02 2011
Die Klugheit, Welten zu erschaffen
Strategische Wirklichkeit und die Kunst der Undercommons
Übersetzt von Birgit Mennel und Stefan Nowotny
Auf einem nächtlichen Spaziergang durch Wien im November 2009 fragte ich Konrad Becker, was er darunter versteht, wenn er von Strategie spricht. Was eigentlich ist eine Strategie in der Kulturpolitik, in der Medienkunst und deren Interventionen? Diese Frage so frei heraus zu stellen heißt, sich auf das Terrain eines „Elefanten im Wohnzimmer“ zu begeben. Denn während Leute, die in Kunst und Medienpolitik aktiv sind, von der Frage besessen sind, was zu tun ist, wie es getan werden muss und welche Wirksamkeit (bzw. welcher Mangel an Wirksamkeit) sich mit dem Getanen verbindet, gibt es zugleich doch auch ein allgemeines Tabu, diese Diskussionen offen auszutragen. Strategie: Die Verwendung dieses Wortes weist möglicherweise allzu viele Konnotationen eines todgeweihten Leninismus auf, Konnotationen einer künstlich herbeigeführten Trennung zwischen der Konzeptualisierung und dem Körper des sozialen Antagonismus in Bewegung.[1] Von Strategie zu sprechen birgt die Gefahr in sich, wieder einem älteren Stil von hierarchischen Politiken anheimzufallen, obwohl sich darüber debattieren lässt, ob diese per Assoziation hergestellte Schuldannahme sinnvoll ist. Vielleicht bringt dieses Aussondern von strategischen Diskussionen aus der öffentlichen Diskussion selbst mehr Schlechtes als Gutes, wenn es darum geht, Bewegung aufzubauen und verknöcherte Hierarchien zu vermeiden.
Doch ich schweife ab, denn dies ist weder Konrads Stil noch seine Konzeptualisierung des Politischen. Wäre dem so, dann gäbe es keinen Grund zur Diskussion oder zum Überdenken der Frage der Strategie; es ginge einzig um die Umsetzung eines vorab gegebenen strategischen Projekts. Wenn aber irgendwo eine neue Perspektive auf das, was Strategie ist, entwickelt werden kann, dann wäre Konrad sicherlich der richtige Ansprechpartner für das Auffinden dieser Möglichkeit, da er diese Frage in zahlreichen seiner Publikationen und Projekten verfolgt hat: im Tactical Reality Dictionary (2002) ebenso wie im Strategic Reality Dictionary (2009) und im Gesprächssammelband Critical Strategies in Art and Media (2010), der auf eine Konferenz in New York zurückgeht. Nachdem wir den ersten Teil des Abends mit Diskussionen um Macht und die Grenzen radikaler Imagination zugebracht hatten, war es nun an der Zeit, zum Kern der Metafrage vorzudringen: Was tun mit dem, was zu tun ist? Konrad hielt kurz inne und antwortete dann, dass er unter Strategie etwas versteht, was eher mit Klugheit zu tun hat.
Diese Antwort war gelinde gesagt unerwartet. Diskussionen über Klugheit findet man in künstlerisch-politischen Milieus noch seltener als Diskussionen über Strategie. Was könnte es bedeuten, dass Strategie eine Frage der Klugheit ist? Je mehr ich seit dieser Nacht darüber nachdachte, desto sinnvoller schien mir diese Perspektive. Aber warum? Vielleicht ist Klugheit als Strategie ein Weg, um Fragen des Verstehens und des Unterscheidungsvermögens neu anzugehen; um zwischen äußerem Schein und zugrunde liegenden Situationen zu differenzieren und sich darüber klar zu werden, in welcher Beziehung diese zur aktuellen Ausformung des Politischen stehen. Durch die Ummodelung so einfacher, aber wichtiger Fragen hat das fortdauernde Projekt von Konrads Einmischungen und Reflexionen das Potenzial einer Intervention in umfassendere Fragen zum Verhältnis von Kunst und Wissensproduktion: die Klugheit, Welten zu erschaffen, innerhalb einer Kunst der Undercommmons.
