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03 2020

Eine Politik der Kämpfe in Zeiten der Pandemie

Sandro Mezzadra

Übersetzt von Philipp Wehner

Ich schreibe aus Bologna, Italien, unter Bedingungen der Quarantäne. Ich wohne allein, und das macht die Isolierung schwieriger. Freund_innen rufen mich an aus Bergamo und Brescia, den Epizentren der Epidemie. Sie erzählen grausame Geschichten von Tod und massiver Ansteckung. Ich versuche zu widerstehen, ich benutze alle technischen Mittel, die ich zur Verfügung habe, um mein soziales Leben weiterzuführen. Ich lese sehr viel. Und ich schreibe. Der folgende Artikel sollte als eine Widerstandsübung angesehen werden, als ein Versuch, den Leitfaden von Kämpfen um Freiheit und Gleichheit auch in diesen unerhörten Zeiten der Krise zu verfolgen.

Lange Wartezeiten vor der Apotheke und Schlangen vor den Supermärkten: Geschichten wie diese sind in Italien seit kurzer Zeit zur Normalität geworden und reichen aus, um einen Eindruck davon zu bekommen, wie die Verbreitung des Coronavirus unsere Gesellschaft verändert. Genauer gesagt verschärfen die Epidemie und die von der Regierung eingeführten Maßnahmen in Wirklichkeit einige Tendenzen, die bereits seit langer Zeit bestehen. Die jahrzehntelange Politik der Angst hat ihre Spuren hinterlassen, die sich in der aktuellen Berührungsangst und den verdächtigenden Blicken ausdrücken, die über den "Sicherheitsabstand" wachen. Zweifellos stärkt eine solche Angst die Kräfte, die unser Leben beherrschen, und es lohnt sich daran zu erinnern, dass einmal getroffene staatliche Maßnahmen, wie sie jetzt angeordnet wurden, im Arsenal des politisch Möglichen verbleiben. Es entstehen jedoch auch Bilder mit einer völlig anderen Konnotation: Die Menschen auf der Straße lächeln einander an, von den Balkonen wird Musik gespielt, und ein Gefühl der Solidarität umgibt nicht nur Ärzt_innen und Krankenpfleger_innen, sondern auch Arbeiter_innen, die sich im Streik befinden und für die Sicherheit ihrer Arbeitsbedingungen kämpfen.

Die Diskussion innerhalb von sozialen Bewegungen und der Linken scheint sich dieser Tage in privilegierter Weise auf den ersten Aspekt zu konzentrieren, nämlich die Verschärfung von Kontrollmechanismen in Notzeiten. Selbst unabhängig von den Positionen etablierter Philosophen, die sich zu Virologen und Epidemiologen entwickeln, scheint in vielen Interventionen eine Art Skepsis gegenüber dem COVID-19 und seiner tatsächlichen Gefährlichkeit zu herrschen. Mir erscheint diese Haltung eindeutig irreführend. Im Gegenteil: Die Diskussion sollte von der Tatsache ausgehen, dass die Verbreitung der Coronavirus-Erkrankung sowohl eine Bedrohung für die Gesundheit und das Leben von Millionen Menschen (vor allem von älteren und anderweitig gefährdeten Personen) als auch für die Aufrechterhaltung des Gesundheitssystems darstellt. In diesem Punkt sollte es keinen Zweifel geben.

Wenn dies die Lage ist, stellt das Coronavirus eine essenzielle Bedrohung für etwas dar, was wir in unserem Diskurs als das "Gemeinsame" bezeichnet haben. Vom Gemeinsamen ausgehend (und von unseren Leben) zeigt die anhaltende Epidemie die ganze Zerbrechlichkeit und Unsicherheit, die Notwendigkeit der Sorge, die insbesondere durch die feministischen Debatten der letzten Jahre hervorgehoben wurde. Ohne den Punkt der Kontrolle zu vergessen, möchte ich die zuletzt erwähnte Perspektive einnehmen, um darüber nachzudenken, was derzeit in Italien, Europa und der Welt geschieht.

