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01 2007

Der doppelte Sinn der Destitution

Stefan Nowotny

Was machen wir mit dem, was wir machten?[1] – Die praktische Selbstreflexivität dieser Frage nimmt einen besonderen Sinn an, wenn es sich bei dem „Getanen“, auf das sich der Satz bezieht, um einen Aufstand handelt, der als durchaus „erfolgreich“ betrachtet werden kann, jedoch nicht in dem Sinne, dass der „Erfolg“ dieses Aufstands in einer Übernahme der Macht bestanden hätte. Wäre Letzteres der Fall, so liefe die Frage wohl unvermeidlich auf einen eindeutigen Sinn hinaus: Ein „revolutionärer“ Einschnitt würde das, was es nun zu tun gilt, von jenem Tun absondern, das erst die Voraussetzungen für das gegenwärtig zu Tuende geschaffen hat; und dieser Einschnitt ließe, in mehr oder minder deutlicher Ausprägung, auf der einen Seite das vollzogene Aufstandshandeln als Gegenstand einer spezifischen Geschichtsschreibung erscheinen, während er auf der anderen Seite jenes Terrain freilegte, auf dem die aktuellen Aufgabenbereiche des Regierens erscheinen können (dessen Zwecksetzungen mit jenen des Aufstands freilich einen gewissen Einklang zu wahren hätten). Wie aber, wenn kein derartiger Einschnitt den doppelten Sinn des (vergangenen bzw. gegenwärtigen) Handelns präfigurierte? Wenn es nicht darum ginge, „sich eine Wahrheit über das Geschehene anzueignen“ – eine Wahrheit, die den beschriebenen Einschnitt zugleich voraussetzt und ins Werk setzt –, sondern darum, „die sich neu eröffnenden Handlungsperspektiven aus[zu]loten“ und das sich im Geschehenen artikulierende Werden „auszuarbeiten“?[2]

 
Destitution als Eröffnung: Aufstand und Absetzung

Blicken wir auf die politisch-soziale Situation, in der die eingangs wiedergegebene Frage, deren Formulierung ich einem Buch des in Buenos Aires tätigen Colectivo Situaciones entnehme, ebenso wie ihre vorläufig nur knapp umrissenen Implikationen ihre konkrete Verortung finden: Sie betrifft die insbesondere an den Tagen des 19. und 20. Dezember 2001 manifest werdenden argentinischen Aufstandsbewegungen, die sich auf dem Höhepunkt der durch die neoliberale Politik Carlos Menems sowie zuletzt durch das Ausbleiben internationaler Finanzhilfen herbeigeführten argentinischen Staats-, Wirtschafts- und Finanzkrise formierten, nachdem am 1. Dezember desselben Jahres unter anderem die privaten Sparguthaben eingefroren worden waren, um die Parität des argentinischen Peso mit dem US-Dollar zu schützen. Von einer Vielfalt sozialer AkteurInnen getragen, die vom argentinischen Mittelstand, der seinem Unmut über die Einfrierung der Sparguthaben weithin hörbar bei Cacerolazos („Kochtopfdemonstrationen“) Luft verschaffte, bis zu den Arbeitslosen verschiedener Piqueteros-Gruppen und ihrer spezifischen Aktionsformen (Straßenblockaden, kollektive Essen, Umzüge etc.) reichte, fanden die Bewegungen gemäß der Darstellung des Colectivo Situaciones, die hier von Interesse ist, ihren einigenden Punkt insbesondere in der Aufforderung ¡Que se vayan todos! („Alle sollen gehen!“). Einer Aufforderung, der zumindest in Form einer wahren Serie von Rücktritten der jeweils ins Amt eingesetzten Staatspräsidenten um den Jahreswechsel 2001/2002 ein gewisser Erfolg beschieden war.

