistische Allianz alias Stewart Home alias Bob Jones alias Karen Eliot setzt sich, bestellt einen Tee und schiebt eine Plastiktüte mit unverkennbarem Inhalt über den Tisch. Bücher. Neben den Romanen Slow Death und Red London zeihe ich den "Neoism, Plagiarism & Praxis"-Reader heraus, die Neoistischen Manifeste und Art Strike-Papers, Homes Geschichte der Nachkriegsavantgarde "The Assault on Culture", die von ihm edierte Sammlung von Black Mask-Material, sowie eine Reihe kopierter und gehefteter Paraphernalia mit Titeln wie "Analecta", oder "Disputations. On Art, Anarchism and Assholism". Das meiste davon kannte ich schon.
Bald kommt das Gespräch auf noch nicht publiziertes oder zumindest noch nicht ediertes Material. Stewart Home nippt an seinem Tee. Wenn ich weiteres Material wolle, dann wäre ich am besten in der Tate Gallery Library oder in der National Art Gallery des Victoria&Albert Museum aufgehoben. Dort möge ich mit einem der Kuratoren, Simon Ford, Kontakt aufnehmen. Der hätte sich sehr um die Archivierung neoistischer Materialien verdient gemacht, die von den Neoisten den Museen zugespielt worden seien. Manchmal wurde sogar etwas angekauft. Pete Horobin, der früheste englische Neoist, besäße ebenfalls eine umfassende Privatsammlung und könne außerdem benötigtes Material jederzeit nach-fälschen.
Nach einer Stunde deutet Home an, er müsse sich jetzt verabschieden. Er hätte für ein paar Tage ein Tonstudio, wo er an Sound-Experimenten für seine Lesungen arbeite, und müsse die Zeit dort ausnutzen. Wir zahlen und treten aus dem Copper-Grill. Hinter uns blitzt das Chrom. Vom Copper Grill fahre ich zum Victoria&Albert Museum, um Homes Hinweise zu überprüfen. In der Tube kommen mir Zweifel - und dunkle Erinnerungen. Ahnungen. Hatte ich das alles nicht schon einmal erlebt? Oder gelesen? Ich ziehe Slow Death heraus und blättere.
Slow Death
Auf seite 31 trifft sich Karen Eliot mit dem marxistischen Kunstkritiker Jock Graham in einem Pub in Camden. Sie erklärt ihm, neben Geld und Ruhm läge ihr Hauptinteresse auf Historifizierungsprozessen. Jock Graham begibt sich auf Anraten Eliots schließlich in die National Art Library und beginnt, zum Neoismus zu recherchieren.
Aus Seite 47 trifft sich Karen Eliot mit dem Leiter des "Progressive Arts Project" Sir Charles Brewster im Monmouth Coffee Shop in Covent Garden. Sie kommt zu spät. Gemeinsam überlegen sie, wie Neoismus mit dem Geld des Projekts bekanntzumachen sei. Brewster stellt fest, Neoismus sei aufgrund seiner Avantgarde-Anbindung maßgeschneidert für Historifizierung: "Neoism is an art critic's wet dream!"
Auf Seite 52 gibt Eliot einen Talk im CIA (Homes Anagramm für das ICA) zu "Neoism and the Avant-Garde of the 1980s". Auf eine Frage aus dem Publikum, wo denn die besten Archivquellen zum Neoismus zu finden seien, antwortet sie: "you'll find basic materials are lodged with the Tate Gallery Library and the National Art Library. Between them, these two institutions hold most of the books and magazines you'll need to consult. To do really detailed research, you'll need to get in touch with individual members of the movemnet. As far as British Neoists are concerned, Pete Horobin and Bob Jones have the most extensive collections of material."
Auf Seite 91 schwärmt die Semiotic Liberation Front
aus, um neoistisches Material aufzuspüren. Nicht unüberraschend:
British Library, Tate Gallery, National Art Library.
In letzterer trifft ein Mitglied der SLF auch wieder
auf Jock Graham, der sich inzwischen entschieden hat,
eine Geschichte des Neoismus zu schreiben, die ihn in
eine Reihe stellen wird mit solchen Giganten wie Winckelmann
und Ruskin, die den Lauf der Kulturgeschichte verändert
hatten.
u.s.w.
Fiktion oder Fucking-Up
In einem Interview mit dem V&A-Kurator Simon Ford aus dem Jahr 1994 kündigte Home bereits einen Roman über die Historisierung des Neoismus an: Er halte es für angemessen, dass der neoistische Historisierungsprozess zuerst als Fiktion erscheine, bevor zu viele Kunsthistoriker sich von sich aus auf den Neoismus werfen. Damit behauptet Home, dass die Fiktion der Wissenschaft zeitlich vorausgehen muss (Slow Death ist daher eine Art Pulp-Version der Lacanschen These, dass die Wahrheit strukturiert wie eine Fiktion sei. Und so heißt es konsequenterweise in Slow Death: "'Truth is a fiction!' Karen barked. 'People who want hard facts will have to make do with fabrications!" [3]). Eine Behauptung, mit der er riskiert, dass sich "ernsthafte" Historiker, auf die er ja mit seinem Historifizierungsprojekt des Neoimsus angewiesen ist, abgeschreckt fühlen. Und tatsächlich verteidigt er sich gegen Ausverkaufsvorwürfe aus Reihen fundamentalistischer Neoisten mit dem Argument, diese würden einfach nicht erkennen, dass er genau durch sein offenes Kartenspiel und genau durch seine Selbsthistorifizierung mit der Brechstange "echte" Historiker abschrecke.
