12 2002
zerstreut radio hören
An einem Samstag Nachmittag vor Weihnachten 2002 ist die Hamburger Innenstadt eine glitzernde Konsummeile, voll mit Menschenmassen, die ihre kostbaren Einkäufe auf den Armen tragen. Sie sind bepackt mit Taschen, Tüten, Paketen oder - Radiogeräten. Radios, Lautsprecherboxen und Ghettoblaster werden auch überall umher getragen. Außerdem gibt es trashig kostümierte Engel und Pastoren mit quietschenden Blockflöten, einen Fahrradanhänger mit "Alternativ-Kaffee" und recht viele kleine Polizeitrupps, die die netten jungen Menschen mit den Radios ansprechen. Was genau aus den Radios heraus zu hören ist, ist schwerlich zu bestimmen. Ein Patchwork aus Redebeiträgen aller Art, in vielen Sprachen, aus Musik und Geräuschen lässt sich erahnen.
Ein unüblicher Tag in der Innenstadt, das kann mit Sicherheit für diesen Ort gelten, der in Hamburg ein Exempel der seit Jahren systematisch durchgeführten Ordnungs- und Vertreibungspolitik, der Überwachung und Privatisierung des öffentlichen Raums ist. Hier im Bereich Jungfernstieg, Mönckebergstraße und Rathaus soll der Raum für Konsum und Repräsentation genutzt werden, hat der Hamburger Senat, damals noch rot-grün, bereits vor Jahren beschlossen. Die derzeitige Koalition aus CDU, FDP und der Law-and-Order-Partei des Richters Schill setzt diesen Kurs mit einer Härte fort, die ihre Vorgänger nicht gewagt haben. Aufenthaltsorte für zu wenig konsumwillige oder repräsentative Bürger werden systematisch auf null reduziert, politische Äußerungen sind nicht geduldet, besonders zur Vorweihnachtszeit, in der es nach dem mageren Jahr dann doch noch süß in den Kassen klingeln soll. Kein Raum also für die Artikulation der politischen Anliegen, die derzeit in Hamburg dringend formuliert werden wollen. Etliche Demonstrationen mussten seit der zweiten Novemberwoche dieses Jahres auf jeden Fall vor den Toren der Hamburger Prachtstrassen halt machen.
Seit Montag, dem 4. November, spitzt sich die politische Situation in Hamburg deutlich zu. Mit der polizeilichen Räumung des Wagenplatzes Bambule im innenstädtischen Karoviertel fühlen sich zu viele Menschen zu rigoros mit der von Schwarz-Schill gefahrenen Ordnungspolitik konfrontiert. Eine Welle von Demonstrationen und Aktionen ist die Reaktion einiger hundert Befürworterinnen pluraler Lebensweisen auf das aggressive Vorgehen von Senat und Polizei. In der Bambule-Solidaritätswoche werden mit Laternenumzug, Fahrraddemo, Kundgebung vor der Edeldisco, Diskussionsrunden und weiteren Demos zunehmend mehr Menschen mobilisiert. Die Demonstranten verlangen nicht nur einen neuen Platz für die Wagenburg. Ihre Forderungen sind vielfältiger. Es geht grundsätzlich um die Verteidigung heterogener Lebensstile. Und es geht gegen die autoritäre Gewalt eines Senats, der den emanzipativen, sozialen und politisch engagierten Organisationen dieser Stadt nichts als Repression und Ignoranz entgegenzubringen hat.
Vier Wochen nach der Räumung ist das Bedürfnis nach Artikulation von Protest und politischer Meinung nicht gewichen. Aber es ist eine weitere Forderung hinzugekommen. Denn - bisher marschierten die bis zu fünftausend Menschen pro Demo durch windige menschenleere Verkehrsachsen, von dreitausend Polizisten im Doppelspalier begleitet und von Wasserwerfern und Räumfahrzeugen flankiert. Und immer wieder führte die Demo bis in "ihre Viertel", Schanzenviertel und Karoviertel, und blieb dort unter sich.
