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02 2019

Der molekular-feministische Streik

Sublimität und Jetztzeit im maschinischen Kapitalismus

Gerald Raunig

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„Das Vermögen, ‘aus diesem Augenblick eine totale Veränderung des Lebens zu machen’, könnte der Satz sein, das Bild, das am besten veranschaulicht, was am 8. März mit dem globalen Frauenstreik geschah. Plötzlich war die Zeitlinie gefaltet, die lineare und fortschreitende (oder ‘rückläufige’, wie wir in dieser barbarischen Zeit sagen müssen) Ereigniskette kam zum Stillstand, und in einem Augenblick, in diesem Augenblick, leuchtete ein revolutionärer Funke auf, in dem sich die Vergangenheit aller Kämpfe und Widerstände der Frauen verdichtet, die in diesen Augenblicken wieder fordert, im kreativen und glänzenden Leichtsinn der gegenwärtigen Handlung gerettet zu werden.“
Marina Montanelli, „Das unvorhergesehene Subjekt des feministischen Streiks“, in: 8M. Der große feministische Streik, Wien et al.: transversal texts 2018

 

I.

In den letzten Jahrzehnten ufert die Gewalt gegen Frauen* aus, hin zu einem "Krieg gegen die Frauen“, wie es Rita Laura Segato nennt: alle möglichen Formen der strukturellen und sexuellen Gewalt bis hin zum Feminizid, brachial-diskursive Tendenzen der Misogynie und Transphobie, Abwertung von Sorge und Reproduktion, „Anti-Genderismus". Seit 2017 breitet sich von Lateinamerika her eine Bewegung aus, die den Frauenkampftag am 8. März als Dreh- und Siedepunkt eines intersektionalen und transversalen Kampfes aufbaut. „Das ist der Gewinn des Streiks als politisches transnationales feministisches Instrument, das für eine Multitude an Akteur*innen offen ist, nicht allein für Frauen*, sondern etwa auch für prekäre und migrantische Arbeitende", schreibt Isabell Lorey in ihrem Vorwort zum Buch 8M. Der große feministische Streik.

Gross ist nicht nur die Zahl der am Streik Teilnehmenden – in Spanien waren es 2018 über fünf Millionen –, der feministische Streik ist auch Beispiel für gegenwärtige Kämpfe jenseits der Zahl, masslos, erhaben, sub-lim. Jenseits der Grenzen des Messens, unterhalb der Schwelle der Messbarkeit, und gleichzeitig oberhalb. Kleiner und grösser als die lineare Zeit es erlaubt.


II.

Das Erhabene ist das Terrain einer Zeitlichkeit, die uns maschinisch in Dienst nimmt, zugleich Nicht-Dienstbarkeit neu und maschinisch denken lässt.

Im Kantschen Mathematisch-Erhabenen wird die Grösse über jede Form hinausgetrieben, bis an die Schwelle der Unförmigkeit, der Formlosigkeit, der Auflösung von Raum und Gestalt. Doch es ist jene andere Dimension des Erhabenen, die uns heute weit mehr interessieren muss – die Zeit und ihre Messung, das zeitliche Massnehmen und Massloswerden, wie es im maschinischen Kapitalismus in neuer Weise auf die Spitze getrieben wird. Nicht eine leere räumliche Form, ein leeres Mass wird geschaffen, befüllt und diszipliniert, sondern die Zeit wird ausgedehnt, über ihre Grenzen hinaus getrieben, eine gänzlich neue, masslose und masslos gemessene Zeit: Weit davon entfernt, in ihrer Glätte und Glättung die alten Asymmetrien von Gender und Rassifizierung zu beseitigen, treibt die maschinische Sub-limierung sie ins unendlich Kleine und ins unendlich Grosse.

Zugleich entsteht jedoch maschinische Nicht-Dienstbarkeit, Ungefügigkeit, Monstrosität: nicht als heroisch-maskulinistischer Bruch mit dem gefüllten Raum, mit den begrenzten Gestalten und der schönen Form, sondern vielmehr als andauernde, wiederholte und wiederkehrende, queer-feministische Bresche in die Überfülle der gemessenen und masslosen Zeit.


III.

Maschinischer Kapitalismus geht einher mit einer doppelten Form der Modulation: Modulation als Massnahme, Messung, Kleinteilung und Standardisierung, als Modularisierung, aber auch Modulation als Masslosigkeit, unendliche Deformierung, Modulierung. In alle Richtungen die Zeit über ihre Grenzen hinaus zu treiben, das ist der erhabene Aspekt der Modulation: die immer kleinteiligere Kerbung der Zeit, die Messung immer kleinerer Teile, die endlose Verkleinerung der Massstäbe, aber auch und vor allem das Durchbrechen des Masses bis zur masslosen Inwertsetzung und Glättung der Zeit.