Die Avantgarde, die nicht eine ist
„Die Geschichte der Beziehungen zwischen Parteien und ästhetischen Bewegungen ist zunächst die einer […] Verwechslung dieser beiden Vorstellungen von Avantgarde, die eigentlich zwei verschiedene Vorstellungen von politischer Subjektivität sind […]. [D]ie Idee der politischen Avantgarde selbst [ist] in ein strategisches und ein ästhetisches Verständnis von Avantgarde gespalten.“[2]
Wenn wir einen Blick zurück auf die Geschichte der Avantgarde werfen – wie Engel auf einen anwachsenden Trümmerhaufen –, so stoßen wir auf Berge von Brüchen und Manifesten. Das Spektrum reicht von großspurigen Deklarationen zum abgehobenen und kraftlos gewordenen Zustand der Künste, die sich mit der Forderung nach einer Verbindung von Kunst und Alltagsleben verbinden, bis hin zu ebenso zornigen Denunziationen, wenn diese Verflechtung nicht in idealen Formen vonstatten geht (Werbetechniken, kulturgeleitete Gentrifizierung, museumsbasierte Legitimationen für zwielichtige Erdölproduzenten etc.). Von den ersten futuristischen Manifesten an konzentrierte sich der Provokationsstil der Avantgarde auf dreiste Interventionen in die Politiken der Verbindung von Kunst und Wissensproduktion. Um Rancières Formulierung aufzugreifen: Das avantgardistische Manifest nimmt die Form der Ankündigung einer neuen Aufteilung des Sinnlichen an; eine Aufgabe, die in den Praxen der angekündigten Bewegung eine Verkörperung finden wird (auch wenn man davon ausgeht, dass dies bereits geschehen ist). Folglich gibt es eine Geschichte der Praxen – von der sozialen Skulptur bis hin zur Herstellung von einheitlichen Umgebungen –, über die sich diese Deklarationen zur Neugestaltung der Politiken von Kunst und Wissensproduktion verbreiteten. Es gibt eine derart starke Verbindung zwischen der Avantgarde und diesen öffentlichen Deklarationen, dass es schwierig wird, die Avantgarde ohne sie zu verstehen. Was könnte das bedeuten? Eine künstlerische Bewegung, die sich der Umgestaltung von Kunst, Leben und Politik verschreibt und dies nicht all jenen verkündet, die es hören wollen, sondern sich vielmehr daran macht, ihre Methode der Veränderung im kleineren Maßstab wirksam werden zu lassen?[3]
Das Problem mit dem öffentlichen Verkünden von Absichten und Methoden zur Neugestaltung von Kunst, Leben und Produktionsverhältnissen ist, dass die Avantgarde tendenziell zu viel verriet, dass sie ihre Karten zu früh aufdeckte. In anderen Worten, sie tendierte dazu, ihre Karten gegenüber Auflösungs- und Vereinnahmungsprozessen offenzulegen, wo radikale Ideen im Rahmen von Formen sozialer Kontrolle und Herrschaft in Dienst genommen werden. Wenn die Tradition autonomer Politiken und Analysen uns zeigt, dass der Ungehorsam und Widerstand der ArbeiterInnenklasse gegenüber dem Kapital die treibende Kraft für die Gestaltung ökonomischer und sozialer Entwicklung ist, dann würde uns ein autonomes Verständnis der Geschichte der Avantgarde etwas anderes zeigen. Was eine autonome Konzeptualisierung dieser Geschichten sichtbar machen würde, ist nicht so sehr eine unverbundene Serie von Bewegungen und formalen Beziehungen, sondern vielmehr die Art und Weise, wie die Avantgarde neue Möglichkeiten zur Umgestaltung sozialer Verhältnisse eröffnet, die sodann durch Kontrollmechanismen und Kapitalakkumulation in Beschlag genommen werden. Wie Jacques Attali[4] argumentiert, ist Musik keine dem Überbau zuzuordnende Widerspiegelung zugrundeliegender Bedingungen, sondern geht größeren Veränderungen in den sozialen und ökonomischen Verhältnissen tendenziell voran und kündigt sie an. Die Avantgarde ist also der Kanarienvogel in der Kohlengrube der Geschichte: Ihr Tod kündigt kommende Veränderungen an, wenn verschüttete Adern der Kreativität an die Oberfläche gebracht werden.