Was mich hier vor allem interessiert, ist indes weniger eine detaillierte Auseinandersetzung mit den Ereignissen in Argentinien vom Dezember 2001[3] als vielmehr eine genaue Betrachtung des Motivs, das die militante Untersuchung Colectivo Situaciones in ihnen erblickt (und an dem sie teilnimmt): das Motiv der Destitution bzw. des absetzenden, destituierenden Aufstands. Die Besonderheit dieses Motivs in der Analyse des Colectivo Situaciones besteht zweifellos darin, dass es die Verknüpfung der destituierenden Bewegung mit jener spezifischen institutiven Geste auflöst, die die Absetzung oder Entmachtung der herrschenden politischen Kräfte von vornherein an den politischen Zweck einer Reinstituierung, einer erneuten Einsetzung und Besetzung der – wenn auch eventuell reformierten – Organe der Machtausübung im Sinne des Regierens bindet:

 „Die souveränen und schaffenden Kräfte entfachten einen Rebellion, mit der sie keine Macht einsetzenden Absichten verknüpften – wie es die politische Doktrin der Souveränität vorsieht –, sondern sie übten ihre die etablierten politischen Kräfte absetzende Macht aus. Dies ist wohl das Paradoxe der Tage des 19. und 20. Dezember. Eine Gesamtheit von instituierenden Kräften, die weit entfernt, eine neue souveräne Ordnung zu gründen, vielmehr die in ihrem Namen ausgeübten Politiken delegitimierte.“[4]

Auf den ersten Blick stellt sich diese Suspension des institutiven Zwecks als Innehalten an eben jenem Punkt dar, der den politischen horror vacui par excellence hervorrufen mag: das Zurückschrecken vor dem Vakuum politischer Macht sowie ihrer Recht und soziale Ordnung stiftenden Funktionen. Die politischen Effekte dieses horror vacui sind zahlreich: Sie reichen von den Legitimationsfiguren autoritärer, mitunter umstürzlerischer Ordnungsmacht über den Versuch, die Entstehung eines solchen Vakuums zu verhindern (Beschwörung des Gespensts der Unregierbarkeit, Abfederung sozialer Spannungen, Forcierung von Sicherheitsdoktrinen etc.), bis hin zu den in der Geschichte der linken politischen Theorie dominierenden Themen der möglichen (Neu‑)Füllung dieses Vakuums (revolutionäre Machtübernahme, Erneuerung der Rechtssysteme, institutionellen Apparate, Regierungstechniken etc.). Letztere führen zurück zu der eingangs besprochenen Sinnformierung der Frage „Was machen wir mit dem, was wir machten?“, die das „Vakuum“ nachträglich lediglich als „Einschnitt“ zu verstehen gibt – also zu jener Sinnformierung, die durch das Motiv der destituierenden Macht gerade unterlaufen wird.

Das Vakuum ist Vakuum jedoch nur, sofern es an den oben genannten Funktionen politischer Macht und der mit ihnen verknüpften Repräsentation politischer „Subjekte“ gemessen wird. Sich dem beschriebenen horror vacui in der Analyse der von der Reinstituierung entkoppelten Destitution anzuvertrauen würde daher bedeuten, die Frage des Politischen bzw. politischer Macht mit eben diesen Funktionen zu identifizieren, und zwar unter Ausblendung einer sozialen Positivität, die ich hier als politisches Erscheinen bezeichnen möchte. Genau um diese Frage des politischen Erscheinens ist es aber – vor allem unter dem Namen des „sozialen Protagonismus“ – dem Colectivo Situaciones zu tun:

 „Die Absetzung (destitución) ist ein Vorgang von größter Bedeutung: Wenn bisher die durch eine souveräne Macht durchgeführte Politik sich in der staatlichen Konstitution des Sozialen realisierte, scheint die absetzende Aktion eine andere Form zu sein, die Politik auszuüben bzw. der sozialen Transformation Ausdruck zu verleihen. Die Absetzung beinhaltet keine apolitische Haltung: Die Weigerung, eine repräsentative Politik (der Souveränität) aufrechtzuerhalten, stellt die Bedingung – und die Prämisse – eines ‚situationalen‘ Denkens sowie einer Gesamtheit von Praktiken dar, deren Sinnpotenziale nicht mehr vom Staat eingefordert werden können.“[5]

Die „Praxis der Absetzung, welche das Feld des Möglichen erweitert“, lässt sich daher „mit der Ausübung eines sozialen Protagonismus“ verknüpfen, „der sich nicht auf die Souveränität stiftenden Funktionen beschränkt“[6] und den angesprochenen Sinnpotenzialen abseits der Figuren staatlicher Repräsentation Ausdruck verschafft. Unter dieser Perspektive lassen sich, wie die Untersuchung des Colectivo Situaciones zeigt, nicht nur Demonstrationen, Stadtteilversammlungen, Tauschpraxen oder neue politische Organisationsformen analysieren, sondern beispielsweise auch Plünderungen, die sich – sofern man einmal die mit dem oben beschriebenen horror vacui verbundene Betrachtungsweise zu verlassen bereit ist, die die schiere Tatsache von Plünderungen ausschließlich als (letztlich abstrakten) Beleg für den in Abwesenheit staatlicher Ordnungsmacht ausbrechenden „Krieg aller gegen alle“ erscheinen lässt – als ambivalente, von Differenzen durchzogene und mit Gesten der Selbstbeschränkung verbundene soziale Handlungsnetze erweisen.[7]

