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11 2007

Die postjugoslawische Bedingung institutioneller Kritik: Eine Einführung

Über Kritik als gegenkulturelle Übersetzung

Boris Buden

Übersetzt von Tom Waibel

Die Frage nach der postjugoslawischen Bedingung institutioneller Kritik ist offensichtlich die Frage nach dieser Bedingung selbst. Hat sie einen eigenen historischen Charakter? Sprechen wir hier nicht über die so genannte postkommunistischen Bedingung überhaupt, oder den auch als postkommunistischen Übergang bekannten historischen Prozess? Wie lässt sich dann der besondere postjugoslawische Charakter dieser Bedingung feststellen?

Doch zuerst gibt es da ein Problem mit der postkommunistischen Bedingung selbst. Eine bekannte Binsenweisheit des postmodernen Diskurses, tatsächlich einer seiner Eckpfeiler, ist die berühmte Vielheit der Erzählungen, d.h., die angebliche Abwesenheit einer großen historischen Erzählung, der so genannten Meistererzählung. Interessanterweise scheint es so, als ob der postkommunistische Diskurs davon nie etwas gehört hat. In seiner hegemonialen Fassung funktioniert er tatsächlich als eine Art historische Meistererzählung: die bekannte Geschichte über den Zusammenbruch des Kommunismus 1989 und der endgültige Sieg des Kapitalismus und der liberalen Demokratie. Dieser Erzählung zufolge treten die Gesellschaften des ehemaligen Osteuropa nach dem Umsturz der totalitären Herrschaft nicht direkt in die Welt des entwickelten Kapitalismus und der westlichen Demokratie ein, sondern müssen zuerst den Übergangsprozess zu diesem endgültigen Zustand durchmachen, der als Normalität ausgegeben wird, d.h., als die universelle Norm geschichtlicher Entwicklung im Allgemeinen. Der Übergangsprozess wird dementsprechend als Normalisierungsprozess begriffen. Damit gewinnt alles, was sich während dieses Prozesses ereignet, automatisch den mit der Übergangserzählung eigentlich verknüpften teleologischen Sinn. Das schließt auch die Logik mit ein, dass die Dinge, bevor sie besser – normal, kapitalistisch, demokratisch, usw. – werden, zuerst schlechter werden müssen im Vergleich zur vorherigen Situation, konkret zum Status des gegenwärtigen Sozialismus. Aber das Problem ist, dass der Übergangsprozess zu einem wahrhaften Desaster werden kann. Genau das ist im ehemaligen Jugoslawien passiert: Zusammenbruch des Staats, Bürgerkriege mit grausamer Zerstörung, ethnische Säuberung, Gewalttätigkeiten, menschliche Verluste, ökonomischer Zusammenbruch, politisches Chaos, usw.

Obwohl dieser Fall der hegemonialen Erzählung vom endgültigen Sieg der Demokratie und des Wohlstands offen widerspricht, ist es niemals gelungen, die allgemeine Erzählung in Frage stellen. Mehr noch, sie ist nie angezweifelt worden. Die Ideologie vom postkommunistischen Übergang hat es erreicht, alle Widersprüche symbolisch einzuschließen – sogar die schlimmsten, wie die Belagerung von Sarajewo oder das Massaker von Srebrenica.

Diese Ereignisse sind generell als zeitweilige Rückfälle in den Naturzustand erklärt worden, d.h., entsprechend dem noch immer gültigen Hobbschen Mythos vom vorsozialen Zustand des so genannten bellum omnium contra omnes, kurz, entsprechend seiner Theorie des Sozialvertrags, oder, um es für unsere Absichten deutlicher auszudrücken, entsprechend der Souveränitätslogik: der Sozialvertrag auf der Grundlage kommunistischer Macht mit der kommunistischen Partei als Souverän wurde aufgekündigt und die soziale Ordnung aufgelöst. Das hat den Bürgerkrieg verursacht, der solange andauert, bis der neue Sozialvertrag abgeschlossen wird, und der neue Souverän – die Nation in den Begriffen ihrer demokratisch gewählten RepräsentantInnen – die Verantwortung übernimmt und Ordnung und Sicherheit wieder herstellt.