Konrads Arbeit hat beharrlich auf diese Geschichte hingewiesen und sie erkundet: Techniken der Wirklichkeitskonstruktion, libidinöse Bindung, Konsenserzeugung und infopolitische Täuschung. Es ist eine Geschichte, die vielleicht das psychogeographische Äquivalent zum Galgen in Tyburn darstellt, wo die Abweichungen der Geschichte durch die Körper von toten Ideen markiert werden. Und wie Konrad bemerkt, wurde in Tyburn dem Verurteilten im Augenblick vor der Exekution die Freiheit gewährt, über alles zu sprechen, was ihm durch den Kopf ging, da es nichts mehr zu verlieren gab.[5] Dies jedoch wäre nicht die Frage der Strategie, denn es gibt immer etwas zu verlieren. Der Moment der Freiheit, der sich vor dem Verurteilten auftut, verdankt sich einer Struktur der Unfreiheit, einer buchstäblichen Thanatokratie, die sie untermauert – sei es in Form eines Galgens oder durch die Integration von Mechanismen des Todes, des Begehrens und der Manipulation in die Praktiken der Staatskunst.[6]
Die Situationistische Internationale verfocht recht gern die Argumentation, dass man durch einen Rückblick auf diese Aneignung der Avantgarde, darauf, wie sie in Leichname und Futter für spektakuläre Herrschaftsmechanismen übersetzt wurde, zwei unterschiedliche Exekutionsmethoden entdecken würde: Der Dadaismus versuchte den Status der Kunst zu negieren, ohne sie zu realisieren, während der Surrealismus Kunst realisieren wollte, ohne sie zu negieren. Die Aufgabe der Situationisten würde es daher, in zutiefst hegelianischer Manier, sein, taktische Mittel für die gleichzeitige Verwirklichung und Negation von Kunst hervorzubringen, als Ausdruck der „Kommunikation des Unkommunizierbaren“ und Herstellung von Situationen zur Realisierung der aufständischen Begehrensformen und Ideen, von denen sie behaupteten, sie fänden sich bereits in allen Köpfen. Man könnte vermuten, dass sich hinter solch paradox anmutenden und typisch hochtrabenden Formulierungen eher eine triumphalistische Deklaration denn sonst irgendetwas verbirgt (alle Fehler früherer Avantgarden werden durch unsere Intervention ausgemerzt!).
Doch dieses Zusammenspannen der Notwendigkeit von Wissen und gleichzeitigem Nichtwissen, das Beharren auf Kommunikation (des Unkommunizierbaren) als Schlüsseldynamik, durchzieht die gesamte Arbeit der SI. Es führt alle Stränge zusammen, die ihre Kommunikationspolitik ausmachen sowie ihre Politik des Spektakels als Bedingung, in die man eingelassen ist und an der man sich abarbeitet. Und an dieser Verbindungsstelle beginnt ein Verständnis von Strategie als Klugheit am sinnvollsten zu sein. Denn wenn stimmt, was Debord in Bezug auf die Roma und Sinti feststellt, dass diese nämlich „zu Recht verfechten, dass man einzig in seiner eigenen Sprache die Wahrheit sagen muss und dass in der Sprache des Feindes die Lüge regieren muss“[7] – was ist das anderes als eine sehr direkte Frage der Strategie als Klugheit? In diesem Sinne handelt es sich auch um eine grundlegende Frage zum Verhältnis von Kunst und Wissensproduktion für subversive Strömungen. Wenn Sprache und Medienpolitik zu Stätten eines Informationskrieges werden, dann wird die Klugheit zu wissen, ob man seine Ziele offen aussprechen soll, ob man sich aufs Lügen verlegen soll oder ob man codiert und teilweise verschleiert sprechen soll, zu einer wichtigen, wenn nicht sogar zur wichtigsten Strategiefrage.
Das ist es, was ein Nachdenken über Strategie als Frage der Klugheit eröffnet; und genau diesen Gedankengang hat Konrad in seinen Arbeiten verfolgt. Sehen wir uns beispielsweise an, wie er den Prozess beschreibt, der tote Bewegungen und Subversion zum Material für eine erneuerte Kapitalakkumulation werden lässt:
„Der Prozess der Kooptation, der typisch ist für die Kunstmarktlogik, beutet das visuelle Alphabet und die kulturellen Codes autonomer Positionen aus und schleust seine Agenten in die Parallelwelten verborgener kultureller Praxen ein. Debatten über Strategien in Bezug auf diese Übernahme und die Spiegelung der symbolischen Sprache von Oppositionsbewegungen wurden über Generationen hinweg beständig geführt, aber Konzepte der Authentizität scheinen keine brauchbaren Optionen einer kulturellen Selbstverteidigung anzubieten.“[8]
Damit wird der Frage der Vereinnahmung durch eine materialistische Kommunikationspolitik ein neuer Rahmen gegeben. Es handelt sich um eine Vereinnahmung, die sich über die Ausbeutung der visuellen Codes autonomer Praxen vollzieht und sich dadurch in untergründige, untergetauchte Bereiche von Kommunikation und Beziehungen vorarbeitet. Zu viel ist zu frei heraus preisgegeben worden. Konrads Argument zufolge schafft die sich beschleunigende Kooptation von kulturellem Ausdruck einerseits um sich herum einen Markt und andererseits „Strategien, die mit diesem Phänomen einer immer schnelleren Aneignung von künstlerischem Ausdruck durch das Geschäftswesen umgehen und dabei taktische Unsichtbarkeit sowie ein Eintauchen in das Zeitalter der biokybernetischen Selbstreproduktion mit einschließen“[9]. Genau deshalb ist die Wiederaufnahme einer Idee von Authentizität bzw. des Zusammenbruchs, der sich zwischen dem Gesagten und dem tatsächlich Gemeinten abspielt, keine brauchbare Strategie, um sich durch diese Dynamik zu arbeiten, um in ihr oder gegen sie zu arbeiten. Was stattdessen gebraucht wird, ist ein scharfsichtiger Sinn für das Strategische, die Klugheit von Leuten wie Debord oder den Roma und Sinti, die Klugheit der infrapolitischen Kommunikation und List: Werkzeuge, um eine Kunst der Undercommons zu entwickeln. Welche Werkzeuge bietet uns ein Text wie das Strategic Reality Dictionary sowie Konrads Arbeit im Allgemeineren für eine solche Aufgabe an?