Die wirtschaftlichen Auswirkungen des Coronavirus sind beispiellos. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten wirkt sich eine Krise, die ihren Ursprung in der "Realwirtschaft" hat, gewaltsam auf die globalen Finanzmärkte aus und verursacht beispiellose Verluste. Im Hinblick auf den globalen Kapitalismus scheint die Metapher der „Blockade“ am besten geeignet, die gegenwärtige Situation zu veranschaulichen. Wie in einem Spiegel wirft die Krise das umgekehrte Bild eines Kapitalismus zurück, dessen Kreisläufe der Aufwertung und Akkumulation vollständig von einer unermüdlichen Bewegung von Kapital, Waren und Menschen abhängen. Die Lieferketten, die das logistische und infrastrukturelle Gerüst der kapitalistischen Globalisierung bilden, scheinen heute weitgehend blockiert zu sein. Die Börsenkurse – die seit geraumer Zeit die Verlängerung der Lieferketten und das damit verbundene Netz von Korridoren, Sonderzonen und Knotenpunkten steuern – sind gezwungen, eine solche Blockade zu erfassen.

Es ist nicht abwegig zu sagen, dass die gegenwärtige Pandemie einen Punkt erreicht hat, an dem es in der Entwicklung des globalen Kapitalismus keine Rückkehr gibt. Ich neige keineswegs zu Szenarien von Kollaps und Apokalypse. Der Kapitalismus wird sicherlich auch nach dem Coronavirus weiter bestehen, aber er wird sich grundlegend von dem unterscheiden, was wir in der jüngsten Vergangenheit gesehen haben (obwohl bereits radikale Veränderungen zum Vorschein gekommen sind, die aus der Finanzkrise von 2007/2008 herrührten).

Um zu verstehen, was in Italien geschieht, muss man eine globale Perspektive einnehmen. Im Moment zeigt Italien wieder einmal den Charakter eines „Laboratoriums“, wenn auch in einer völlig anderen Form als in der nicht allzu weit zurückliegenden Vergangenheit. Trotz der Gefahr der Vereinfachung könnte man sagen, dass sich in diesem Moment eine präzise Alternative abzeichnet: Einerseits gibt es eine Linie, die wir als malthusianisch (oder von einem wesentlichen Sozialdarwinismus inspiriert) definieren könnten, die ihr Beispiel in der Johnson-Trump-Bolsonaro-Achse findet. Andererseits scheint es eine Linie zu geben, die auf die Neuqualifizierung der öffentlichen Gesundheit als grundlegendes Instrument zur Bewältigung der Notlage abzielt (hier gibt es sehr unterschiedliche Beispiele aus China, Südkorea und Italien). Im ersten Fall werden Tausende von Todesfällen in der Bevölkerung als natürliche Selektion gewertet. Im zweiten Fall wird es aus bestimmten Gründen darum gehen, dass die Gesellschaft mit einem variierenden Grad an Autoritarismus und sozialer Kontrolle "verteidigt werden muss".

Um es klar zu sagen: Ich "unterstütze" keineswegs die von der italienischen Regierung eingeführten Maßnahmen. Ich beschränke mich vielmehr darauf zu sagen, dass in diesem Moment – auf globaler Ebene – ein Konflikt im Gange ist, der wesentliche Konsequenzen nicht nur für die Zukunft des Kapitalismus, sondern auch (schließlich ist das dasselbe) für unser eigenes Leben haben wird. Dieser Konflikt betrifft Länder wie Großbritannien, die Vereinigten Staaten und Brasilien, deren Regierungen die von mir als "malthusianisch" bezeichnete Lösung befürworten; wo Widerstände sozial und politisch fest verwurzelt sind. Aber der Konflikt durchzieht auch Italien, wo ein solcher Kampf durch die Weigerung der Arbeitnehmer_innen zum Ausdruck kommt, die Entscheidungen der Confindustria – des italienischen Arbeitgeber_innen- und Industrieverbandes – zu akzeptieren und sich der Vormachtstellung der Produktion zu opfern. Ganz allgemein scheint das Krisenmanagement des Coronavirus ein wesentliches Konfliktfeld zu sein. Nur die Verschärfung der sozialen Kämpfe (jetzt und in den kommenden Monaten) kann Räume der Demokratie und der "Sorge" um das Gemeinsame öffnen. Dies gilt für Italien nicht weniger als für die Vereinigten Staaten.