Die Gründe für den Rückfall in den Naturzustand sind entweder in einer angeblichen kulturellen Rückständigkeit, oder in der früheren kommunistischen Herrschaft gefunden worden, die eine Verzögerung der historischen Entwicklung verursacht hat. Habermas Begriff der „verspäteten Modernität,“ und in der Folge sein Verständnis der Revolution von 1989 als eine „einholende Revolution,“ d.h., eine Revolution, deren wesentlichstes Ziel darin besteht, den Westen einzuholen, sind die besten Beispiele dieser Logik.

In beiden Fällen haben wir es mit neuen Differenzen zu tun: eine Differenz zwischen denen, die den historischen Standard verkörpern und jenen, die ihnen hinterher sind, d.h., zwischen in historischen, politischen und kulturellen Begriffen entwickelten und unterentwickelten Gesellschaften; eine Differenz zwischen dem rückschrittlichen Naturzustand und einem gültigen Sozialvertrag, oder vielmehr der funktionierenden Ordnung der Souveränität; eine Differenz zwischen Normal und Abnormal usw.

Alle diese neuen Differenzen, die die alte ideologische Differenz zwischen Kapitalismus und Kommunismus und deren historischer Form der „Kalte-Kriegs-Teilung“ ersetzt haben, sind am Besten in den Begriffen der Differenz zwischen West und Ost ausgedrückt, die überraschenderweise den Fall der Berliner Mauer überlebt haben. Das Fortbestehen dieser West/Ost Trennung ist das wichtigste Merkmal dessen, was heute beinahe einhellig als postjugoslawische Bedingung verstanden wird.

Selbstverständlich hat das eine vorrangig ideologische Funktion – sie macht es den Kalte-Kriegs GewinnerInnen möglich, den Ein- und Ausschluss der VerliererInnen vollständig zu kontrollieren. So konnte die blutige Auflösung des ehemaligen Jugoslawien gleichzeitig ein- und ausgeschlossen werden, ohne irgendeine Wahrnehmung von Widerspruch hervorzurufen. Was diese Logik gut funktionieren lässt, ist die hegemoniale liberale Ideologie, d.h., der Kern dieser Ideologie, der Mythos vom Sozialvertrag, eigentlich das Märchen über Leute, die nicht friedlich und normal zusammenleben können, mehr noch, die keine Gesellschaft schaffen können, ohne Teile ihrer Freiheit zugunsten von Sicherheit und Ordnung aufzugeben.

Diese Bedingung, die von der ideologischen Reproduktion kultureller Differenz zwischen Ost und West entscheidend geprägt ist, bestimmt einen wichtigen Teil dessen, was heute im ehemaligen Jugoslawien als Institutionenkritik praktiziert wird.

Grob gesprochen: institutionelle Kritik verläuft beinahe ausschließlich mit Bezug auf diese Differenz. Die Institutionen werden in Begriffen ihres Entwicklungsdefizits kritisiert. Sie sind angeblich unterentwickelt, noch nicht reif für den Markt, korrupt, passiv, nicht selbst erhaltend, zu traditionell, patriarchal, ... kurz: das Verkehrte an den Institutionen im ehemaligen Jugoslawien ist, dass sie noch nicht Westlich sind. Die Kritik konzentriert sich auf einen hauptsächlichen Mangel, den Abstand zwischen der Realität und der im Westen bereits verwirklichten Norm.

Die stärkste und aktivste Institutionenkritik unter der postjugoslawischen Bedingung ist demnach die Europäische Union selbst, bzw. deren Institutionen, die den so genannten Erweiterungsprozess vorantreiben. Die liberale, aufgeklärte und fortschrittliche Öffentlichkeit vor Ort – sofern sie zum Subjekt der institutionellen Kritik wird – ist grundsätzlich die lokale Personifizierung der EU-Forderungen, die sich vollständig mit der Aufgabe identifiziert, den Westen einzuholen.

In dieser Hinsicht ist jede innerstaatliche liberale Institutionenkritik eine Art von Kompradorenkritik. Das beinhaltet automatisch die Notwendigkeit ausdrücklich ein Hauptsubjekt/Institution der Kritik zu identifizieren, in diesem Fall die EU selbst.