Der Ort der Strategie, die Strategie des Orts
„Der Künstler als Hacker der Wirklichkeit ist ein Operator kultureller Intelligenz und Gegenintelligenz für jene Zusammenhänge, die sich angemessener als parallele oder versteckte Kulturen denn anhand der geläufigen Begriffe ‚Untergrund‘ oder ‚marginal‘ verstehen ließen […] Bereits in der Gesellschaft existierende Elemente können verwendet werden, um eine Bedeutung wachzurufen, die in diesen Elementen ursprünglich nicht vorgesehen war; die Transformation dieser Elemente bringt eine vollständig neue Botschaft hervor, welche die zugrunde liegende Absurdität des Spektakels offenbar macht.“[10]
Insoweit es eine anhaltende strategische Diskussion innerhalb autonomer künstlerisch-politischer Milieus gab, bezog diese einen Großteil ihrer Inspiration aus der Arbeit von Michel de Certeau. De Certeau greift eine Untersuchungsrichtung auf, die mit französischen politischen Denkern nach ’68 auftaucht. Seine Unterscheidung zwischen Strategie und Taktik im Alltagsleben war besonders einflussreich und wurde schließlich nahezu allgegenwärtig. Es ist die Art von Einsicht, welche die Forschungsarbeit in den Cultural Studies und darüber hinaus nährt und bereichert: die alltäglichen Interaktionen als Orte politischen Streits und taktischen Manövrierens ernst zu nehmen.[11] Ironischerweise ist es gerade de Certeaus Unterscheidung, die Diskussionen über die Frage der Strategie erschwert, und zwar genau deshalb, weil er Strategie mit Machtmechanismen und Taktik mit Widerstand identifiziert. Für de Certeau „wird die Taktik durch das Fehlen von Macht bestimmt, während die Strategie durch eine Macht organisiert wird“[12].
Das Problem besteht darin, dass in diesem Rahmen die Politiken sozialer Bewegungen von der Herausbildung eigener Strategien und Räume ausgeschlossen werden, weil dies nicht ins Schema passt. Oppositionelle Politiken, insoweit sie taktisch sind, können demnach nicht als Politiken begriffen werden, die eigene Räume schaffen oder auf einer strategischen Ebene operieren. Es gibt keine Strategien des Widerstands, nur Herrschaft. Dadurch werden die Operationen von strategischen Machtfeldern überbewertet und zugleich die Fähigkeit von oppositionellen Politiken und Taktiken, eine Ebene der strategischen Interaktion zu erreichen, unterschätzt – denn sie schaffen in der Tat strategische Räume und Orientierungen, wenn auch nicht in dem Sinne, wie de Certeau dies versteht. Diese Rahmung führt zu einer unkritischen Aufwertung von mikropolitischer Subversion, die dann aber über keine Mittel mehr verfügt, um Verbindungen zwischen Antagonismen zu artikulieren, ohne dass diese Artikulation als ein Akt der Herrschaft verstanden würde. Und eben darum gibt es sehr wenige Diskussionen zur Frage der Strategie. Aber dies scheint überhaupt nicht dasselbe zu sein wie eine Orientierung, die die Auseinandersetzung mit strategischen Fragen auf Klugheit gründet. In welcher Weise führt uns Konrads Arbeit also in andere Gefilde?