Unter derselben Perspektive eines sozialen Protagonismus lassen sich aber auch politisch-soziale Kämpfe wie etwa jener der Sans-Papiers betrachten, der sich genau an einer zentralen Schnittstelle staatlicher politischer Repräsentation ansiedelt, nämlich jener der Koppelung politischer Bürgerschaft mit der Zugehörigkeit zu einem (National‑)Staat. Nicht nur wäre es ganz offensichtlich absurd, MigrantInnen ohne Papiere als „revolutionäres Subjekt“ jenes Typs zu verstehen, der auf irgendeine Form der Machtübernahme abzielt. Die Kämpfe der Sans-Papiers lassen sich auch nicht auf das Ringen um Einschluss in die bestehenden politischen Repräsentationsapparate reduzieren – es sei denn unter Ausblendung der strukturellen Schnittzone zwischen den (juridischen, ökonomischen etc.) Dispositiven des Nationalstaats und seiner supranationalen Ausdehnungen sowie den Dispositiven der neue Abhängigkeiten und Ausbeutungsformen hervorbringenden globalisierten Ökonomien und Politiken, in der diese Kämpfe angesiedelt sind und die durch sie zum Erscheinen gebracht wird. Die Destitution drückt sich hier in Praxen des „Unsichtbar-Werdens“ (angesichts staatlicher Kontrollmacht), die mit spezifischen Wissensproduktionen und sozialen Handlungsnetzen verknüpft sind, ebenso aus wie in neuen politischen Organisationsformen sowie der Affirmation einer neu gefassten politischen Situationalität[8].

Halten wir drei Momente des Begriffs und der Praxis der Destitution, wie sie uns hier vor Augen geführt wird, fest, die zugleich ein etwas deutlicheres Licht auf die Rede vom politischen Erscheinen werfen mögen:

1) Zunächst ist der Begriff der Destitution aus einem gewissen dialektischen Raster zu lösen, das sich auf den ersten Blick vielleicht aufdrängt: Es ist nicht die „Arbeit der Negativität“, die in der Destitution zentral am Werk ist, sondern ein „positives Nein“ (Colectivo Situaciones), das in der Zurückweisung einer bestimmten Figur der Repräsentation zugleich – und nicht erst durch die Übernahme oder verändernde Beeinflussung der institutionellen politischen Funktionen – eine „selbstverändernde“, neue Praxen und Subjektivierungsweisen hervorbringende Affirmation zeitigt, aus der das „Nein“ erst seine Kraft bezieht. Destitution ist, so verstanden, weder auf den Zweck einer Neueinsetzung von Machtfülle bezogene Absetzung noch einfach Ablehnung im Sinn einer Desinvolvierung, sondern verweist zuallererst auf eine soziale Praxis.

Das Motiv ist nicht gänzlich neu, auch wenn es in den beschriebenen Zusammenhängen zu einer neuen Aktualität gelangt. Es gehört zu den zentralen Motiven in Walter Benjamins Aufsatz „Zur Kritik der Gewalt“ aus dem Jahr 1921, und zwar in Gestalt der Frage nach der Positivität des Streiks – genauer: der Benjamin’schen Lesart des „proletarischen Generalstreiks“ im Unterschied zum „politischen Generalstreik“, der lediglich die Durchsetzung von Zwecken betreibe, die der Arbeit wie auch dem eigenen Handeln äußerlich sind, und daher keine Transformation von Arbeit und Handeln selbst bewirke. Der proletarische Generalstreik dagegen entziehe sich, so Benjamin, dem „dialektische[n] Auf und Ab“ in den historisch-politischen, sich über Rechtsetzung und Rechtserhaltung fortschreibenden „Gestaltungen der Gewalt“, indem er einem „Umsturz“ gleichkomme, „den diese Art des Streiks nicht sowohl veranlasst als vielmehr vollzieht“[9]. Die hier beschriebene Handlungslogik ist die einer Ent‑setzung, die nicht von vornherein auf eine performative Neusetzung oder Neueinsetzung modifizierter Rahmenbedingungen des Handelns bezogen ist, sondern auf die Eröffnung eines Felds von sich verändernden Handlungsmöglichkeiten.[10]

