10 2004
Benjamins "Der Autor als Produzent": Eine Re-Lektüre im postkommunistischen Osten
Übersetzt von Therese Kaufmann
Beginnen wir mit
dem allgemein vorherrschenden Gefühl, dass die Perspektiven
linker Politik im Osten zu einem weitaus höheren Grad
ausgedient haben, als im Westen. Es hat sich klar gezeigt,
dass die praktische Erfahrung des "real existierenden
Sozialismus" und in Folge das Zusammenbrechen des
gesamten Systems des Kommunismus sozusagen eine "Wüste
der Linken" hinterlassen haben: einen jeder Form
linker Ideen oder von der Linken inspirierten politischen
oder kulturellen Praxis gegenüber historisch, politisch
und kulturell extrem feindselig eingestellten Raum.
Wie in einer Wüste gibt es nur
wenige Überreste vergangener Blüte, die nur überlebt
haben aufgrund ihrer Bereitschaft, sich an die neuen
postkommunistischen Gegebenheiten anzupassen. Zu diesen
gehören an erster Stelle die ehemals herrschenden kommunistischen
Parteien - beziehungsweise das, was von ihnen übrig
geblieben ist -, die sich in der Zwischenzeit ideologisch
mit dem sozialdemokratischen Reformismus identifiziert
und ihre politische Geltung meist durch eine Allianz
mit einem wie immer gearteten Nationalismus wieder gewonnen
haben.
Natürlich gibt es ein paar "Freaks",
die als Einzelne oder innerhalb irgendwelcher individuell
hervorgebrachter öffentlicher, kultureller, künstlerischer,
sozialer oder anderer Projekte das unvermeidlich Scheinende
nicht akzeptiert haben: nämlich die vollständige Wiederherstellung
und/oder Umsetzung des Kapitalismus und der parlamentarischen
Demokratie westlicher Prägung. Doch beweisen diese Ausnahmen
nur die Regel: In der Wüste gibt es weder frisches Wasser
noch irgendeine Lebensgrundlage für neue linke Initiativen.
Die Konsequenz daraus ist, dass es anscheinend nichts
Grünes zu pflücken gibt in diesem Meer von Sand.
Aus dieser Perspektive, also
jener des Ostens, erscheint das Phänomen der so genannten
"westlichen Linken" deshalb wie eine Art Fata
Morgana: eine grüne Oase der Antiglobalisierungsbewegung
oder der aus der neuen Multitude, linken zivilgesellschaftlichen
Initiativen und sozial und politisch engagierten Kunst-
und Medienprojekten etc. entstehenden Diskussionen der
Sozialforen. Man könnte sogar behaupten, es gäbe eine
Art linksliberaler Hegemonie in der Theorie: Der Feminismus
beispielsweise ist in den entwickelten westlichen Ländern
längst zu einem normalen Bestandteil akademischer Curricula
geworden. Die verschiedene Kunst- und Kulturveranstaltungen
begleitende theoretische Reflexion ist oft von einer
linken intellektuellen Tradition geprägt. Sogar ein
neues Interesse an Lenin, der mit dem Zusammenbruch
des Kommunismus im Ostblock völlig verschwunden schien,
taucht im Westen zumindest in dem, was wir irgendwie
als linke Theorie verstehen, wieder auf. Und schließlich
ist das Bild von Che Guevara, der alten Ikone der revolutionären
Linken, die für immer tot zu sein schien, wieder omnipräsent.
Kurz gefasst: Wenn es heute im
Osten so etwas wie eine linke Initiative gibt, muss
sie ihre Ursprünge im Westen gehabt haben und zusammen
mit all den anderen Einflüssen gekommen sein, die die
heutigen Lebensbedingungen im Osten bestimmen: politische
Systeme, kapitalistische Ökonomie, liberale Ideologie,
Massenkultur, totaler Konsum, die wichtigsten Unterhaltungsgenres,
hegemoniale theoretische Konzepte, Cultural Studies,
Postcolonial Studies, der schon genannte Feminismus,
analytische Philosophie, Dekonstruktivismus, die englische
Sprache etc. Im gleichen Paket finden wir eine links
orientierte Kunstproduktion und deren theoretische Reflexion.
Auch hier finden wir, was sich
mit dem Che Guevara auf T-Shirts vergleichen lässt,
das wahrscheinlich in einem Sweatshop irgendwo in Osteuropa
hergestellt wurde und trotzdem eine exklusive westliche
Marke repräsentiert. Dasselbe passiert mit Lenin. Auch
er ist vollkommen neu im Osten und hat nichts mit jenem
Lenin zu tun, dessen Name vor nur einem Jahrzehnt noch
so viele Straßen, Plätze und Institutionen zierte und
dessen revolutionäre Theorie einen wesentlichen Teil
des akademischen Curriculums im sozialistischen Osten
darstellte. Dieser neue Lenin muss im Osten erst erlernt
werden - natürlich auf Englisch und in einem Paket mit
Laclau, Badiou und Negri, mit Documenta, Manifesta und
all den Biennalen.