Um auf die autonome Tradition zurückzukommen: Wenn Widerstand zuerst kommt und ein vorrangiger und bestimmender Faktor der sozialen Entwicklung ist, dann wirkt er eben genau auf ein strategisches Feld ein. In der „kopernikanischen Wende“ eines Verständnisses von Widerstand, das diesen als vorrangigen und primären Faktor ansieht, bringt die autonome Tradition einen Neuentwurf der Unterscheidung zwischen Strategie und Taktik hervor.[13] Der von Konrad entwickelte Zugang führt verschiedene Einsichten zusammen, die aus diesen Ansätzen hervorgehen, und verwirft zugleich einige ihrer fragwürdigeren Auswüchse. Während es einerseits lächerlich ist, von einem Begriff der Strategie ausgehend zu arbeiten, in dem Widerstand nur taktisch ist und von einem beweglichen Nicht-Ort aus operiert, der nie der eigene ist und keinen taktischen Schauplatz von Operationen zu formulieren erlaubt, ohne sich zu einer transzendent-hierarchischen Form der Strategie als Herrschaft zusammenzuballen, vernachlässigt die Alternative – nämlich alle Formen des sozialen Widerstands als strategisch anzusehen – desgleichen die spezifische Art und Weise, wie sich diese strategischen Operationen zusammensetzen. Wenn es darum geht, diese Spezifitäten zu fassen, bedarf es nicht verdinglichter Konzeptionen von Staatskunst oder irgendwelcher Annahmen bezüglich der strategischen Natur, die der autonomen politisch-künstlerischen Tätigkeit innewohnt. Konrad geht auf eine klassischere Betrachtungsweise von Strategie zurück, aber er tut dies mit einer Reihe von kritischen Differenzen – vielleicht ähnlich wie Debord die Geschichte der militärischen Strategie und des militärischen Denkens überdacht hat, und zwar um von ihr zu lernen und sie auf andere Weise zur Anwendung zu bringen.
Strategie ist demnach nicht ein Planen von Operationen und taktischen Manövern, das sich auf eine rationale, abstrakte Kalkulation gründet und in einer entkörperten, transzendenten Perspektive erarbeitet wird.[14] Vielmehr ist sie kontextuell und prozessbasiert und bildet sich um die Frage herum aus, wie spezifische strategische Pläne sich in ihre Umgebung einfügen und auf sie antworten. Ins Politische übersetzt, handelt es sich um einen Prozess, in dem strategische Planungen und taktische Operationen ständig adaptiert und transformiert werden, und zwar im Verhältnis zu wechselnden Zusammensetzungen von Kräften, Antagonismen und beweglichen Subjektivitäten zu einem gegebenen Zeitpunkt und entsprechend den veränderlichen Gegebenheiten der Situation. Diese Anpassung an die Umgebung und ausgehend von ihr ist traditionell eine Frage der Intelligenz, und zwar militärischer Art, einer Intelligenz also, die „notwendig unvollständig ist und von vereinfachten Beschreibungen von Komplexität abhängt“[15]. Strategische Modelle lassen, so wie alle Modelle, einige Elemente aus, aber die Frage ist, um welche Elemente es sich handelt und welche Effekte ihre Abwesenheit zeitigt. Oder anders gefasst: Was sind die Vorteile davon, eine Analyse auf die Elemente zu gründen, die berücksichtigt werden? Nehmen wir beispielsweise den Begriff der Psychogeographie, der viele Aspekte ausspart, die für die meisten Verständigungen über Territorium und strategische Operationen wesentlich sind. Was er indessen einbezieht, ist eine fein abgestimmte Analyse emotionaler und affektiver Dynamiken, was genau das Terrain von kultureller Politik und Infowar im kognitiven Kapitalismus ist. Psychogeographie ist mithin in einem bestimmten Sinn nicht mehr als eine Adaption der Methoden und Ansätze militärischer Strategie und Kartographie an die veränderliche Situation spektraler Warenproduktion und Staatsmacht. Die Klugheit besteht darin, dieser Neuadaption eine Formulierung zu geben bzw. auszuführen, wie Strategie „eine situationale Intelligenz mit verfügbaren Taktiken und ihren erwarteten Effekten zur Anwendung bringt“[16].
Strategische Rahmenbedingungen und taktische Manöver, die durch logistische Netze miteinander verbunden sind, finden sich – mit Konrads treffenden Worten – zu einer „unendlichen Spirale wechselseitiger Antizipation“[17] verflochten. Oder in autonomen Begriffen gesprochen: Kapital und Staat arbeiten an der Antizipation neuer Formen der Subversion, damit deren Energien in neue Mechanismen übersetzt werden können, die der Kapitalakkumulation und Regierung dienen. Diejenigen, die diesen Prozess sabotieren möchten, müssen in gleicher Weise den künftigen Auflösungs- und Vereinnahmungsprozess antizipieren, um ihn umzulenken und zu verhindern. Diese Abschirmung und Verschleierung herleitbarer Entscheidungsfindung, die Schichtung und Codierung strategischer Operationen und Erscheinungen bedeutet die Entwicklung einer Kunst der Undercommons. Es handelt sich um eine Kunst, die nicht ihr ganzes subversives Wissen öffentlich deklariert und preisgibt oder ein neues Regime des Sinnlichen verkündet, wie dies in der Geschichte von Avantgarde-Deklarationen der Fall war. Wenn also Brian Holmes sagt, dass, wer über Politik in einem künstlerischen Rahmen redet, lügt[18], so ist das in gewisser Weise keine Kritik, sondern auch eine Einführung in das Potenzial einer künstlerischen Politik, die sich um diese Dynamiken der Täuschung herum ausbildet.