Wenn wir uns an die bekannte Behauptung Althussers erinnern, dass Ideologie immer eine materielle Existenz hat, und diese materielle Existenz der Ideologie in den Institutionen verkörpert ist, dann können wir daraus schließen, dass Europa als Ideologie auftaucht, eben weil es selbst eine Institution der Kritik ist. In dieser Hinsicht ist der Begriff des Ostens nichts als der Effekt von Europa als Ideologie, d.h., ein Produkt Europas als die Institution hegemonialer Kritik.

Dieselbe Konstellation – ideologische Hegemonie Europas, d.h., dessen Rolle als Hauptsubjekt/Institution der Kritik – erklärt die konservative oder rechte Institutionenkritik unter der postjugoslawischen Bedingung. Es ist eine Art von sekundärem Effekt auf Europa als Ideologie, kurz, die Rückseite der liberalen Kompradorenkritik: es ist eine antieuropäische, antiwestliche Institutionenkritik, auch wenn sie vollständig ambivalent bleibt, z.B. wenn sie behauptet, westlicher als der Westen zu sein, was sehr oft der Fall ist, etwa in Kroatien oder gegenwärtig in Polen.

Die konservative Kritik der derzeit existierenden Institutionen im ehemaligen Jugoslawien wird von ihrem Gegenstück der liberalen Kritik üblicherweise als nationalistisch, antimodern, dem 19. Jhd. entstammend, kurz, als zurückgeblieben bezeichnet. Tatsächlich steht sie für den Schutz der angeblich ursprünglichen kulturellen Identität, für ein sich treu gebliebenes Ideal von Volkssouveränität, für die alten konservativen Werte, die Teil einer so genannten europäischen Identität sind, für deren traditionellen Familienwerte, Christentum usw. Gleichzeitig widersetzt sie sich den Werten der liberalen Modernisierung einschließlich der so genannten Toleranzkultur, dem Multikulturalismus, Individualismus, der Liberalisierung der Gender-Verhältnisse usw. Andererseits identifiziert sich die konservative Kritik immer mehr mit einigen Elementen der gegenwärtigen Kritik neoliberaler Globalisierung. Ihr Protektionismus ähnelt dem Bruchstück eines alten antikolonialen Kampfs, das bedeutet, dass er einige Elemente der ehemals universalen, emanzipatorischen Erzählung wiederholt.

Genau durch die Verschmelzung mit der linken Globalisierungskritik, d.h., durch das Verwischen der klaren Grenze zwischen Links und Rechts, stützt die konservative Institutionenkritik die ideologische Hegemonie des Liberalismus ausgezeichnet. Sie verhilft den FürsprecherInnen der liberalen Ideologie dazu, ebenso entfernt und entgegengesetzt sowohl zur linken als auch rechten Kritik der existierenden Realität zu erscheinen. So scheinen aus dem liberalen Blickwinkel nun beide als die gleiche Bedrohung für Demokratie, Pluralismus, Menschenrechte, Wohlstand, moderne Werte usw. In diesem Zusammenhang kann der Liberalismus sich selbst als dritten Weg anbieten, genauer, als die einzige Lösung für den Konflikt zwischen Links und Rechts und seinen authentischen, antitotalitären Charakter nicht nur heute, sondern auch retroaktiv, behaupten – als posttotalitäres Phänomen ebenso unschuldig an der kommunistischen als auch faschistischen Vergangenheit. Genau aus diesem liberalen Blickwinkel erscheinen Kommunismus und Faschismus als gleichermaßen schuldig für alles, was in der Vergangenheit schief gelaufen ist, einschließlich der erwähnten historischen Verzögerung.

Generell gesprochen sieht das Schlachtfeld der heutigen institutionellen Kritik strategisch so aus, nicht nur unter postjugoslawischer, sondern auch unter allgemeiner postkommunistischer Bedingung.