Zurück zu Samstag, 14. Dezember 2002 in der Hamburger Innenstadt. Die demonstrativ getragenen Radios sind dem Aufruf der Hamburger Radiogruppe Ligna folgend hier. Die Radiogruppe Ligna, namentlich Ole Frahm, Michael Hüners und Torsten Michaelsen, senden seit 1996 auf FSK (Freies Sender Kombinat), dem freien Hamburger Radiosender, meist Musik, aber heute eine Sendung bestehend aus einer Vielzahl von Wortbeiträgen diverser Gruppen zur politischen Lage in Hamburg, aus Demo-Mitschnitten der letzten Wochen, aus Geräusch und Musik.
Auf Straße, Weihnachtsmarkt und in Kaufhäusern wird jetzt die dreistündige Sendung übertragen, mehrere hundert Radioträgerinnen haben sich in der Mönckebergstrasse eingefunden, 93,0 MHz Freies Sender Kombinat eingestellt und sich flanierend zerstreut. Die Radios werden mäßig laut gehört, kleine Polizeitrupps sorgen für die wenig optimale Lautstärke, aber wo Radioträgerinnen eine Weile stehen bleiben, werden die Passanten aufmerksam. Im Laufe der drei Stunden werden zunehmend Fragen gestellt. Erklärungsversuche, Gespräche und Diskussionen zwischen Personen folgen. Man erspäht eine Vielzahl kleiner Antennen, die aus Jacken, Taschen und fast überall sonst herausragen. Die Radios werden zu einem wiedererkennbaren Zeichen. Auch in den Kaufhäusern, so hört man, wurden ganze Radioabteilungen auf Empfang gestellt. Die offensichtliche und unerklärliche Präsenz der Radioschwärme löst deutliche Irritation aus. Ob es sich bei dieser Sache eher um eine Verschwörung oder ein wichtiges Fußballspiel handelt, scheint zunächst unklar. Diesen Moment der Irritation zu nutzen oder nicht, bleibt den Radioträgerinnen selbst überlassen.
Die Zerstreuung ist keine Versammlung. Anders als eine Demonstration wirkt sie nicht durch Geschlossenheit, sondern durch eine gute Verteilung im Raum. Die Radiodemo teilt mit ihrer großen Schwester die Notwendigkeit kollektiven/ konzertierten Handelns, jedoch ordnungspolitische Handhaben werden für diese Art der Artikulation nicht bereitgehalten. Die Zerstreuung kommt gar nicht erst in Konflikt mit den Entfaltungsrechten von Konsumenten und Geschäftsleuten, auf die sich die gerichtlichen Entscheidungen für ein Verbot meist beziehen. Die Polizisten im Einsatz verweisen daher etwas hilflos auf die Lautstärke der Radios und erteilen einige schlecht begründete Platzverweise. Schließlich lässt der Wortlaut der Lärmschutzverordnung auch keine plausibel begründeten Eingriffe zu: "Rundfunk- und Fernsehgeräte ... dürfen nur so benutzt werden, dass andere nicht erheblich belästigt werden." Die meisten Passanten schienen eher amüsiert denn belästigt zu sein.
Ligna haben die Strategie der Zerstreuung bereits im Mai dieses Jahres ein erstes mal erfolgreich erprobt. Das "Radioballett" dirigierte einige hundert Teilnehmerinnen eine Stunde lang durch den Hamburger Hauptbahnhof. Lignas Sendestudio in der Kunsthalle nebenan erteilte ein Set von Bewegungsanweisungen, die von den mit Radio und Kopfhörer ausgestatteten Teilnehmerinnen ausgeführt wurden. Sitzen, aufstehen, die Hand wie zum Betteln ausstrecken - und umkehren. Tanzen und "dem abfahrenden Zug der Revolution nachwinken". Die Rückführung verbotener Gesten in den Kontrollraum des Hauptbahnhofs funktionierte bedingt - die Symbolik der Bewegungen konnte von den meisten Passanten nicht gedeutet werden. Der Moment der Irritation jedoch gelang nicht zuletzt durch die raumgreifende Ausdehnung und unheimliche Anmutung der stummen Choreografie.
