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03 2020

In die Quarantäne aus der Quarantäne

Rousseau, Robinson Crusoe und „Ich“

Catherine Malabou

Übersetzung: Gerald Raunig

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Im Mai 1743 kam ein Schiff mit Leichen von toten Besatzungsmitgliedern, die an einer mysteriösen Krankheit gestorben waren, aus Korfu in Messina an. Das Schiff und die Ladung wurden verbrannt, aber bald darauf wurden Fälle einer seltsamen neuen Krankheit im Krankenhaus und in den ärmsten Teilen der Stadt beobachtet; und im Sommer entwickelte sich eine beängstigende Pestepidemie, die vierzig- bis fünfzigtausend Menschen tötete und dann verschwand, bevor sie sich auf andere Teile Siziliens ausbreitete. Rousseau reiste von Paris nach Venedig und musste wegen der Epidemie in Genua Halt machen. Über seine Quarantäne schreibt er in den Bekenntnissen (1782):

„Die Pest herrschte damals zu Messina. Die englische Flotte hatte dort vor Anker gelegen und es wurde die Felucke durchsucht, auf der ich mich befand. Dies unterwarf uns, als wir nach einer langen und mühseligen Fahrt in Genua ankamen, einer Quarantäne von einundzwanzig Tagen. Man überließ es den Passagieren, ob wir sie an Bord oder im Lazarett durchmachen wollten, in welchem wir jedoch, wie uns versichert wurde, nur die kahlen vier Wände finden würden, weil man noch nicht Zeit gehabt hätte, es zu möblieren. Alle wählten die Felucke. Die unerträgliche Hitze, der beschränkte Raum, die Unmöglichkeit, auf ihr frei umherzugehen, und das Ungeziefer bewogen mich, auf jede Gefahr hin, das Lazarett vorzuziehen. Ich wurde in ein großes, zweistöckiges, vollkommen kahles Gebäude geführt, in welchem ich weder Fenster noch Tisch, weder Bett noch Stuhl, ja nicht einmal eine Fußbank, mich zu setzen, noch ein Bund Stroh, mich darauf zu legen, vorfand. Man brachte mir meinen Mantel, meinen Nachtsack und meine beiden Reisekoffer, schloss dicke Türen mit dicken Schlössern hinter mir zu, und ich blieb allein als unbeschränkter Herr, ganz nach Belieben von Zimmer zu Zimmer und von Stockwerk zu Stockwerk zu gehen, um überall die nämliche Einsamkeit und die nämliche Kahlheit zu finden.

Dies alles ließ mich doch nicht bereuen, dem Lazarett den Vorzug vor der Felucke gegeben zu haben, und wie ein zweiter Robinson begann ich, mich für meine einundzwanzig Tage einzurichten, als ob es für die ganze Lebenszeit gegolten hätte. Zuerst überließ ich mich dem Vergnügen, Jagd auf die Flöhe zu machen, die ich in der Felucke aufgelesen hatte. Als ich nach häufigerem Wechsel von Wäsche und Kleidungsstücken endlich von diesem Ungeziefer rein geworden war, ging ich zur Ausstattung des Zimmers über, welches ich mir erwählt hatte. Aus meinen Westen und Hemden machte ich mir eine ausreichende Matratze, aus mehreren Servietten, die ich zusammennähte, Betttücher, aus meinem Schlafrock eine Decke und aus meinem zusammengerollten Mantel ein Kopfkissen. Der eine flach hingestellte Koffer bildete meinen Stuhl, der andere, den ich aufgerichtet hatte, musste meinen Tisch abgeben. Ich langte Papier und Tintenfass hervor und stellte ein Dutzend Bücher, die ich bei mir hatte, in Form einer Bibliothek auf. Kurz, ich machte mir es so bequem, dass ich es, wenn ich von den Vorhängen und Fenstern absehe, in diesem vollkommen kahlen Lazarett fast ebenso angenehm hatte wie in meinem Ballhause in der Rue Verdelet. Meine Mahlzeiten wurden in sehr feierlichem Aufzuge aufgetragen; zwei Grenadiere mit aufgepflanztem Bajonett dienten ihnen als Geleit; die Treppe war mein Speisesaal, der Treppenabsatz gab sich zu meiner Tafel her, die Stufen darunter bot sich mir zum Sitze dar; und sobald mein Mahl aufgetragen war, gab man mir, während man sich zurückzog, mit einer Glocke das Zeichen, dass ich mich zur Tafel begeben könnte. Zwischen meinen Mahlzeiten ging ich, wenn ich nicht las oder schrieb, oder nicht an der Ausstattung meines Zimmers arbeitete, auf dem protestantischen Gottesacker, der mir als Hof diente, spazieren; oder ich bestieg ein durchbrochenes Türmchen, welches auf den Hafen hinausging und von dem ich die Schiffe ein- und auslaufen sehen konnte. In dieser Weise verlebte ich vierzehn Tage ...“ [1]

