09 2024
Wien Feber Null - Nachwort 2024
Am 16. Februar 2000 ist wohl einfach nichts passiert. Deswegen stand in der ersten Auflage dieses Buchs an dieser Stelle ein einigermaßen fades und abstraktes Hegel- Kapitel mit dem Titel „Vom Grenz-Wall zum Intervall. Hegels Situation, Theorie der Grenze und Politik der Differenz“. Falsche Abstraktion an der ungeeignetsten Stelle, und auch nicht gerade das originellste Argument: Ähnliches lässt sich auch in den beiden anderen Bänden der Trilogie zur politischen Kunst, dem ein Jahr davor aus einer Dissertation erarbeiteten Buch Charon. Eine Ästhetik der Grenzüberschreitung und der 2005 veröffentlichten Habilitation Kunst und Revolution nachlesen. Ich schreibe also dieses 16. Kapitel neu, zufälligerweise am 16. August 2024, auch um ein paar Reflexionen zur Form dieses Buchs anzustellen.
Die Idee, ein Buch über die Widerstandsformen zwischen September 1999 und Februar 2000 zu schreiben, entstand in den Treffen von gettoattack im Frühling und Frühsommer 2000, als die Frage aufkam, wie in der beginnenden Depression der Bewegung gegen Schwarzblau und im alltäglich werdenden Regieren von FPÖ und ÖVP neue Wunschenergien angefacht werden könnten. Es war also weniger die historische Archivfunktion der Erinnerung an ein paar starke Wochen des Widerstands in Wien, die den Schreibprozess leitete, sondern die Vorstellung, dass durch die gemeinsame Einschätzung, in Präsentationen und Diskussionen neue Kräfte entstehen würden und gebündelt werden könnten.
Im Laufe des Sammelns von Texten, bei Gesprächen und in kleinen Interviews reifte das Konzept eines Schreibens, das kollektive Erfahrungen aus eigentlich fünf Monaten in 19 Kapiteln komprimierte, die von Ereignissen zwischen 1. und 19. Februar 2000 in Wien ausgehen, diese verarbeiten und kommentieren. Auch wenn die Reflexionen vielfach über diesen dichten Monat hinausreichten, ist jedes einzelne Kapitel um einen der ersten 19 Februar-Tage herum gruppiert. Von daher auch der Titel Wien Feber Null: Das österreichische Wort „Feber“ für Februar wurde bei der Rezeption des Buchs in Deutschland gerne als Fieber gelesen, als Chiffre für die durchaus fiebrige Wunschproduktion der sozialen Bewegungen um den Jahrtausendwechsel, und Null steht einerseits für das Jahr 2000, andererseits aber auch für dieses mannigfaltige und volle Nichts, diese prall gefüllte „Leere“ der Monate zwischen der Wahl und der Regierungsbildung mit all ihren Formen des künstlerisch-politischen Widerstands.
Wie der Untertitel „Eine Ästhetik des Widerstands“ anklingen lässt, bedient sich das Buch formal, aber auch in angeeigneten Textpassagen an Peter Weiss’ berühmtem antifaschistischem Buch, auf der Suche nach einer Sprache, in der die aufgeregte Vielheit des Wiener Widerstands um die Jahrtausendwende nicht einfach nur dicht beschrieben, sondern affektiv aktualisiert werden kann. Diese Suchbewegung stößt hier und dort auf mögliche Schreibstrategien und inhaltliche Anknüpfungsmöglichkeiten, und schließt vor allem an Weiss’ wichtigstes Ausdrucksmittel an, die dichte Beschreibung von klassischen Kunstwerken. Doch sie stößt auch auf deutliche Grenzen, sowohl was die formalen Anklänge angeht als auch in ihren inhaltlichen Diskrepanzen. Die historischen Situationen des spanischen Bürgerkriegs und des Widerstands gegen die nationalsozialistische Nekropolitik waren derart weit von den sozialen Bewegungen der Jahrtausendwende entfernt, dass sämtliche Analogieführungen und Assoziationsbewegungen ins Leere laufen mussten. Vor allem aber lässt sich die pathetisch- klassische Form der Ästhetik von Peter Weiss, sein Stil, seine Schreib- und Äußerungsweisen, aber auch klassische Kunstwerke als seine zentralen Gegenstände, nicht umstandslos in eine flüssigere Form für die Erscheinungen der Mannigfaltigkeit um 2000 umwandeln. Manchmal schreiben sich diese Widersprüche und Inkommensurabilitäten unausgesprochen und dennoch unangenehm deutlich in den Text ein. Manchmal reibt sich mein durch die Formulierungen im Handgemenge eines schnellen Schreibprozesses im Sommer 2000 zur Polemik neigender Ton zu sehr an den gehobenen Referenzen aus der Ästhetik des Widerstands. Es bleibt dennoch die Notwendigkeit, die kleinen, oft verlorenen, verdrängten oder unterdrückten Geschichten vergangener Widerstände immer wieder mit den Kämpfen in der Jetztzeit zu verweben, den Anspruch jener Stimmen wahrzunehmen, die in gegenwärtigen Formen des Ungehorsams widerhallen.