In der Mitte dieser doppelten Modulation der kleinteiligen Kerbung und unendlichen Glättung entstehen maschinische Subjektivierungsweisen, die zunehmend Dienstbarkeit zum Effekt haben. Gefügige Subjekte der Selbstregierung, bis zum äussersten bereit, sich selbst und ihre Zeiten zu kerben und zu glätten. Und es sind dieselben gefügigen Subjekte, die durch ihre Gefügigkeit dazu beitragen, die maschinischen Gefüge zu fügen, in ihrer Dienstbarkeit die maschinische Indienstnahme neben die soziale Unterwerfung zu stellen.


IV.

Die Benjaminsche Jetztzeit lädt die Vergangenheit, sie lädt die Vergangenheit auf, sie erfüllt das Schreiben ihrer Geschichte/n. Das Erhabene ist hier nicht einfach – wie Alain Badiou etwa über den zweihundertjährigen Wagner sagt – die feierliche Erklärung, dass etwas vorbei ist und etwas Neues, Unbekanntes beginnt, in säuberlicher Trennung des Vergangenen und Zukünftigen, sondern die Ausdehnung des Gegenwärtigen in der Faltung dieser linearen Vorstellung von Zeit.

Es ist also diesmal kein rein geschichtsphilosophisches Problem – oder besser: es war nie ein rein geschichtsphilosophisches Problem. Nicht mehr nur die Einordung des erhabenen Ereignisses in den in die Linearität gezwungenen Lauf der Geschichte muss durch Tigersprünge ins Vergangene aufgebrochen werden. Es ist der messend-masslose Zugriff des maschinischen Kapitalismus, seine Instrumentierung der Messung ins unendlich Kleine wie der Masslosigkeit ins grenzenlos Grosse, die einen anderen Tigersprung verlangen, nunmehr einen Tigersprung auf der Stelle. Der Sprung ist ein Bruch mit der maschinisch-kapitalistischen Zeit, er begründet die Dringlichkeit der Neuerfindung der Jetztzeit gerade in der nun maschinisch ausgedehnten Gegenwart. Dieser neuerliche Tigersprung will ein weiteres Mal die Genealogien vergangener Kämpfe erinnern und das Kontinuum der Geschichte sprengen, jedoch mit ihm vor allem die maschinische Gegenwart, um in ihr erneut und immer wieder die „Splitter der messianischen Zeit“ zum Detonieren zu bringen.


V.

Exakt das Terrain der masslosen Gegenwart ist das Terrain, auf dem, mit den gleichen maschinischen Waffen, die Indienstnahme in Nicht-Dienstbarkeit verwandelt werden kann. Die Zeit dieser Verwandlung ist die Jetztzeit, ihr reines Mittel der feministisch-molekulare Streik: kein feiertäglicher Streik, der lediglich die Bedingungen von Unterwerfung und Indienstnahme modifiziert, aber auch kein Streik, der von einem Staat zum anderen, von einer Rechtsordnung in die andere, von einer Unterwerfung zur anderen führt. Ein Streik, der die Moleküle der maschinischen Sozialität durchzieht und die masslose Zeit des maschinischen Kapitalismus unterbricht, umwirft, umkehrt. Nicht mehr so handeln, sich nicht mehr derart selbst regieren, das dienstbare Handeln unterlassen, die dienstbare Deterritorialisierung aussetzen, zugleich eine neue, nicht mehr dienstbare Reterritorialisierung der glatten Zeit beginnen.

Der feministisch-molekulare Streik ist ein reines Mittel. Nicht Mittel zum Zweck der Erreichung von bestimmten Forderungen, sondern Mittel jenseits irgendwelcher Forderungen, Ziele, Zwecke. Er wendet sich weder an die Agent_innen ökonomischer Maschinen, noch an die Verwalter_innen der Staatsapparate. Er wendet keinerlei erpresserische Gewalt an, Gewalt als Mittel zu einem Zweck, etwa zum Zweck der blossen Modifikation der zeitlichen Arrangements. Als reines Mittel und reissende Mitte soll er keine gerade Linie von einer schlechten Vergangenheit zur verheissungsvollen Zukunft ziehen, sondern eine gänzlich veränderte Zeitrechnung, ein im gegenwärtigen Werden verändertes Leben – in der Formulierung Walter Benjamins in „Kritik der Gewalt": „ein Umsturz, den diese Art des Streikes nicht sowohl veranlasst als vielmehr vollzieht.“ Nicht nach einem grossen Ereignis, nach dem erhabenen Moment, nach dem einmaligen Bruch kommt die Veränderung der Arbeits- und Lebensverhältnisse. Dieser Streik ist schon die Veränderung, ist die konstituierende Macht, die Bresche, vollzieht den Bruch vielmehr als ihn nur zu veranlassen.