Als man mir wie dem Rest der Menschheit sagte, ich solle wegen der Pandemie «zu Hause bleiben», erinnerte ich mich sofort an diese Passage aus den Bekenntnissen. Während alle seine Unglücksgefährt_innen sich dafür entschieden, zusammen auf einem Boot eingeschlossen zu bleiben, beschloss Rousseau, sich stattdessen im Lazarett einsperren zu lassen. Ein Lazarett ist ein Krankenhaus für Menschen, die an ansteckenden Krankheiten leiden. Eine Felucke oder ein Mittelmeer-Segelschiff konnte auch für Quarantänezwecke abgesondert werden. Offensichtlich wurden diese beiden Möglichkeiten den Reisenden in Genua angeboten, und Rousseau dachte, er täte besser daran, das Boot zu verlassen und allein in dem Gebäude zu bleiben.
 


Man kann diese Episode lesen, indem man sich allein auf die Idee der Wahl konzentriert: Was ist das Beste in einer Zeit der Einschließung? Mit anderen Menschen in Quarantäne zu sein? Oder alleine in Quarantäne zu sein? Ich muss sagen, dass ich einige Zeit damit verbracht habe, so über die Alternative nachzudenken. Wenn ich die Wahl zwischen den beiden Optionen gehabt hätte, was hätte ich dann getan? (Ich bin übrigens allein, im Schutz der quasi-totalen Isolation in Irvine, Kalifornien).