2) Bei all dem ist jedoch ein Missverständnis zu vermeiden, das häufig in sozialromantischer Gestalt auftritt, jedenfalls aber in einer bestimmten – oft spinozistisch gefärbten – Spielart metaphysisch-naturrechtstheoretischer Konzeptionen gründet: das Missverständnis, dass die beschriebene Affirmation in sich bereits notwendig emanzipatorisch sei. Das zitierte Buch des Colectivo Situaciones ist selbst nicht gänzlich frei davon, dennoch liefert es deutliche Belege für die Probleme, die mit einer solchen Perspektive verbunden sind:

 „Zunächst in den Stadtvierteln von Buenos Aires, dann auf der Plaza de Mayo waren die verschiedensten Parolen zu hören. ‚Wer nicht mithüpft, ist ein Engländer.‘ – ‚Wer nicht mithüpft, ist ein Militär.‘ Oder: ‚Vaterlandsverräter an die Wand.‘ ‚Cavallo – du bist ein Schwein.‘ – ‚Argentinien, Argentinien.‘ Und am häufigsten wurde am 19. Dezember geschrieen: ‚Den Ausnahmezustand könnt ihr euch sonst wohin stecken.‘ Und später das erste ‚Que se vayan todos.‘ Das Potpourri der Demosprüche ließ in der Gegenwart die Kämpfe der Vergangenheit neu aufscheinen.“[11]

Und mit diesen Kämpfen der Vergangenheit scheinen, wie unschwer zu erkennen ist, auch beispielsweise die Nationalismen und Chauvinismen der Vergangenheit neu auf. Nicht nur steht gerade die Unbestimmtheit der Affirmation in der destituierenden Bewegung, als „kollektive Bestätigung des Möglichen“[12], ganz unterschiedlichen Kodierungen offen, sie findet sich auch getragen von Ambivalenzen und historisch-politischen Affektstrukturierungen, die keineswegs per se emanzipatorisch und reine kämpferische Gegenwart sind (so wenig sie im Übrigen, wie es die andere – sagen wir der Kürze halber: Hobbes’sche – Spielart naturrechtstheoretischer Imaginarien will, pures gewalttätiges Chaos hervorrufen); sie sind vielmehr von Reaktualisierungen politischer und wohl auch persönlicher „Kämpfe der Vergangenheit“ durchzogen, die dem, was möglich ist, eine vorformierte Wirklichkeit sowie im Wortsinn re‑aktionäre Bahnungen unterlegen.

3) Umso wichtiger scheint es, der Differenz Aufmerksamkeit zu schenken, die die oben zitierten Texte in eine Reihe von politischen Begriffen selbst einführen: Sie sprechen von „souveränen und schaffenden Kräften“, die aber keine „neue souveräne Ordnung“ begründen wollen, von „instituierenden Kräften“, die aber mit keinen „einsetzenden Absichten“ verknüpft sind. Wir können uns über diese in der Terminologie aufscheinende Differenz sicherlich ausgehend von der in der gegenwärtigen politischen Theorie oft zitierten Differenz zwischen potentia und potestas verständigen. Im Folgenden sei aber die Frage der Institution bzw. der Instituierung in den Vordergrund gestellt, deren Virulenz in einem offensichtlichen Zusammenhang mit jenem Motiv steht, von dem hier ausgegangen wurde: dem Motiv der Destitution sowie deren Bezug zu einer Erweiterung des „Felds des Möglichen“.

 
Destitution als Vernichtung: Subjektbedingung, Subjektivierung und die Frage der instituierenden Tätigkeit