Die Subversion des gängigen Umgangs mit politischer Artikulation war in Radioballett und Radiodemo gleichermaßen erfolgreich. Das vom Bahnhofsmanagement angestrengte Verbotsverfahren blieb ergebnislos, ein kleiner Sieg für die Wiedergewinnung des umkämpften Raumes im Hauptbahnhof. Die Meinungs- und Kunstfreiheit galt an diesem Tag auch für diesen Ort. Auch bei der Radiodemo bedient sich Ligna der Sabotage des städtischen Handlungsrepertoires - anhand des etwas hilflosen Vorgehens der Polizei wird die Unangemessenheit standardisierter Methoden im Fall der Zerstreuung deutlich. Ligna verbindet hier die organisierende Funktion des Radios mit der Strategie der Subversion. Die mit der Zerstreuung herbeigeführte Irritation führt zur kommunikativen Auseinandersetzung und diese bleibt in ihrer Unvorhersehbarkeit die unkontrollierbare Variable für Ligna. Die Macht des freien Radios beginnt und endet mit den Hörerinnen. Ligna gibt an diesem Punkt das Geschehen ab an die Entscheidungen und politischen Handlungen der Teilnehmerinnen.
Die große Resonanz auf die Radiodemo wurde nicht zuletzt aufgrund der Rolle hervorgerufen, die FSK in den letzten Wochen während der Bambule-Demonstrationen eingenommen hat. Des Senders zunehmend wichtige Position in der Berichterstattung und Diskussion des politischen Geschehens leitet sich wesentlich aus dem Umstand ab, dass er nicht nur Beobachter, sondern auch Teil der Bewegungen auf der Straße im Sinne des Bewegungsradios ist. Ligna sprechen von Bewegungsradio (ein Begriff, der sich von den Piratensendern und widerständischen Freien Sendern der 80er Jahre ableitet), wenn Radio nicht über eine Bewegung im journalistischen Sinne berichtet, sondern selbst Teil der Bewegung ist, wenn die Hörer zu Sendern werden. Der Begriff der Bewegung soll an dieser Stelle keinesfalls auf eine organisierte Homogenität hinweisen, vielmehr geht es darum, im Radio Positionen und Stimmen zur Geltung zu bringen, die Teil der Dinge sind, über die berichtet wird.
Die jetzige Situation in Hamburg ist offen - selbst die Zukunft der Bambule ist noch nicht gesichert, das drängende Problem der geschlossenen Heime, die rückwärtsgewandte Verkehrs- und Bildungspolitik des Senats, der Kahlschlag unter den sozialen Einrichtungen geben dem Hamburger Widerstand viel zu tun. Was sich in den letzten Wochen jedoch erweisen konnte, ist das Durchhaltevermögen der Demonstrantinnen, Radioträgerinnen und Radiomacherinnen, die trotz der übermächtigen Polizeipräsenz nicht müde wurden, ihren Unwillen kund zu tun. Nicht zuletzt ist das mit ein Verdienst der vielen Radiogruppen, die auf FSK für die Vervielfältigung von Informationen sorgen und so die nötige Infrastruktur für eine Bewegung auf der Strasse bereit stellen. Die Methode der Radiodemo - und die Entwicklung und Erprobung weiterer alternativer Widerstandsformen steht auch anderen Produzentinnen und Rezipientinnen offen. Die Zerstreuung politischen Inhalts im öffentlichen Raum hat erst begonnen.
Berichte vom Radioballett im Mai 2002
http://www.glizz.net/artikel/artikel_12.php
http://de.indymedia.org/2002/05/21525.shtml
Ole Frahm zur aktuellen Situation in Hamburg
http://www.nadir.org/nadir/periodika/jungle_world/
_2002/50/sub08a.htm
Homepage des FSK
http://www.fsk-hh.org
Audioportal Freier Radios mit Beiträgen auch von FSK
http://freieradios.nadir.org/