Aber es gibt auch andere Lesarten der postkommunistischen Bedingung, die von der hegemonialen radikal abweichen. Da ist etwa ein wichtiger Hinweis, den Giorgio Agamben in Homo Sacer über die gewaltsame Auflösung des ehemaligen Jugoslawien und allgemeiner  über die chaotische Auflösung der osteuropäischen Systeme gibt, die auf den Zusammenbruch des Kommunismus folgten. Er hat die hegemoniale Erzählung offen herausgefordert, die wesentlich auf der Geschichte eines zeitweiligen Bruchs eines sonst – etwa im Westen – normal funktionierenden Sozialvertrags beruht. Agamben argumentiert, dass wir diese Ereignisse nicht als eine Art von zeitweiligem Rückfall in den Naturzustand verstehen sollten, der früher oder später zur Normalität zurückkehrt, d.h., dem die Wiederherstellung des Sozialvertrags folgen wird – wie es das Konzept des Übergangs nahe legt – sondern als eine Art von blutigen BotschafterInnen eines neuen Nomos der Welt, der sich über den gesamten Globus ausbreitet.

Die Krise, auf die er hinweist, hat globale Dimensionen. Demnach kann das, was in den letzten fünfzehn Jahren im ehemaligen Jugoslawien erlebt wurde, als bloßes Symptom einer viel tieferen historischen Veränderung beschrieben werden – die Auflösung einer mehr als dreihundert Jahre alten internationalen Ordnung – die so genannte Westfälische Ordnung, kurz, das Entgleiten eines in souveräne Nationalstaaten unterteilten Weltbildes, das klar auf einem bestimmten Territorium verortet werden kann, und von dem angenommen wird, dass es unterschiedliche Bevölkerungen politisch repräsentiert. Mit dem Zusammenbruch dieser Ordnung verschwindet die gesamte normative Dimension internationaler Politik. An deren Stelle tritt heute ein chaotischer Pragmatismus, dessen Rationalität keinerlei universelle Gültigkeit beansprucht. Nationalstaaten existieren künftig weiter, aber die Bedeutung und das Ausmaß ihrer Souveränität hängen strikt von ihrer besonderen Machtstellung und der Rolle ab, die sie im Prozess der neoliberalen Globalisierung spielen. Ein anderes Symptom des Zusammenbruchs der Westfälischen Ordnung ist die weite Verbreitung des Ausnahmezustands – immer mehr Leute enden in klandestinen Räumen der Gesetzlosigkeit und sind von den existierenden Regimes von Repräsentation und juridischer Sicherheit ausgeschlossen.

Es ist nicht schwer, ähnliche Symptome im Prozess der gewaltsamen Auflösung des ehemaligen Jugoslawien und dessen direkten Folgen zu erkennen. Das muss auch in der Bewertung der postjugoslawischen Bedingung institutioneller Kritik berücksichtigt werden. Anstatt sich in einem stabilen Regime von Souveränität zu etablieren, wie die Teleologie des Übergangs verspricht, stehen die Institutionen vor Ort dem Chaos einer unkontrollierten Globalisierung gegenüber, aus dem sie nicht mehr flüchten können. Ihre Reproduktionsbedingungen  machen eine ähnliche Art von Prekarisierung durch, wie die individuellen Reproduktionsbedingungen, die Reproduktion der globalisierten Arbeitskraft, die Migration, der brutale Marktwettbewerb usw.

Ich argumentiere nun, dass wir keine spezifisch postjugoslawische Bedingung denken können, ohne diese und ähnliche Symptome, die mehr oder weniger Effekte der neoliberalen Wende in der Weltökonomie und -politik sind, in Erwägung zu ziehen. Mit anderen Worten, was wir als postjugoslawische Bedingung (institutioneller Kritik) beschreiben, muss in Begriffen dieser neoliberalen Wende radikal  überdacht werden.

Der slowenische Philosoph Rastko Mocnik hat jüngst[1] die These vorgeschlagen, dass die Praktiken der Institutionen unter der postjugoslawischen Bedingung tatsächlich einen neoliberalen Charakter haben. Er argumentiert darüber hinaus, dass der klassische Liberalismus tatsächlich die Ideologie dieser neoliberalen Praxis ist. Das impliziert selbstverständlich eine kritische Aufmerksamkeit auf den ideologischen Charakter von politischen Institutionen repräsentativer Demokratie und Institutionen der Zivilgesellschaft, die fast ausschließlich auf liberalen Ideen gründen – und man kann behaupten, dass das heute bei allen diesen Institutionen im ehemaligen Jugoslawien der Fall ist, sofern sie die postkommunistische Transformation durchgemacht haben.