Unter den Commons
„Der erste Akt der Selbstorganisierung in den Undercommons ist eine Subjektivierungsverweigerung durch – und nur durch – Selbstorganisierung. Für uns ist diese Desidentifikation durch Selbstorganisierung auch nicht eine Grundvoraussetzung für das, was Toni Negri die gemeinsame Gestaltung [gestione] der Commons nennt, sondern sie ist das Potenzial dieser Organisierung.“[19]
Es ist diese strategische Notwendigkeit, die Intentionen sowie die Formen des Wissens und Verstehens subversiver Tätigkeit zu verschleiern, auf die eine Herangehensweise an Strategie als Klugheit hindeutet. Es handelt sich um eine Notwendigkeit insbesondere für künstlerisch-politisch-mediale Interventionen, die – wie wir nur zu gut und paradoxerweise doch nicht gut genug gelernt haben – entscheidende Arenen für die Auflösung und Vereinnahmung subversiver Energien sind. Es ginge nicht um eine Kunst der Öffentlichkeit, das heißt eines angenommenen oder vorgegebenen Publikums, sondern um eine Kunst der Undercommons: eine strategische Neufassung künstlerisch-politischer Interventionen, die sich um die sehr ernst genommene Frage herum entfaltet, mit wem man kommuniziert und warum. Es ließe sich darüber im Sinne einer relationaler Ästhetik nachdenken, die – anstatt auf den Raum der Galerie eingegrenzt zu sein – durch einen infrapolitischen und alltäglichen Bereich hindurch operiert und dabei durch die Gestaltung von Beziehungen in diesem Raum immanente Punkte der strategischen Konvergenz ausbildet. Oder noch besser: Es handelt sich um die Formierung des Raumes selbst.
Der Begriff der Undercommons rührt aus den Schriften von Fred Moten und Stefano Harney, die Theoretisierungen von Leuten wie Robin D. G. Kelley und James Scott aufgreifen; diese beziehen sich auf Fragen der Codierung, der Täuschung und der Ausweichbewegungen, welche zu den Widerstandsformen von LandarbeiterInnen, entlaufenen SklavInnen und anderen Bevölkerungen gehörten, die das mit einer offenen Äußerung ihrer Absichten oder Ideen verbundene Risiko nicht auf sich nehmen konnten.[20] Dies ist in der Tat eine Position, die von der Arbeitsverortung vieler politischer KünstlerInnen und MedienproduzentInnen (wenn auch nicht aller) sehr verschieden ist. Und doch kann von diesem Ansatz etwas gelernt werden. Wenn das Problem autonomer kultureller und künstlerischer Produktion darin besteht, dass sie zu viel preisgibt und sich so unbeabsichtigterweise dem Prozess der Vereinnahmung und Auflösung öffnet, dann könnte eine strategische Orientierung, die einen Umgang mit dieser Dynamik sucht, vielleicht von den codierenden und verschleiernden Dynamiken infrapolitischer Intervention und der Ausformung der Undercommons lernen. Und während die Undercommons in der Perspektive des Kapitals die nicht anerkannte Selbstorganisierung der Verachteten, Abgeschriebenen und Asozialen darstellen, sind sie in einer autonomen Perspektive etwas ganz und gar anderes: die Selbstorganisierung der Unvereinbaren. Sie verkörpern einen Prozess der selbstorganisierten Desidentifikation, in dem das Wissen der Subversion innerhalb des parallelen, unterirdischen Terrains gehalten wird, anstatt zum Teil aufgezwungener halluzinatorischer Muster des Staates zu werden.