Summa summarum: Wenn es im Osten
so etwas wie ein linkes Engagement gibt, muss es ein
vollkommen eklektischer Import aus dem Westen sein.
Das ist deshalb so,
weil das heutige Verhältnis zwischen dem Westen und
dem Osten den selben Übergangsmustern folgt: Der Westen
ist das Subjekt, das im Besitz von Wissen ist und demzufolge
berechtigt ist zu lehren. Der Osten hingegen ist derjenige,
der lernen muss, der vom Westen alles, inklusive der
linken Ideen, die in aktuellen Kunstpraxen und im kulturellem
Aktivismus ausgedrückt werden, also inklusive seines
eigenen Lenin, lernen muss.
Das Muster, von dem ich spreche,
basiert eigentlich auf dem von Jürgen Habermas entwickelten
Konzept der so genannten "nachholenden Revolution",
wie er die demokratische Revolution von 1989 definiert.
Diesem Konzept zufolge besteht das gesamte Wesen der
Revolutionen von 1989 in Osteuropa aus dem Bedürfnis,
eine Entwicklung nachzuholen, die im Westen schon erfolgt
ist. Der Osten ist somit grundlegend definiert durch
seinen Nachholbedarf, was einige TheoretikerInnen, zu
denen auch Habermas gehört, etwas deskriptiver "verspätete
Moderne" nennen.
Was seit dem Zusammenbruch des
Kommunismus eigentlich passiert ist, ist diesem Konzept
zufolge nichts anderes als der Prozess einer beschleunigten
Modernisierung. Und so sollten wir die Rezeption linker
Ideen und kultureller Praxen aus dem Westen verstehen
- als ein Element dieser Modernisierung.
Aber es ist etwas Eigenartiges
an dieser Rezeption, an diesem (Wieder‑)Erlernen
linker Ideen vom Westen, die impliziert, dass es keine
historische Erfahrung des europäischen Ostens, also
der früheren kommunistischen Gesellschaften, gibt, an
die heutige linke Ideen anschließen oder an der sie
sich orientieren könnten.
Wie wir uns erinnern, war Pol
Pot der Meinung, dass eine neue kommunistische Gesellschaft
ab ovo, das
heißt ganz von Anfang in der Form eines radikalen Neubeginns
gebildet werden müsse, als ob nichts davor jemals existiert
hätte, weder eine Vergangenheit, noch jegliche historische
Erfahrung.
Werden wir heute glauben gemacht,
dass die linken politischen, künstlerischen und kulturellen
Initiativen in Osteuropa, die allesamt auf den Westen
zurückgehen, den gleichen radikalen Standpunkt einnehmen
müssen hinsichtlich ihrer eigenen Geschichte, also hinsichtlich
der Traditionen linker Ideen und Bewegungen, die ursprünglich
im Osten entstanden sind, und dass sie wie in einem
- natürlich parodistischen - Widerhall von Pol Pot ganz
von vorn beginnen
müssen?
Diese Frage ist wahrscheinlich
nichts anderes als eine rhetorische Provokation, sodass
sie nicht wirklich beantwortet werden muss. Aber sie
macht uns auf die Tatsache aufmerksam, dass unsere Re-Lektüre
von Benjamins "Autor als Produzent" heute
in einer postkommunistischen Gesellschaft unter ähnlichen
Bedingungen stattfindet. Sie findet in einem hermeneutischen
Raum statt, der sorgfältig von jeder genuin linken historischen
Erfahrung, also jeder tatsächlichen Realität, an die
angeschlossen, eine Verbindung hergestellt werden oder
verwiesen werden könnte, befreit wurde, als ob sie in
einem vollkommen virtuellen Raum stattfände. Denn wir
wissen: Es gibt keine Realität außerhalb einer ausgesprochenen
Erfahrung dieser Realität.
Und doch deutet Benjamins
Text an sich, in dem, was sein wirklicher Inhalt ist,
auf eine vollkommen andere Situation hin.
Als ausgesprochen linker Autor
(wie er sich selbst innerhalb des Texts in einem vorgetäuschten
Zitat seiner selbst definiert) reflektierend, bezieht
sich Benjamin explizit auf die Realität dessen, was
er zu dieser Zeit noch als erfolgreiche proletarische
Revolution wahrnahm und was - nota
bene! - im Osten, im Russland nach der Oktoberrevolution
stattfand. Eigentlich bezieht er sich auf die kulturellen
und künstlerischen Experimente, die zu dieser Zeit bereits
in ihrer historischen Realität getestet worden waren
- sowohl im Westen als auch im Osten. So verweist er
etwa auf Tretjakow und Brecht.
Benjamin benützt auch reflexive
Methoden wie den dialektischen Materialismus, die nicht
nur Möglichkeiten kritischer Philosophie oder intellektueller
Kritik sind, sondern auch funktionierende Instrumente
- um nicht Waffen zu sagen - einer wirklichen, zu dieser
Zeit sehr starken internationalen, politischen Bewegung
und einer existierenden sozialen Organisation und Institution,
nämlich des sowjetischen Staats.