Stellen wir jetzt die zentrale Frage, ob es unter den beschriebenen Bedingungen eine Möglichkeit einer solchen Kritik der Institutionen gibt, die sowohl über die Kompradorenkritik liberaler Positionen, als auch über die konservative protektionistische Kritik hinausgeht.

Wir haben bereits vorgeschlagen, dass der Begriff des Ostens als Produkt von Europa als Ideologie verstanden werden sollte. Als solcher hat er auch einen ideologischen Gebrauchswert. Für Rastko Mocnik bewirkt der Begriff „Osten“ eine historische Amnesie.[2] Er „löscht die politische Dimension aus der östlichen Geschichte und erzielt ähnliche Effekte in der Gegenwart.“ Im selben Kontext spricht er von einem neuen kulturell geschmiedeten Orientalismus, d.h., Kulturalisierung, die „die Arbeit der politischen Amnesie bewerkstelligt, indem sie die vergangenen politischen Kämpfe auslöscht, die ein alternatives Potential hatten, um den Krisen des Weltkapitalismus zu begegnen.“[3]

Offensichtlich ist es diese Kulturalisierung des Politischen, ideologisch verdichtet im Phantom des Ostens, das die Erinnerung an diese vergangenen Kämpfe blockiert und in der Folge eben jenen Grund verdeckt, von dem aus die neue Kritik (der Institutionen, die sowohl über die liberale als auch konservative hinausgehen würde) ihren Ausgang nehmen könnte. Diese Kritik bleibt grundlos, d.h. es scheint so, als ob sie ex nihilo erzeugt werden müsste. Aber das Problem ist weit entfernt von der Unfähigkeit, den Westen einzuholen – wie die liberale Kritik behauptet – wir sind gegenwärtig nicht fähig, unsere eigene Vergangenheit einzuholen, soweit sie eine Erfahrung betrifft, die beiden Seiten der West/Ost Trennung gemeinsam ist. Wir sind einfach nicht fähig, die Vergangenheit gemeinsamer politischer Kämpfe, von denen Mocnik spricht, zu erinnern, so als ob sie keine Spuren in unserer sozialen Erfahrung hinterlassen hätten.

Wie sie aber erinnern? Wie die Erinnerung an die vergangenen politischen Kämpfe aus der kulturellen Vergesslichkeit zurückgewinnen? Das ist die Herausforderung einer neuen institutionellen Kritik.

Auf den ersten Blick scheint die Lösung des Problems leicht zu erreichen. Wir sollten unsere soziale Erfahrung neu artikulieren, die die Vergangenheit auf irgendeine Weise erinnert und deren politische Bedeutung verdichtet haben muss.

Aber was hier als Lösung präsentiert wird, ist tatsächlich ein anderes, noch größeres Problem: wie heute unsere soziale Erfahrung erfassen, wie sie reflektieren und neu artikulieren? Sollen wir versuchen, sie aus dem zu beziehen, das üblicherweise die öffentliche Sphäre genannt wird?

In Öffentlichkeit und Erfahrung zeigen Oskar Negt und Alexander Kluge, dass marginalisierte Gruppen, ausgeschlossene Minoritäten oder unterdrückte politische Subjekte – und genau das ist das menschliche Substrat eines möglichen Subjekts einer neuen antihegemonialen Kritik der Institutionen – immer bestimmten Blockaden der Erfahrung gegenüber stehen, einer Art von Atomisierung und Fragmentierung, die den sozialen Charakter ihrer Erfahrungen verdunkelt, verzerrt oder gar auslöscht.[4] Das Problem besteht darin, dass „das was heute blockiert ist, nicht einfach die Artikulation der sozialen Erfahrung, sondern die Möglichkeit dieser Erfahrung selbst ist.“[5]

Wie können wir dann die vergangenen Kämpfe aus der sozialen Erfahrung erinnern, wenn diese Erfahrung selbst schwer beschädigt oder gar ausgelöscht ist? Dasselbe gilt für das Subjekt einer neuen Institutionenkritik, die sowohl die liberale als auch konservative Kritik überschreitet und sich auf deren neoliberale Praktiken fokussiert. Dieses Subjekt könnte auch gemeinsam mit der sozialen Erfahrung verloren gehen, aus der es vermutlich entsteht.