Konrads Zugang zur Strategie arbeitet in dieser Richtung und gegen sie, und er opfert dabei einige tote Säulenheilige seiner eigenen Durchkreuzung der Pfade der gegenwärtigen europäischen Wüste. Diese Analyse selbst ist durch den sich ausbreitenden Strom seiner Prosa hindurch verstreut, aber sie tritt in bestimmten Momenten deutlich hervor; etwa wenn er den preußischen Soldaten und Militärstrategen Dietrich Heinrich von Bülow zitiert mit der Aussage: „Eine Strategie ist die Wissenschaft von Militärbewegungen außerhalb des Gesichtsfelds des Feindes; Taktik spielt sich innerhalb dieses Feldes ab.“ In der Tat – und damit taucht die Frage der Strategie wieder auf, und zwar buchstäblich, und nicht als eine Frage, in der Taktiken Bestandteile in der Ausbildung einer überwölbenden Strategie sind (was sie in gewisser Weise sind) oder Bestandteile, die wesenhaft mit der Dynamik von Herrschaft oder Widerstand (je nach dominanter Charakteristik) verbunden sind, sondern als eine Unterscheidung, die eher auf Sichtbarkeitsfeldern und Fassungskraft basiert. Ein strategischer Ansatz, der sich über eine Logik der (Un-)Sichtbarkeit definiert, ist die Bedingung der Klugheit, wenn – wie Konrad argumentiert – die Macht, die gerade durch ihre Sichtbarkeit gebunden ist, den Bedingungen der Fähigkeit, unsichtbar zu bleiben, taktische Vorteile bietet. Es handelt sich, wie Roger Farr anhand ihrer Erscheinungsformen in der anarchistischen Poetik erkundet hat, um eine Strategie der Verbergung.[21]
Es ist somit nicht notwendig, dass Strategie direkt mit der Anwendung von Kraft beschäftigt ist; sie ist vielmehr ein Verstehen der Kräftedynamik in Bewegung, der Bewegung des Werdens und Entwerdens, die im Spiel sind, sowie die Anwendung dieser Dynamiken in der immanenten Komposition einer politischen Möglichkeit. Konrads Arbeit zeigt, dass die strategische Operation des Infrapolitischen auch im Herzen des Staates und innerhalb der Logik des Regierens am Werk ist, in den anhaltenden Versuchen, die infopolitischen und medienspektakulären Mechanismen zu stützen, durch die fortdauernde Formen der Herrschaft zusammengehalten werden. Aber diese strategischen Formen der Staatskunst sind selbst ephemer und prekär, sie bedürfen der ständigen Aufrechterhaltung und Stützung durch kulturelles Engineering. Staats- und Regierungskunst müssen ihren eigenen Raum ständig neu erschaffen (und in diesem Sinn hat de Certeau bezüglich des Verhältnisses zwischen Strategie und Raum vielleicht recht). Das Regieren ist mithin stets auf eine neue Lösung im Hinblick auf dieses Problem angewiesen, mag es dabei von Giordano Brunos Techniken der libidinösen Bindung und Informationsmodulation oder von antagonistischen sozialen Bewegungen und Energien lernen oder auch neue Verschwörungsängste heraufbeschwören, die gegen jene gerichtet sind, die den Bereich der Undercommons bewohnen.[22]
In seinem Postskriptum zum Strategic Reality Dictionary weist das Critical Art Ensemble auf folgenden Widerspruch hin: Die Klasse der IngenieurInnen der Wirklichkeit ist gefangen zwischen den Mächten des Messbaren und Physischen und den Techniken der Modulation von Einbildungskraft, Begehren und Kreativität, die stets kontrolliert werden müssen, damit die Regierungsapparate weiterhin funktionieren. Im heutigen kognitiven Kapitalismus, jener Krankheit, die vorgibt, die Therapie zu sein (gewiss die treffendste Charakterisierung, die jemals gegeben wurde), drängen und verlangen diese Mechanismen danach, dass wir alles preisgeben, was wir wissen, ob dies dadurch geschieht, dass man „Spaß an der Arbeit“ hat, durch partizipatorische Arbeitsteams, in Kulturquartieren, durch die früheren Radikalen, die „vernünftig“ geworden sind und den Geist ihrer früheren Subversion aufgegeben haben, oder durch die Einspeisung von Antagonismus in Bildkapital. Eine Kunst der Undercommons gibt den Strategien der medialen und kulturellen Intervention eine neue Orientierung und formiert sich um die Klugheit, nicht zu viel preiszugeben, diese Wissensformen nicht der Ernte zu öffnen. Die Kunst der Undercommons ist die Klugheit, Welten zu erschaffen und dabei subversive Wissensformen gegenüber der Vereinnahmung zu verschleiern. Wenn es darum geht, dass subversive Bewegungen ihr Potenzial bewahren, können wir nur hoffen, dass sie nicht Widerstandsritualen und Unbedenklichkeiten verfallen, durch Gesten, die „mehrdeutige Ströme von sozialen Kontinua in gesonderte und verarbeitbare Kategorien verwandeln“[23]. Wir können nur auf die Entwicklung der Klugheit hoffen, die um den Unterschied weiß.
[1] Für weitere Ausführungen dazu vgl. Dave Eden, „Treasonous Minds: Capital & Universities, the Ideology of the Intellectual and the Desire for Mutiny“, in: ephemera, Vol. 5, Nr. 4, 2005, S. 580–594.