Es gibt etwas Anderes an Rousseaus Bericht, das vielleicht noch tiefgreifender ist, nämlich, dass eine Quarantäne nur dann tolerierbar ist, wenn man sich aus ihr heraus unter Quarantäne stellt – wenn man sich sozusagen innerhalb der Quarantäne und zugleich aus ihr heraus unter Quarantäne stellt. Das Lazarett steht für diese verdoppelte Quarantäne, die Rousseaus Bedürfnis ausdrückt, sich von der kollektiven Isolation zu isolieren, eine Insel in der Isolation zu schaffen. Das ist vielleicht die schwierigste Herausforderung in einer Situation der Ausgangssperre: einen Raum freizumachen, in dem man allein sein kann, und zugleich schon getrennt von der Gemeinschaft. Auf einem Boot mit ein paar anderen eingepfercht zu sein, erzeugt natürlich ein Gefühl der Entfremdung, aber Entfremdung ist nicht Einsamkeit, und Einsamkeit ist in Wirklichkeit das, was die Einschließung erträglich macht. Und das gilt sogar dann, wenn man schon allein ist. Ich merkte, dass das, was meine Isolation äußerst beunruhigend machte, in Wirklichkeit meine Unfähigkeit war, mich in mich selbst zurückzuziehen. Diesen Insel-Punkt zu finden, an dem ich ich selbst sein konnte (my self in zwei Worten). Ich spreche hier nicht von Authentizität, sondern einfach von dieser radikalen Nacktheit der Seele, die es erlaubt, eine Wohnung in seinem Haus zu bauen, das Haus bewohnbar zu machen, indem man den psychischen Raum verortet, an dem es möglich ist, etwas zu tun, das heißt in meinem Fall zu schreiben. Ich bemerkte, dass das Schreiben erst dann möglich wurde, wenn ich eine solche Einschließung in der Einschließung erreicht hatte, einen Ort in dem Ort, den niemand betreten konnte, und der zugleich die Bedingung für meinen Austausch mit anderen war. Als ich mich in das Schreiben vertiefen konnte, wurden Gespräche über Skype zum Beispiel etwas Anderes. Es waren Dialoge, keine verschleierten Monologe mehr. Das Schreiben wurde dadurch möglich, dass die Einsamkeit mich vor der Isolation zu schützen begann. Man muss sich von all den Verkleidungen, Kleidern, Vorhängen, Masken und sinnlosem Geplapper befreien, die immer noch an unserem Wesen haften, wenn wir von den anderen getrennt sind. Soziale Distanz ist nie stark genug, um sich von dem zu befreien, was vom Sozialen in der Distanz übrigbleibt. Vor Ort geschützt zu sein, muss eine radikale Robinson-Crusoe-Erfahrung sein, eine Erfahrung, die es einer_m erlaubt, ein Heim aus dem Nichts zu bauen. Neu anzufangen. Oder sich zu erinnern.
 


Ich frage mich, ob sich Foucault am Ende seines Lebens nicht aus derselben Notwendigkeit heraus der Ethik des Selbst - der Selbstsorge, den Technologien des Selbst, der Regierung des Selbst - zugewandt hat. Der Drang, sich in der sozialen Isolation, die ihm durch AIDS heimtückisch drohte, einen Raum für sich selbst zu schaffen. Vielleicht suchte Foucault seine Insel, island, sein absolutes (ab-solutus) Land, wo er den Mut zum Sprechen und Schreiben vor seinem Tod finden wollte. Diejenigen, die in seinen späten Seminaren einen nihilistischen individualistischen Rückzug aus der Politik gesehen haben, haben überhaupt nichts begriffen.

Wir wissen, dass sich Karl Marx über die Robinsonaden des achtzehnten Jahrhunderts wie jene von Rousseau lustig gemacht hat. Marx sagte, dass der Ursprung des Sozialen keineswegs ein Naturzustand sein kann, in dem sich isolierte Männer endlich treffen und eine Gemeinschaft bilden können. Einsamkeit kann nicht der Ursprung der Gesellschaft sein.

Das mag stimmen, aber ich glaube, man muss wissen, wie man die Gesellschaft in sich selbst findet, um zu verstehen, was Politik bedeutet. Ich bewundere diejenigen, die in der Lage sind, die aktuelle Krise, die durch die Covid-19-Pandemie verursacht wurde, in Bezug auf die globale Politik, den Kapitalismus, den Ausnahmezustand, die ökologische Krise, die strategischen Beziehungen zwischen China und Russland usw. zu analysieren. Persönlich versuche ich im Moment im Gegenteil, ein «Individuum» zu sein. Dies geschieht, um es nochmals zu betonen, nicht aus irgendeiner Form von Individualismus heraus, sondern weil ich im Gegenteil glaube, dass eine epoche, eine Aussetzung, eine Einklammerung der Sozialität manchmal der einzige Zugang zur Alterität ist, eine Möglichkeit, sich allen isolierten Menschen auf der Erde nahe zu fühlen. Das ist der Grund, warum ich versuche, in meiner Einsamkeit so allein wie möglich zu sein. Das ist der Grund, warum ich auch das Lazarett gewählt hätte.

 

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[1] Jean-Jacques Rousseau, Bekenntnisse, Altenmünster: Beck 2016, 232f.