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03 2025

Nein, das sind keine Sitzenbleiber!

Zwei süße Illusionen und eine bittere Wahrheit über die Studierendenproteste in Serbien

Boris Buden

Flammarions Holzschnitt, Autor: Nicolas Camille Flammarion


Flammarions Holzschnitt, die berühmte ikonische Darstellung der Welt an der Schwelle zur Renaissance, illustriert eine surreale Szene: Angekommen am Ende der Welt – jenem Ort, an dem das Firmament die flache Erde berührt – steckte ein junger Mann, wahrscheinlich ein Pilger, seinen Kopf durch die Membran des Himmels und blickte auf … wir wissen nicht, worauf. Zahlreiche Interpret_innen der symbolischen Bedeutung dieser Illustration, die höchstwahrscheinlich erst im 19. Jahrhundert entstand, haben keine Erklärung dafür gefunden, was diese Figur auf der anderen Seite der bekannten Welt gesehen haben könnte. Einige erblickten in den vagen Konturen das Bild eines Gottes, andere erkannten die Maschinerien des kosmischen Mechanismus und wieder andere eine bildliche Darstellung von Aristoteles‘ „Unbewegtem Beweger“. Was jedoch in dieser Illustration offensichtlich ist und worüber kein Zweifel besteht, ist ihr wahres und einziges Thema, der Moment der Enthüllung des noch Unsichtbaren, also die Erregung, die diesen Akt begleitet und die die Betrachter_in dieser Szene mit ihrem Protagonisten teilt, dieser Figur eines Manns, der es wagte, den bestehenden Horizont mit seinem Kopf zu durchdringen. Alles andere ist zweitklassig – der Kitsch einer banalen Realität.

In seiner symbolischen Bedeutung erzählt uns dieser alte Flammarion-Holzschnitt mehr über die Proteste der Studierenden in Serbien als alle heutigen Medien zusammen, ob sozial oder asozial. Erregt durch das Spektakel wie Pubertierende auf Porno-Hub, saturieren sie unsere Augen mit ein und demselben Bild, das sich in einem Endlos-Loop wiederholt: eine Masse, die in den öffentlichen Raum eindringt, eine Masse, die sich ansammelt und aufsteigt, bis zum Platzen anschwellend, eine Masse in Aktion, eine Masse von oben, eine Masse von unten, eine Masse von links und von rechts, in Bewegung und im Stillstand, im Detail und in der Nahaufnahme, zynisch reduziert aus der Regime-Perspektive, optimistisch überhöht aus einer Anti-Regime-Sicht. Und dann noch einmal Masse und immer wieder Masse ... Egal wie spektakulär, all dieser visuelle Overkill dient, ob es uns gefällt oder nicht, einem einzigen Zweck: zwei süße Illusionen zu schüren und eine bittere Wahrheit zu vertuschen.

Die erste Illusion ist, dass die Masse hundert Jahre nach ihrem ersten Eintritt in die politische Arena der modernen Welt immer noch ein relevantes politisches Thema ist, im Guten wie im Schlechten. In der verkalkten Gehirnrinde bürgerlich-liberaler Köpfe spielt sie immer noch eine wichtige Rolle, obwohl sie nicht mehr ohne Kostüme auf der Bühne steht: einmal in den schmutzigen, stinkenden Lumpen des Populismus und ein anderes Mal im schicken Outfit der Zivilgesellschaft. Während das Publikum beim ersten flucht und spuckt, applaudiert es beim zweiten begeistert. Deshalb nimmt die europäische und westliche Öffentlichkeit die serbischen Studentenproteste ungeachtet ihrer Masse nicht zur Kenntnis.

Ohne Kostüme bleibt die Masse, so spektakulär ihre mediale Präsentation auch sein mag, unsichtbar. Natürlich wäre alles anders gewesen, wenn die Studierenden unter den Flaggen Serbiens und Russlands auf die Straße gegangen wären, zum Sturm auf den Kosovo aufgerufen und „Putin!“ skandiert hätten. Entsetzt über die Grausamkeit des primitiven, durch populistische Manipulationen irregeführten Balkans hätte Europa einen weiteren Grund gefunden, warum Serbien keinen Platz in seinem „Zivilisationskreis“ hat und haben kann. Wenn sie im Gegenteil die Flaggen der Europäischen Union, der NATO oder der Regenbogenfarben hissen und beteuern, dass sie im Namen der Demokratie und der europäischen Werte sowie gegen illiberale Autokraten wie Putin, Orban und Vučić auf die Straße gehen, würde ganz Europa, angeführt von Ursula von der Leyen, auf der Seite der mutigen Zivilgesellschaft stehen, die Serbien in die europäische Zukunft führe. Aber leider sind die serbischen Studierenden weder das eine noch das andere. Sie sind zusammen mit allen, die ihnen öffentlich zur Seite gestanden haben, nicht einmal eine Masse, was selbst die ihnen sympathisierenden Medien weder verstehen noch darstellen können.