Nun lohnt es sich zu prüfen, welche möglichen Szenarien sich in naher Zukunft herauskristallisieren könnten. Der wesentliche Wert des öffentlichen Gesundheitssystems (d.h. das soziale Recht auf Gesundheit) ist heute eine Komponente, die nicht mehr wirklich in Frage gestellt werden kann. Das bedeutet, dass es zumindest für eine gewisse Zeit schwierig sein wird, hier weitere Kürzungen vorzuschlagen. Es ist zu hoffen, dass dies auch im Bereich der Bildung geschieht, obwohl es zweifellos notwendig sein wird, sich den Versuchen entgegenzustellen, einige der Veränderungen, die in den letzten Wochen (beginnend mit der Nutzung der Online-Bildung) eingetreten sind, unumkehrbar zu machen. In der Krise werden Frauen weiterhin mit Sorge-Arbeit belastet sein – aber auch dieser Umstand schafft Raum für neue Kämpfe und Aushandlungen. Die oben erwähnten Arbeiter_innenstreiks weisen auf die Möglichkeit neuer gewerkschaftlicher sowie sozialer Horizonte und die Forderung nach einem "Quarantäne-Einkommen" hin. Die jüngsten Gefängnisrevolten in Italien (die mit einem sehr hohen Preis bezahlt wurden) haben in einer Welt, die in den letzten Jahren grundlegend undurchsichtig geworden war, eine neue Sichtbarkeit geschaffen – und dennoch einige bedeutende, wenn auch nur teilweise Erfolge erzielt. Dies geschieht auch in den Abschiebegefängnissen, in denen das Coronavirus zwar die Rückführungen, nicht aber die Inhaftierung gestoppt hat.

Ich wiederhole: Wir haben es mit Szenarien zu tun, die auf bestimmte Felder von Bewegungskämpfen verweisen und ganz sicher nicht auf gradlinige Regierungsentwicklungen. Aus methodischer Sicht halte ich es für wichtig, hier anzufangen. Das Virus hat ironischer Weise den völlig illusorischen Charakter der Herrschaft und des Grenzfetischismus aufgezeigt. Dies ist eine gute Voraussetzung, um wieder eine Reflexion über Europa zu eröffnen. Natürlich hat die Europäische Union bisher nicht viel getan, hat sich widersprüchlich und manchmal sogar kontraproduktiv verhalten. Aber wie kann man jetzt noch übersehen, dass das Sparregime mit dem Dogma des ausgeglichenen Haushalts endlich zusammenbricht? Beeindruckend sind auch die "objektiven" Tendenzen, die sich auf die Europäische Zentralbank entladen, damit sie die Rolle des "Lender of last resort" übernimmt. Es handelt sich um "objektive" Tendenzen, da sie von einer politischen Intentionalität unabhängig sind, aber die Bedingungen für die Kämpfe auf europäischem Boden definieren. Sie bilden den Rahmen für die Kämpfe auf europäischer Ebene, die sich in vielen Teilen des Kontinents entwickeln werden.

Abschließend denke ich, dass der hier vorgeschlagene Standpunkt es uns erlaubt, die gegenwärtige Pandemie so zu betrachten, dass wir uns auf die Räume konzentrieren, die sich für Bewegungen, für soziale Kämpfe und für die Linke selbst öffnen. Wie bereits erwähnt unterschätze ich nicht die Frage der Kontrolle, der Erweiterung der staatlichen Befugnisse und der weiteren Förderung einer Politik der Angst. Diese Aspekte sind im aktuellen Szenario eindeutig vorhanden. Aber wie sollte man ihnen entgegenwirken? Um den gegenwärtigen Sinn des „italienischen Labors“ umzukehren, sollten wir die Sorge um das Gemeinsame als Ausgangspunkt betrachten. Darüber hinaus müssen wir in der gegenwärtigen Situation die Chancen ergreifen, die sich für eine allgemeinere Politik der Kämpfe in Zeiten einer Pandemie bieten.


https://www.medico.de/eine-politik-der-kaempfe-in-zeiten-der-pandemie-17674/?fbclid=IwAR2-wNyUEhUCKSZfqkKwLOoPKWxl_Bsa1CiJZV4XshyOZK_n0BMY41E6XDU