[2] Jacques Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, übers. v. Maria Muhle, Susanne Leeb u. Jürgen Link, Berlin: b_books 2006, S. 49.
[3] Der vielleicht am weitesten entwickelte Begriff einer Avantgarde, die nicht vom Begehren nach Öffentlichkeit angetrieben ist, ist Hakim Beys Konzeption des „immediatism“. Vgl. Hakim Bey, Immediatism, San Francisco: AK Press 1994.
[4] Jacques Attali, Noise: The Political Economy of Music, Minneapolis: University of Minnesota Press 1985.
[5] Konrad Becker, Strategic Reality Dictionary: Deep Infopolitics and Cultural Intelligence, Brooklyn: Autonomedia 2009, S. 34.
[6] Für weitere Ausführungen dazu vgl. Peter Linebaugh, The London Hanged: Crime & Civil Society in the Eighteenth Century, New York: Verso 1992.
[7] Guy Debord, Panegyrc, New York: Verso, S. 10. Vgl. auch die wichtige Studie von Alice Becker-Ho zum Dialekt und Slang der Roma und Sinti, in der diese Themen weiter entwickelt werden; in: Dies., The Princes of Jargon, New York: Edwin Mellen 1991.
[8] K. Becker, Strategic Reality Dictionary, a. a. O., S. 64.
[9] K. Becker, Tactical Reality Dictionary: Cultural Intelligence and Social Control, Wien: Edition Selene 2002, S. 115.
[10] Ebd., S. 36.
[11] Für Weiteres zu dieser Geschichte vgl. Jeremy Gilbert, Anticapitalism and Culture: Radical Theory and Popular Politics, New York: Berg 2008.
[12] Michel de Certeau, Kunst des Handelns, übers. v. Ronald Vouillé, Berlin: Merve 1988, S. 90.
[13] Diese Reformulierung findet sich in einem Essay von Mario Tronti, „The Strategy of Refusal“ (1980), der zuerst 1964 publiziert wurde. Trontis Ansatz zufolge sind wilde Streiks, Arbeitsverweigerung und das Verlassen anerkannter Gewerkschaften und politischer Parteien nicht als etwas von Fragen der Strategie und Raumformierung Verschiedenes anzusehen, sondern gerade als Grundlage einer anderen Strategiekonzeption selbst. Für Tronti besteht die Geschichte des Klassenkampfs nicht in den Reaktionen der ArbeiterInnen auf wechselnde Herrschaftsformen, sondern in der Ausbreitung von Widerstandsformen und einer Fluchtbewegung aus der Beherrschung; dadurch werden Krisen herbeigeführt, auf welche das Kapital im Zuge der Aufrechterhaltung seiner Herrschaft antworten muss.
[14] Für eine interessante Untersuchung einiger der Spannungen und Probleme innerhalb der Dichotomie von Immanenz und Transzendenz vgl. Matteo Mandarini (2010), „Critical Thoughts on the Politics of Immanence“, in: Historical Materialism, Jg. 18, Nr. 4.
[15] Becker (2009), S. 88.
[16] Ebd., S. 134.
[17] Ebd.
[18] Brian Holmes (2007), Unleashing the Collective Phantoms: Essays in Reverse Imagineering, Brooklyn: Autonomedia, S. 81.
[19] Stefano Harney / Fred Moten (2008), „Governance and the Undercommons“, verfügbar auf http://info.interactivist.net/node/10926, 7. April 2008. Für weitere Ausführungen zu den Undercommons vgl. Stefano Harney / Fred Moten (2004), „The University and the Undercommons: Seven Theses“, in: Social Text, 22; sowie Stevphen Shukaitis (2009), „Infrapolitics and the Nomadic Educational Machine“, in: Randall Amster et al. (Hg.), Contemporary Anarchist Studies: An Introduction to Anarchy in the Academy, New York: Routledge, S. 166–174.
[20] Vgl. bes. Robin D.G. Kelley (2002), Freedom Dreams: The Black Radical Imagination, Boston: Beacon; sowie James C. Scott (1990), Domination and the Arts of Resistance: Hidden Transcripts, New Haven: Yale University Press.
[21] Roger Farr (2007), „The Strategy of Concealment: Towards an Anarchist Critique of Communication“, in: Fifth Estate, 374; auch verfügbar unter http://anarchistnews.org/?q=node/3942.
[22] Für weitere Überlegungen zu Verschwörungsängsten als Regierungstechnologien vgl. Jack Z. Bratich (2008), Conspiracy Panics: Political Rationality and Popular Culture, Binghamton: SUNY Press.
[23] Becker (2009), S. 49.