Sollten wir also Homes Bemühungen, den Neoismus in den Kanon der Kunstgeschichte zu hieven, als praktische Reflexion, sozusagen als das kognitive Gegenstück zu einem practical joke - einen Witz auf die "Verkunsthistorisierung" der Avantgarde" - lesen, und nicht so sehr als ernsthaften Versuch der Selbsthistorifizierung? Als fröhliche Fiktion und nicht so sehr als Wissenschaft? Oder betreibt Home nicht vielmehr eine Variation auf die Tatsache, dass die sogenannten ernsthaften Kunst-Kanons ihre Objekte genauso konstruieren und fiktionalisieren, nur weitaus weniger offen und scherzhaft? Dass Geschichte aber nicht nach positivistischen Kriterien angeblicher Evidenz ein für allemal geschrieben ist, sondern der Kanon ständig neu- und umgeschrieben wird, beweist der Fall Fluxus und dessen plötzliche überwältigende Präsenz seit der Retrospektive zur Biennale 1990 oder der Fall Situationismus und die Flut an Publikationen, Übersetzungen und Neuauflagen.
Neoismus war von Anfang an nicht gerade der logische Kandidat für einen Logenplatz in der Kunstgeschichte der 80er. Seine Anhänger ( in den seltensten fällen Anhängerinnen) stammen aus sogenannten marginalen Milieus, in den seltensten Fällen von Kunsthochschulen. Als größten Historifizierungserfolg konnte der Neoismus bisher gerade eine Eintragung in das Glossary Of Art, Architecture and Design Since 1945 verzeichnen. Home selbst musste Hand anlegen, um in seine eigene Geschichte der Nachkriegsavantgarde, The Assault on Culture, den Neoismus einzuschmuggeln und in eine ehrwürdige Ahnengalerie von Lettrismus bis MailArt zu reihen.
Forschung und Fälschung
Unabhängig von der Frage, ob es eine "neutrale" Kunstgeschichtsschreibung je geben kann, ist die Ausgangslage für auch nur eine halbobjektive Beschreibung des Neoismus denkbar ungünstig, wenn nicht sogar praktisch unmöglich. Das macht den Neoismus zu einem interessanten Extrem- und somit Testfall. Neoismus selbst springt einer "korrekten" Wiedergabe geradezu ins Gesicht. In den Vorbereitungen zu diesem Buch wurde mir mehrfach von Neoisten das Angebot gemacht, sie würden neoistische Werke und Materialien nach bedarf fälschen und rückdatieren. Dieser freizügige Umgang mit der eigenen Geschichte wird keineswegs geheimgehalten, hat noch nicht einmal etwas mit Plagiarismus oder Appropriationismus zu tun (gefälscht werden ja die eigenen Arbeiten), sondern liegt durchaus innerhalb der manifesten neoistischen Philosophie: wenn jede Geschichte eine Manipulation ist, wie Neoisten behaupten, gibt es so viele Geschichten des Neoismus wie es deren Manipulationen gibt. Fälschung, Plagiarismus, Selbstsubversion und -manipulation werden folglich zu zentralen neoistischen Strategien.
Die theoretische Basis solcher Behauptungen scheint auf der Hand zu liegen: dass Geschichtsschreibung ihr Objekt im selben Maße konstruiert wie ihre Konstruktion von ebendiesem Objekt verstört wird, es also nie gänzlich fassen oder endgültig konstruieren kann. So sehr das zutrifft, es folgt daraus dennoch keine Beliebigkeit historischer "Fakten", denn deren Wesen ist zwar kontingent aber nicht arbiträr. Ich beziehe mich dabei auf die Unterscheidung zwischen Kontingenz und Arbitrarität, wie sie von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe vorgeschlagen wurde. Kontingenz bedeutet, dass eine historisch-politische Position nicht durch ein anderes Register (die Gesetze der Geschichte, die Ökonomie, etc.) notwendig determiniert sein kann. Eine hegemoniale Situation ist in genau dem Ausmaß kontingent, in dem sie nicht naturbestimmt ist, sondern Ergebnis von Kämpfen und Praxen des Aushandelns, die so oder anders hätten ausgehen können und genau deshalb auch prinzipiell reartikulationsfähig sind. Damit ist aber andererseits nun keineswegs gesagt, dass diese Situation arbiträr wäre, d.h. dass "keine Gründe" dafür zu finden wären, warum eine bestimmte Hegemonie herrscht, dass die gegenwärtige Situation Resultat eines Würfelspiels wäre. [...]
Neoismus selbst steht in einem Zeitfenster - der Vorzukunft. Wenn Hal Foster zum zentralen Definiens der Neo-Avantgarde macht, diese würde die Bedeutung der Avantgarde nachträglich fixieren, dann möchte der Neoismus zeigen, wie man seine eigene Bedeutung selbst nachträglich fixiert. Die neoistische Selbsthistorifizierungsmanie wirkt also wie eine triviale Illustration dieser poststrukturalistischen Standarderkenntnis, einem Objekt nämlich käme seine Bedeutung immer nur nachträglich zu. Im Fall des Neoismus durch Selbsthistorifizierung. Gibt es also den Neoismus? Es wird ihn gegeben haben.
[Vorwort zu Oliver Marcharts Buch "Neoismus.
Avantgarde und Selbsthistorisierung", erschienen
1997 im Selene-Verlag, Klagenfurt/Wien]
[1] Monty Cantsin: Neoism, in Dyer, Simon (Hg.) Rapid Eye: art, occult, cinema, music. Brighton: Rapid Eye 1989, S.48
[2] Stewart Home, Slow Death, New York und London, High Risk Books, 1996, S.82
[3] a.a.O., S.146