Vor diesem Hintergrund legen nicht nur die 60 Jahre zwischen 1939 und 1999 (und irgendwo dazwischen die drei Bände der Ästhetik des Widerstands) Differenzierungen auf allen möglichen Ebenen nahe, sondern auch die 25 Jahre zwischen 1999 und 2024. Nicht unbedingt sosehr, was die handelnden Personen betrifft. Jörg Haider ist zwar seit 2008 tot, und Wolfgang Schüssel lässt nur mehr wenig von sich hören, aber die heutigen Akteure in ÖVP und FPÖ unterscheiden sich von ihnen höchstens durch ihr weniger strategisches und sozial-intelligentes Vorgehen.
Was sich jedoch deutlich unterscheidet, sind die nunmehr schon einige Jahrzehnte währenden diskursiven Verschiebungen nach rechts, der veritable Rechtsruck auf allen Ebenen, von den sozialen Medien bis zur Bestimmung der Diskurse, die wachsende Übernahme des öffentlichen Raums durch Rechte in rechtsradikalen Mobilisierungen, schließlich eine massive Form der Mikrofaschisierung, die sich bis in die Szenen von Coronaleugner_ innen und Querdenkern finden lässt. Hier wird eine Frage immer dringlicher, die sich 2000 in konzeptuellen Vorschlägen wie dem Begriff der „nonkonformen Masse“ schon andeutet: Wie lässt sich mannigfaltiger Ungehorsam denken und praktizieren, jenseits von vereinheitlichendem Identitarismus und radikal-individualisierter Hassrede und Schwurbelei?
Im Kontext dieser Fragestellung sind es – auch am Leitfaden der besonderen Gewichtung von Technologie, Maschinen und Medien vom ersten Kapitel dieses Buchs an – vor allem medien- und technopolitische Aspekte, die sich für Vergleiche und Differenzierungen aufdrängen. 2000 waren die bürgerlich-liberalen Medien, auch der ORF, in deutlichem Ausmaß von rechten Medienphilosophen wie Peter Sloterdijk und Rudolf Burger, und von rechtsradikalen medialen Akteuren wie Lothar Höbelt und Andreas Mölzer geprägt. Insofern war die Kritik des öffentlich-rechtlichen Fernsehens als „Staatsfunk“ (mit Plakaten wie „Der ORF lügt“ mehr als ein Jahrzehnt vor der Erfindung des rechten Kampfbegriffs der „Lügenpresse“) zentral: Der ORF wurde in seiner Funktion als Teil des nationalen Staatsapparats wahrgenommen, der schon vor der Regierungsbildung, und umsomehr in den Tagen, Wochen und Monaten danach, ebendiese mediale Staatsfunktion wahrnahm. Heute müssen liberale oder halbwegs neutrale Mainstream- Medien wie der ORF eher gegen Angriffe des autoritären Populismus von Kurz bis Kickl verteidigt werden, die den öffentlich-rechtlichen Rundfunk „sturmreif “ schießen, um ihn dann möglichst leicht übernehmen zu können (vgl. die Kommentare von FPÖ-Altvorsitzendem Strache auf Ibiza, aber auch die Strategien autoritär-populistischer Regierungschefs wie Orban in Ungarn, Meloni in Italien oder Erdogan in der Türkei).
Fast umgekehrt proportional dazu gab es in den 1990er Jahren und noch um 2000 herum eine weit verbreitete Wahrnehmung des Internet als Mittel und Medium der Demokratisierung. Auch wenn diese Perspektive von vornherein nur Halbwahrheit war, vor allem, was die neoliberale Schlagseite der Besitzverhältnisse und der Hegemonie globaler Konzerne betraf, erschienen die Szenen und Akteur_innen der Netzkultur als linke, teils popkulturell geprägte Aktivist_innen, und ihr Knowhow und ihre Kräfte wurden deutlich in den Widerstand gegen Schwarzblau investiert. Indymedia, Public Netbase und die Vielfalt an spontan programmierten Websites erwiesen sich als techno-soziale Infrastrukturen des Widerstands.
Die technologische, technopolitische und technökologische Entwicklung von der von Kanzler Schüssel denunzierten „Internetgeneration“ bis zu den Generationen Z und Alpha lässt sich durchaus dramatisch nennen. Im fortgeschrittenen maschinischen Kapitalismus verändern sich Medienverhalten, Strukturen und Subjektivierungsweisen massiv, unbezahlte Datenproduktion für die Unternehmen der Social-Media-Industrie geht einher mit den in Medienkonsum und unausgesetzter Aktivität entstehenden Verwerfungen der Subjektivität hin zu exponenziell ansteigenden psychischen Erkrankungen. Doch unterhalb der strukturellen und subjektiven Verformungen in immer neuen asozialen Medien gilt es, transversale und emanzipatorische mediale Maschinen zu entdecken, zu erfinden und zu entwickeln. Was um 2010 die Facebook-Alternative n-1 war, sind heute alternative Social Media wie Mastodon und das Fediverse. Mit ihnen entstehen nicht nur andere Inhalte, neue Strukturen von Gebrauch und Organisation, sondern auch andere Formen der Subjektivierung. Und nicht zuletzt auch neue nonkonforme Massen in der Verknüpfung von Technökologien und sozialen Maschinen, und die Potenzialität immer neuer Donnerstagsdemos in allen Formaten, in n-1 Dimensionen, jeden Tag.
Gerald Raunig, Wien Feber Null. EINE Ästhetik des Widerstands
transversal texts 2024
https://transversal.at/books/wien-feber-null