08 2015
Liebe Freund_innen!
Übersetzt von Birgit Mennel
Steckt einen Menschen ins Gefängnis, er wird immer rauskommen oder es wird immer … etwas … Gutes … dabei rauskommen? Ja, weil ihr da seid und ich dafür danke ich euch. Was soll ich euch erzählen, wenn nicht zu erklären versuchen, mit welcher Einfachheit mir das widerfahren ist.
Manche meiner Freund_innen waren überrascht, traurig, geschockt wegen meines Rückfalls, aber niemand war enttäuscht, denn Enttäuschung inkludiert ein Urteil und Freundschaft urteilt nicht. Es tauchten Fragen auf, wie: Ist er bescheuert oder was? Leidet er bis zu dem Punkt am Stockholm-Syndrom, dass er das Gefängnis zu mögen beginnt? Ist er verrückt? Hätte er nicht aufpassen können? Das sind alles berechtigte Fragen, wenn man sie in dieser einen, paradoxen und absurden Frage zusammenfasst: Sollte er wirklich so grundsätzlich ehrlich sein? In dem Maß, dass seine Verachtung für Strumpfmasken, Masken, Beratungszimmer und Beratungen von Ministerien und Beichtstühlen … ihn anwidert.
Darin schreibt sich nicht mein Rückfall, sondern meine Kontinuität ein. Meine Anwesenheit im Gefängnis ist eine radikale Weise, NEIN zu sagen. Als ich aus dem Gefängnis rausgekommen bin, hat man nicht von mir verlangt, wieder integrierbar, sondern recyclebar zu sein. Man hat zudem von mir verlangt, bei der Polizeipräfektur eine Zeit lang um eine Identität zu betteln. Um diese Dressur zu mildern, hat man mir den Status Schriftsteller verliehen.
Schriftsteller? Ein witziges Wort, Ich habe es versucht, aber ich habe Thenardies des sozialen Theaters mit 400.000 Francs in Aussicht getroffen, um Arme auf die Bühne zu bringen, die in der großen Reserve der sozialen Misere gefangen sind … Ehrenamtliche Arme.
Ich habe NEIN gesagt. Nicht, weil ich Schriftsteller bin, sondern weil ich mich zum Glück daran erinnert habe, dass ich ein Dieb und kein Schurke war. Der Unterschied? Ein großer Soziologe, dessen Name ich aus Bescheidenheit und Schamgefühl verschweigen möchte, hat gesagt: „Die Ambitionen der autodidaktischen Schurken, die nicht die École Nationale d’Administration absolviert haben, sind bürgerlich, während Diebe nur Kinderträume haben.“
Und apropos Kind, ich erinnere mich an den Tag im Monat Mai 1967, als ich auf einem Spaziergang mit meinem Vater diesem anständigen Mann zuhörte, wie er mir Ratschläge gab. Bereits damals wusste ich, dass die Sicht auf die Welt einem Geisteszustand zurückzuführen ist. Papa zeigte mir also einen Vogel, dessen Schnabel mit einem kleinen Zweig verziert war. Er äußerte, Sprache des Strafgesetzbuchs, dieses Proverb: „Langsam macht der Vogel sein Nest …“. Ich, verblüfft von dieser Offenbarung, antwortet voller Bewunderung: „Außer der Kuckuck“. Mein Vater johlte neuerlich: „Langsam macht der Vogel sein Nest …“. Ich johlte noch heftiger: „Wenn das Nest fertig ist, ist der Vogel tot!!!“. Meine Liebe für die Kuckucke, Elstern und Fregatten geht auf diese Zeit zurück.
So wie ihn alle Menschen darum beneiden, machte sich der Traum zu „fliegen“ auch in mir breit. Ich fühlte mich danach, mit den Flügeln zu schlagen, ein Schnabel und Klauen, um nur das Wort Raubvögel in Erinnerung zu rufen. Später sollte meine Liebe für Tauben und Fasane kommen. Ich sah mich später sogar arbeiten und den schönen Beruf des … des …? Hm, … des: Zahnarzts!!! … für die Hühner ausüben. Ich akzeptierte sogar die Idee, den Kopf in den Sand zu stecken, indem ich mir die Maxime eines großen Philosophen aneignete, dessen Name ich hier aus Schamgefühl und Bescheidenheit verschweigen möchte, der folgendes rät: „Wenn du den Kopf in den Sand steckst, denk daran, deinen Hintern zu schützen.“
Schließlich ist der Vogel heute im Käfig und mir bleibt nur seine Stimme.
Ich kann mir gut vorstellen, dass sich manche von euch, die mich weder von Rachid noch von Zorla kennen, sagen müssen: „Warum diesem Arschloch von Bankräuber Geld rüberwachsen lassen?“ Ich antworte das, Bruder: „Warum nicht?“ Wenn ich an die 760 Millionen Dollar denken, die ihr für Crédit lyonnais bezahlen werdet … Habe ich euch nicht ein wenig gerächt? Ja, Schwestern und Brüder, Schwager und Schwägerinnen, Adoptivbrüder und –Schwestern, es ist an der Zeit, dass ich daran denke, einen neuen Gedanken zu denken und gut darüber nachdenke!!!!
Nein, es ist keine Phrasendrescherei. Ich riskiere keine Phrasendrescherei, wenn ich weiß, dass ihr gespitzte Ohren habt! Glaubt nicht, dass ich hier eine Karriere als Guru beginnen werde! Nein, nein! Ich brauche nur einen Computer (um den Drucker kümmern wir uns gemeinsam nächsten Monat). Und warum? Um eine Episode von Navarro zu schreiben? Nein! Von Julie Lescaut? Nein? Um für euch Bücher zu schreiben und das Erbe der Alten fortzusetzen.
Ich bin selbstverständlich nicht Genêt, nicht Verlaine, nicht Sade, weder … noch, aber ich bin ein Mensch. Habe ich nicht Arme, zwei Beine, zwei Augen, zwei Nasenlöcher, zwei Hoden? Ja, einige Eifersüchtige sagen sich, dass es alles doppelt gibt – das höre ich oft … aber Scherz beiseite, hat nicht jeder Recht auf einen nardin’ateur* (Fluchverteiler)? Einen Drucker? Einen Scanner? Und ein kleine monatliche Zahlung für Tinte und Papier? Häh? Höre ich Einspruch? Ich werde mit den Worten von Fernandel schließen, der diese Replik in, ich-weiß-nicht-welchem-Film gegeben hat, als er irgendjemanden betrog: „Um letztlich an Geld zu kommen? Man muss es wohl jemandem wegnehmen!“
Ich danke allen, deren Name mit A B C D E F G H I J K L M N O P Q R S T U V W X Y Z beginnt und hoffe, niemanden vergessen zu haben.
Hafed eingesperrt, Hafed gemartert, Hafed durstig, aber eines Tages Hafed befreit.
Hafed
* Ein Wortspiel, das im Deutschen nicht wiedergegeben werden kann: AHB mixt ordinateur, Computer, mit dem arabischen Wort n3ala, das so viel wie „verflucht sein“ bedeutet.
Diesen Text haben wir der Zeitschrift L'Envolée gestohlen.
Ein längeres Gespräch mit Abdel Hafed Benotman findet sich sowohl im Buch Das große Gefängnis sowie im gleichnamigen Webjournal.