Daher ist die Tatsache, dass die Massen auf der Straße heute immer noch in der Lage sind, die gegebene Realität radikal zu verändern, eine reine Illusion, zwar süß, aber dennoch nur eine Illusion. Spätestens am Samstag, dem 15. Februar 2003, wurde dies deutlich, als in sechshundert Städten der Welt Millionen Menschen auf die Straße gingen, um gegen die angekündigte Invasion des Irak, die illegale Militärintervention und die Besetzung eines souveränen Lands zu protestieren, die ihre Akteure vor dem Sicherheitsrat und vor der gesamten Weltöffentlichkeit mit lächerlichen Lügen legitimierten. Die Menschen reagierten mit dem größten Massenprotest in der Geschichte der Menschheit. Allein auf den Straßen Roms zählte die Menge drei Millionen Menschen. London erlebte die größte politische Kundgebung seiner Geschichte. Und was ist passiert? Nichts! Die „Koalition der Willigen“ hat ihre Aufgabe erfüllt, über 150.000 Menschen in den Tod geschickt, zwei Drittel davon Zivilist_innen, und Millionen Iraker_innen ins Exil getrieben. Liberale westliche Demokratien, die sonst so stolz auf ihre demokratischen Werte sind, haben den Willen der Massen völlig ignoriert. Sie haben Gesetze gebrochen, Verbrechen begangen und das alles nicht nur ohne Strafe, sondern auch ohne politische Konsequenzen. Heute, wo in Europa eine neue „Koalition der Willigen“ für Bewaffnung und Krieg entsteht, finden Demonstrationen nur noch in Serbien statt. Wogegen oder wofür, weiß Europa nicht, und es kümmert sich auch nicht darum.

Aber es gibt noch eine andere, ebenso süße, aber nicht weniger große Illusion, diejenige, die in den Studierenden und den Menschen, die ihnen folgen, das Volk erkennt, also den gesamten Protest als einen Konflikt zwischen dem guten Volk und seinem schlechten Staat versteht. Auf der einen Seite steht also ein tugendhaftes, unverdorbenes, nach Wahrheit und Gerechtigkeit strebendes Volk, das, angeführt von Studierenden, auf die Straße ging, um die schurkischen, dysfunktionalen Institutionen seines „gescheiterten“ Staates zu reparieren, oder in der Befehlssprache der westlichen Herrschaft honest & brave people vs. failed state. Auf der anderen Seite steht natürlich die korrupte und entfremdete politische Elite, die den Staat gekapert und ruiniert hat. In diesem Sinne ist das Endziel des Protests klar und unmissverständlich: den Staat von korrupten Elementen zu befreien und so eine Art Generalüberholung durchzuführen, nach der er wie neu funktionieren soll. Am Ende soll Serbien ein normales, geordnetes Land werden, in dem Institutionen ihre Arbeit verrichten, Gesetze respektiert werden und eine freie und unabhängige Öffentlichkeit, vereint mit einer stets wachsamen Zivilgesellschaft, mögliche Abweichungen nach und nach beseitigen wird. Damit erhält der Kapitalismus endlich seinen optimalen rechtlichen und politischen Rahmen, innerhalb dessen er ein kontinuierliches Wachstum ohne Krisen und Konflikte beginnen und wie eine Flutwelle den Lebensstandard und das allgemeine Wohlergehen aller Mitglieder der serbischen Gesellschaft steigern kann. Der lange serbische Albtraum eines „unvollendeten Staates“ wird endlich ein Ende haben. Das serbische Volk wird mit der Realität seines wiederhergestellten Staats erwachen, der wie eine Schweizer Uhr gleichmäßig die Stunden des Glücks und des Wohlbefindens schlagen wird, wenn nicht bis in alle Ewigkeit, dann zumindest bis der Tod sie scheidet, was natürlich niemals passieren wird.