(Sein Selbstbewusstsein und die
Sicherheit seiner Argumentation im Text sind zweifellos
eine Reflexion dieser real existierenden Macht-Infrastruktur
der proletarischen Bewegung, die hinter all diesen Diskussionen
steht. Wir sollten nicht vergessen, dass der Text eigentlich
ein am "Institut zum Studium des Faschismus"
in Paris gehaltener Vortrag war, organisiert von der
französischen kommunistischen Partei.)
Benjamin beruft sich auch auf
die Ideen und kritischen Konzepte sozial engagierter
Kunst, die zu dieser Zeit, wie er offensichtlich annahm,
noch ihre Zukunft vor sich hatte (zum Beispiel die Ideen
von Louis Aragon).
Der historische Raum, in dem
der Text produziert wurde und in dem Benjamin als Autor
und Produzent sein Engagement formuliert, ist alles
andere als frei von linken Erfahrungen und ist keinesfalls
in zwei Teile geteilt, von denen einer Wissen transportiert
und der andere vom ersten zu lernen hat. (Benjamin wäre
der Erste, der diese Teilung in Frage gestellt und wahrscheinlich
als eine Auswirkung von Macht- oder Klassenverhältnissen
kritisiert hätte.)
Diesen vollkommen anderen historischen Kontext sollten wir im Gedächtnis behalten, wenn wir dieses elementare Argument wiederholen: Das entscheidende Moment ist nicht die Haltung eines Kunstwerks zu den Produktionsverhältnissen seiner Zeit, sondern vielmehr seine Position in ihnen. Benjamin meint damit die Funktion, die das Werk in den literarischen Produktionsverhältnissen seiner Zeit hat. Worum es hier geht, ist eigentlich die schriftstellerische Technik der Werke.
Die übliche Re-Lektüre dieser rhetorischen Frage und von Benjamins These ist es heute, zu fragen, welche Position ein Kunstwerk in den Produktionsverhältnissen UNSERER Zeit einnimmt, also im Zeitalter eines globalen Marktes (auch eines globalen Kunstmarktes), der Kommerzialisierung von Kunstproduktion, einer ständig sich vergrößernden und ausweitenden Prekarisierung künstlerischer Arbeit und ihrer Produktionsbedingungen und -verhältnisse etc.
Ich bin nicht überzeugt von der Produktivität dieser Lesart. Denn Benjamins These ist in Form einer Frage formuliert, nämlich: Wie steht ein Kunstwerk in seinen Produktionsverhältnissen? Dies ist eigentlich die Antwort auf jene andere Frage, die in Wirklichkeit weder vom Autor eines Kunstwerks noch von seinem Kritiker gestellt wird, und am wenigsten von Benjamin selbst, sondern von der Ideologie oder - in anderen Worten - von der stählernen Logik ihrer Methode, nämlich der materialistischen Dialektik.
Bekanntermaßen ist
es die materialistische Dialektik, die in der Reflexion
über politisch engagierte Kunst - die so genannte Tendenz
eines Kunstwerks - den Anspruch erhebt, dass diese die
sozialen Bedingungen, unter denen Menschen leben und
arbeiten, ansprechen muss. Doch sind für eine wirkliche
materialistische Kritik soziale Bedingungen natürlich
immer schon bestimmt von den Produktionsbedingungen.
So muss die letzte, von dieser
materialistischen und dialektischen Kritik gestellte
Frage notwendigerweise lauten: Wie steht das Werk gegenüber
den sozialen Produktionsverhältnissen seiner Zeit? Das
war ursprünglich die Frage, auf die Benjamins Text antwortet.
Können wir heute diese selbe
Frage wiederholen? Haben wir heute etwas wie die kritische
Methode des dialektischen Materialismus zur Verfügung
für unsere Reflexionen? Die Antwort lautet - un/glücklicherweise
nein!
Aus diesem Grund reicht es heute nicht aus, einfach von der Vergangenheit in die Gegenwart zu wechseln und Benjamins Frage zu stellen, welche Position das Kunstwerk in den Produktionsverhältnissen UNSERER Zeit einnimmt.
Denn diese Frage ist heute in sich zu einer Antwort ohne ihre eigentliche Frage geworden. Es ist die allgemeine Frage nach den materiellen Bedingungen künstlerischer Produktion, die unter den gegebenen ideologischen Bedingungen ihre gesamte Bedeutung eingebüßt hat.
Wonach wir stattdessen fragen sollten, ist, ob es noch andere Fragen gibt, deren Beantwortung durch Benjamins These von der Bedeutung der Position des Kunstwerks innerhalb seiner Produktionsverhältnisse Sinn macht. Eine Re-Lektüre ist niemals ein einfaches Updating. Es gibt deshalb keine neuen Antworten auf Benjamins alte Fragen. Was wir stattdessen brauchen, sind neue Fragen, hervorgerufen von seiner alten Antwort.