Die größte Beschädigung, die der sozialen Erfahrung zugefügt wird, ist bereits als Kulturalisierung benannt. Was als kulturelle Sublimierung der sozialen Erfahrung erscheint, ist in der Tat deren Verzerrung, oder schlimmer, deren Verschwinden. Es ist nicht schwer, in der heutigen Obsession auf das kulturelle Gedächtnis einen verzweifelten Versuch zu sehen, unsere soziale Erfahrung wieder herzustellen und ursprünglichen Sinn vergangener sozialer und politischer Kämpfe wieder zu beleben. Leider gibt es keinen Weg das Original aus dessen Übersetzung zu rekonstruieren. Die einzige für uns heute greifbare soziale Erfahrung ist in unterschiedlichen Formen ihrer kulturellen Artikulation oder vielmehr ihrer kulturellen Übersetzung beinhaltet. Mit anderen Worten, es gibt keine ursprüngliche Erfahrung der Gesellschaft als Gesellschaft, außer jener, die in ihrer kulturellen Übersetzung gemacht wird. Das Einzige was wir demnach tun können, ist mit dem Übersetzen fortzufahren – kritisch aufmerksam auf die Falle, in der wir uns wieder gefunden haben, die Falle der Kulturalisierung mit ihrem wesentlich ideologischen Effekt der Entpolitisierung.

Wenn es also unter diesen Bedingungen – die in keiner Weise nur postjugoslawische Bedingungen sind – noch immer eine Strategie von Kritik (der Institutionen) geben sollte, würde ich sie die Aufgabe gegenkultureller Übersetzung nennen. Das klingt offen an den alten Begriff der Gegenkultur an, weil es bereitwillig deren antagonistischen Charakter, deren subversive Motivation und erbitterte Feindschaft zum Mainstream erbt, aber ohne die Wertschätzung der Illusion, automatisch politische Wirkung zu zeitigen. Tatsächlich stellt sie sich der Kulturalisierung dessen gegenüber, das einst genuin soziales Leben war. So will sie politisch werden, namentlich als kulturelle Kritik der Kulturalisierung. Ist das eine mögliche Aufgabe? Schlagen wir nicht eine Art von Baron Münchhausenschem Trick vor: nachdem wir in der Kultur stecken wie im Dreck, sollen wir uns selbst am eigenen Zopf herausziehen? Aber anstatt diese rhetorischen Fragen zu beantworten, lassen sie mich eine von Althussers Definitionen der Ideologie paraphrasieren, und an deren Stelle den Begriff der Kultur setzen: Kultur an sich besitzt kein Außen, auch wenn es gleichzeitig (für die Kritik der Kulturalisierung) nichts als das Außen gibt. Kurz: was einst Ideologiekritik war, kann heute nur als kulturelle Kritik der Kulturalisierung neu formuliert werden. Aber was hat das mit den institutionellen Praktiken zu tun? Noch einmal eine Althussersche Antwort, in derselben Weise paraphrasiert, indem Kultur an die Stelle von Ideologie gesetzt wird: jede Praxis ist nur durch und innerhalb der Kultur möglich.



[1] In einem unpublizierten Text.

[2] Ich beziehe mich wiederum auf einen unpublizierten Text mit dem Titel „Europa als Problem.“

[3] Das beste Beispiel ist die Revolution von 1968. Mocnik: „Rückblickend erscheint die Revolution von 1968 jetzt als der erste weltweite Versuch, der Krise (des Kapitalismus) zu begegnen, die sich damals erst angekündigt hat.“

[4] Vgl.: Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1972. Zur Interpretation dieses Problems siehe: Stefan Nowotny, „Die Bedingungen des Öffentlich-Werdens,“ in: Gerald Raunig (Hg.), Bildräume und Raumbilder, Repräsentationskritik in Film und Aktivismus, Wien: Turia + Kant, 2004, S. 54-65.

[5] Nowotny, ibid., S. 63.