Und was ist mit den politischen Parteien, den Oppositionspolitiker_innen? Gibt es in dieser Geschichte über eine glückliche serbische Zukunft keinen Platz für sie? Zwar gehören sie nicht zu den Hauptakteur_innen der serbischen Studierendenproteste, was aber nicht bedeutet, dass sie nicht da wären. Wie hungrige Krähen setzten sie sich auf die umliegenden Beobachtungsposten und warten darauf, dass das Regime unter dem Druck der Massen zusammenbricht, sich auf den Rücken legt und seine Lenden entblößt, damit sie in seine Eingeweide kriechen und mit dem Festessen beginnen können. Und falls das nicht klappen sollte, auch gut. Sie haben nichts riskiert, also werden sie auch nichts verlieren. Und einfach warten, das können sie am besten, das können sie bei Bedarf für immer tun. In der Tat fehlt die gesamte politische Sphäre bei den Ereignissen fast vollständig, ob Parteien oder parlamentarisches System, die angeblich das Rückgrat der modernen demokratischen Gesellschaft sein sollten. Möglicherweise, weil sie irrelevant geworden ist. Um Missverständnisse zu vermeiden: Alles sagt uns, dass politische Parteien und das parlamentarische System selbst im politischen Leben der (serbischen) Gesellschaft überflüssig geworden sind. Mehr noch, wir vermissen sie überhaupt nicht. Im Gegenteil kam die wahre Erfahrung von Freiheit, Hoffnung und Menschenwürde erst dann zum Vorschein, als wir sie beiseite schoben.

Dies führt uns zur Frage nach der bitteren Wahrheit, die sich hinter den süßen Illusionen verbirgt. Nichts verdeutlicht dies besser als das grundlegende Paradox der serbischen Studentenproteste – das offensichtliche Missverhältnis zwischen der großen Energie, die der Protest erzeugt, der Massenmobilisierung breitester Schichten der Bürger_innen, ihrer spontanen kollektiven Kreativität, ihrer sozial prägenden Selbstorganisation und Selbstdisziplin, ihrer unübertrefflichen medialen Selbstartikulation, ihrer Beharrlichkeit und Ausdauer, alles in allem beispiellos, nicht nur in der serbischen, sondern auch in der modernen europäischen Geschichte – und andererseits dem extremen Minimalismus ihrer politischen Forderungen. Nun ja, alles, was sie fordern, ist, dass das geltende Recht respektiert wird und dass dies öffentlich geschieht. Das und nichts weiter. Aber wir sehen, das ist auch zu viel. Sie sind unrealistisch, weil sie das Mögliche wollen.

Die Studierenden, und mit ihnen alle, die ihnen folgten, taten, was sie nicht hätten tun sollen – sie nahmen die liberale Demokratie beim Wort, was sie ihnen nicht verzeihen wird. Zynismus war und bleibt der ihr innewohnende Modus Operandi, die stillschweigende Annahme jeglichen Glaubens an ihre Ideale: an das Volk als Souverän in seinem demokratischen Nationalstaat und der internationalen Ordnung, die auf Regeln und Gesetzen basiert; an die Figur des freien Individuums als Zentrum des gesamten Universums, das in Gleichberechtigung mit den anderen durch seine demokratisch gewählten Vertreter das Leben der Gemeinschaft zum Wohle aller regelt; an die Institution der Öffentlichkeit, die, unabhängig und objektiv, im freien Austausch unterschiedlicher Ideen mit Leichtigkeit Rationalität und Gerechtigkeit hervorbringt; an einen Rechtsstaat, eine starke und aktive Zivilgesellschaft und schließlich an das unantastbare Privateigentum und den darauf basierenden freien Markt, dessen unsichtbare Hand früher oder später alle Münder füttern und jedem ein festes Dach über dem Kopf geben wird ...

Aber haben wir vergessen, dass Serbien bereits zweimal blind an diesen ideologischen Kitsch geglaubt hat, bevor das Dach über seinem Kopf einstürzte? Zuerst hat sich Serbien 1989/90, damals noch im Rahmen Jugoslawiens, der epochalen historischen Wende, dem sogenannten Fall des Kommunismus angeschlossen. Was folgte, war die Realität von nationalistischem Hass, Privatisierungsraub, Kriegen, ethnischen Säuberungen, Verbrechen, territorialer Verstümmelung, moralischer Demütigung und wirtschaftlichem Niedergang. Etwa zehn Jahre später, in der sogenannten 5.-Oktoberrevolution, hat sich Serbien noch einmal in liberal-demokratische Rosen gestürzt, um dann in den Dornen einer endlosen Übergangsdystopie zu landen, an der schäbigen Peripherie des europäischen und globalen Kapitalismus, in einem verfassungsmäßig territorialen Provisorium, mit korrupten Eliten und Institutionen, Land und Volk in einem Zustand der permanenten Unvollständigkeit und des Wartens auf ein Wunder – Demokratie, wie sie sein sollte oder wie sie bereits ist, aber immer woanders, in Europa, im Westen ...