Der feministisch-molekulare Streik ist nicht rechtsetzend, sondern zugleich destituierend, instituierend und konstituierend. Er zersetzt die bestehende Zeitordnung, setzt mannigfaltige Anfänge, und schafft neue monströse Zusammensetzungen. Die sozialen Bewegungen des letzten Jahrzehnts stellten vor allem den Raum der Besetzung ins Zentrum. Nun geht es um ein queer-feministisches Experimentieren mit Zeitökonomien. Erhaben ist dieser Streik nicht, weil er heroische Raumgewinne bringt, sondern weil in seinem Vollzug neue Erfahrungen der Zeitlichkeit entstehen, und in ihrer Wiederkehr potenziell auch monströse Subjektivierungsweisen der Ungefügigkeit.   


VI.

Molekular wirkt der Streik in die Poren, die Moleküle des Alltags hinein, und das zunächst als Alltagsepiphanie, hereinbrechend und brechend mit der Dienstbarkeit im maschinischen Kapitalismus, als immanent-messianische Jetztzeit. Doch zugleich konstituiert sich, wie Veronica Gago in 8M. Der große feministische Streik schreibt, der Streik nicht einfach als Ereignis, sondern vor allem als Prozess: "Das bedeutet konkret, die Zeit des Streiks als eine Zeit der Organisation entstehen zu lassen, eine Zeit des Gesprächs, des gemeinsamen Handelns, der versammelnden Koordination und des Einsatzes neuer Subjektivitäten, die im Zusammentreffen eine neue Art von Radikalität entwickeln." Der molekular-feministische Streik ist kein einzelner Augenblick, vor dem und auf den hingefiebert und der danach lediglich dokumentiert und reflektiert wird, er ist die Kette von Versammlungen, Aktionen, Affektgefügen, Bildern und Texten, die ausufert in den Alltag der Beteiligten und selbst der nicht direkt Beteiligten. Ausgehend vom Konzept des Frauenkampftags, dem 8. März, dehnt sich diese Gegenwart in alle Richtungen aus. „Der Streik unterbricht also", schreibt Veronica Gago, „die ihm eigene Zeitlichkeit im Sinn eines ‘Datums’. Er begann in der Fantasie, diese so nahen Wände der maquila aufzuweichen. Er setzte sich fort in den Häusern, schwitzte in den Versammlungen, diskutierte in den Gewerkschaften und den Gemeinschaftsküchen, er wurde zu einem kollektiven Atem in den Straßen, braute sich, in alte Erinnerungen gefaltet, schon seit den Zeiten der Sabotage zusammen."

Faltungen und Flutungen der Zeit: Der molekular-feministische Streik ist strudelnde und disruptive Bewegung, in Erinnerung an Rosa Luxemburgs Bild des Massenstreiks als vielfältig sprudelnden und wieder in den Boden sickernden Quells, als Meereswoge, die sich zerteilt „in ein Riesennetz dünner Ströme. [...] alles das läuft durcheinander, nebeneinander, durchkreuzt sich, flutet ineinander über."

 

Dieser Text wird in knowbotiq, Nina Bandi (Hg.), Swiss Psychotropic Gold, molecular refinery!, Zürich/Berlin 2019 zum ersten Mal abgedruckt. Mein Dank geht an die Lesegruppe „8M. la constelación feminista“ im Februar 2019 in der Casa Azul, Málaga.

 

 

8M. Der große feministische Streik, Wien et al.: transversal texts 2018, https://transversal.at/books/8m.

Walter Benjamin, „Über den Begriff der Geschichte“, in: Ders., Gesammelte Schriften I.2, hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991, S. 691-704.

Walter Benjamin, „Zur Kritik der Gewalt“, in: Ders., Gesammelte Schriften II.1, hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999, S. 179-202.

Rosa Luxemburg: „Massenstreik, Partei und Gewerkschaften“, in: Dies.: Politische Schriften, Frankfurt/M.: Athenäum 1986, S. 135-228.

Rita Laura Segato, La guerra contra las mujeres, Madrid: Traficantes de Sueños 2016, https://www.traficantes.net/sites/default/files/pdfs/map45_segato_web.pdf.