Glaubt heute irgend jemand wirklich ernsthaft, dass Serbien das Gleiche noch einmal versucht, dass all diese emanzipatorische Energie, der Wille zu radikalen Veränderungen, beispiellose Eintracht und Solidarität von einer Handvoll Sitzenbleiber, faul, inkompetent und dumm, ins Leben gerufen wurde, die nun zum dritten Mal zur Demokratie-Nachprüfung antreten?

Der Schnitzer von Flammarions Holzschnitt stellte seine Hauptfigur nicht in den Mittelpunkt der Welt, der idyllischen Landschaft der Erde als flache Platte, klar begrenzt durch den Horizont des Bekannten und Möglichen. Im Gegenteil, er zog ihn bis an den äußersten Rand dieser Welt, an die Stelle, an der das Firmament ihn auf den Boden drückte, ihn zwang, sich zu beugen und zu knien, damit er genau an dieser Stelle mit dem Kopf auf die andere Seite, in die Welt jenseits des Horizonts, durchbrechen konnte. Er sieht diese Welt. Nicht wir, die wir im Zentrum stehen. So ist es heute in Serbien. Wir sehen die Masse, aber wir sehen nicht, was sie sieht, weil ihr Kopf bereits auf der anderen Seite des Horizonts ist. Die Konturen sind vage und unmöglich zu benennen. Doch wer hofft, dass auf der anderen Seite ein altbekanntes Rezept auf uns wartet, der irrt gewaltig: ein Regierungswechsel; Neuwahlen; eine Versammlung, die sich aus authentischen Volksvertreter_innen zusammensetzt; eine nicht korrupte, effiziente Exekutive, die Gesetze ohne Zögern umsetzt; eine neue autochthone Zivilgesellschaft, wirklich unabhängige Medien und ähnliche flacherdlerische Fantasien einer zerfallenden liberalen demokratischen Ordnung.

Schließlich ist dieser Akt der Rebellion und des Protests in seiner enormen Energie und Dimension vor allem durch die existenzielle Erfahrung des Endes einer Ära motiviert, einer Welt, deren Wahrheiten und hohe Ideale als Lügen und leere Illusionen entlarvt wurden. Es wäre nichts passiert, wenn in Novi Sad ein eingestürztes Vordach auf ein paar unglückliche Menschen gefallen wäre. Aber das war es nicht, was geschehen ist – das gesamte Firmament der herrschenden Ideologie stürzte vielmehr auf die Gesellschaft, genauer gesagt auf das, was nach Jahrzehnten ihrer neoliberalen Demontage von ihr übrig geblieben war. Und das, was heute rebelliert, sind die Überreste dieser Gesellschaft, aus den Institutionen des Staates ausgeschlossen, an Gesetzesparagraphen gescheitert, angewidert von der Ideologie, verspottet und bespuckt in der Massenkultur, sprachlos im Parlament und auf dem Arbeitsmarkt umsonst ausverkauft. Denn was wir auf den Straßen serbischer Städte sehen, ist keine Masse, sondern eine Gesellschaft, nur dass die Medien, so wie sie sind, weder die Worte noch die Bilder haben, um es uns zu sagen und zu zeigen. Die Menschen gingen auf die Straße, weil sie nur dort Solidarität als prägende Erfahrung der Gesellschaft noch realistisch artikulieren können. Denn diese Gesellschaft, die kein Dach über dem Kopf hat, ist das einzige Dach, das sie vor dem Himmel schützen kann, der sie zu erdrücken droht. Die Welt, wie sie heute ist, ist kein Ort mehr zum Leben, sondern eine Bedrohung für das Leben selbst.

Daher waren es die Studierenden, die den Aufstand anführten. Nicht weil sie als eine Art Avantgarde den Weg in eine bessere Zukunft kennen, sondern weil sie keine Zukunft haben. Die Nation, zu der sie sich heute noch naiv und unschuldig zählen, wird am Ende des Jahrhunderts nur noch ein Haufen hilfloser alter Menschen sein, weitaus zahlreicher als die Kinder, die sie ernähren könnten; die Sprache, die sie sprechen und lernen, ist bereits heute digital tot; die Technologie, die sie immer noch fasziniert, schmiedet schnell Sklavenfesseln und webt Schlingen um ihren Hals; wenn sie nicht von Atomsprengköpfen verbrannt werden, werden sie von einer höllischen Sonne verbrannt. Sie haben keine Wahl. Entweder werden sie die Welt, in die wir sie geworfen haben, radikal verändern, oder es wird sie nicht geben.