Betrachten wir zunächst eine Bedeutung des Begriffs der Destitution, die der bisher besprochenen genau entgegengesetzt zu sein scheint. Giorgio Agamben entwirft im letzten Abschnitt seines Buches Was von Auschwitz bleibt eine Interpretation der Modalitäten von Möglichkeit (sein können), Kontingenz (nicht-sein können), Unmöglichkeit (nicht [sein können]) und Notwendigkeit (nicht [nicht-sein können]), die diese Modalitäten aus ihrer klassischen Verankerung in Logik und Ontologie löst und auf eine Theorie der Subjektivität bezieht. Die ersten beiden – Möglichkeit und Kontingenz – liest Agamben als „Operatoren der Subjektivierung“. Dagegen seien „[d]ie Unmöglichkeit als Negation der Möglichkeit […] und die Notwendigkeit als Negation der Kontingenz […] die Operatoren der Entsubjektivierung, der Destruktion und Destitution des Subjekts“[13]. Destitution meint hier – als Begriff, den Agamben von Primo Levi übernimmt, der von der Erfahrung der „extremen Destitution“ (destituzione estrema) in den nazistischen Konzentrations- und Vernichtungslagern sprach – alles andere als eine absetzende Macht; sie bezeichnet vielmehr eine Ohnmacht, die nicht einfach Abwesenheit jeglichen Vermögens ist, sondern Erfahrung der vernichtenden Abspaltung des Subjekts von seinen Vollzugskapazitäten, Erfahrung der Entsubjektivierung, die bis an die Grenze des Erfahrungsvermögens reicht:

 „[Möglichkeit und Kontingenz] konstituieren das Sein in seiner Subjektivität, also letztlich als eine Welt, die immer meine Welt ist, weil in ihr die Möglichkeit existiert und das Wirkliche berührt (contingit). Notwendigkeit und Unmöglichkeit definieren hingegen das Sein in seiner Gesamtheit und Kompaktheit: reine Substantialität ohne Subjekt – im Grenzfall also eine Welt, die niemals meine Welt ist, weil in ihr die Möglichkeit nicht existiert.“[14]

Kaum nötig, zu sagen, dass eine Welt, die nur meine Welt ist, insofern in ihr die Möglichkeit existiert, auch die einzige Welt ist, die der Veränderung offen steht, also eine Welt, in der „eine andere Welt“ möglich ist. Eine Welt, die aber auch in der prinzipiellen Gefahr steht, als „reine Substantialität“ eingerichtet zu werden, die jede Möglichkeit vernichtet.

Agambens Überlegungen betreiben keineswegs die Wiederherstellung klassisch subjekttheoretischer Konzeptionen. Sie versuchen sich vielmehr – vom Extrem ihrer Vernichtung her – an einem Denken der lebendigen Subjektivität, die nur ein anderer Name ist für ein historisch-politisch situiertes Vermögen der Subjektivierung, ein „von den […] historisch determinierten Strömen der Potenz und Impotenz, des Nichtsein-Könnens und Nicht-Nichtsein-Könnens durchflossene[s] Kraftfeld“[15]. Dieses Subjektivierungsvermögen ist der Bedingung einer grundlegenden Passivität ausgesetzt, in der seine spezifischen Möglichkeiten sowie die Kapazität der Erweiterung dieser Möglichkeiten gründen, in der aber auch seine Beschlagnahme, seine Verletzung, seine grenzenlose Zerstörbarkeit[16] ihren Ort hat. An eben diesem Punkt findet mithin auch jene Theorie der Zeugenschaft ihre Verortung, die Agamben im Zusammenhang mit den zitierten Passagen sowie ausgehend von einer spezifischen Interpretation des Problems der linguistischen Referenz als sprachlich aktualisierte Kontingenz und Berührung des Wirklichen entwickelt. Eine detailliertere Diskussion dieser Theorie ist hier nicht möglich; ich beschränke mich daher auf den Hinweis auf den Zusammenhang zwischen der Möglichkeit der Zeugenschaft und jener des Widerstands, der in ihr stillschweigend auf dem Spiel steht.[17]

Für die hier angestellten Überlegungen entscheidend ist indessen, dass der Begriff der Destitution, der zuvor, als destituierende Macht, als Name für ein Vermögen der – Mögliches freisetzenden – Subjektivierung erschienen war, nun auf eine Subjektbedingung verweist, die jegliches Vermögen der Subjektivierung nicht nur der Verneinung oder der „entfremdenden“ Repräsentation aussetzt, sondern dem Extrem ihrer systematischen Vernichtung. Tatsächlich bezieht sich Agambens Analyse auch nicht einfach auf das Gegenüber einer „repräsentativen Politik“ in einem zwar situationalen, aber doch in vielerlei Hinsicht verallgemeinerungsfähigen Sinn, sondern auf den institutionellen Apparat einer industrialisierten, auf die von ihr Verfolgten unmittelbar zugreifenden Vernichtungspolitik, die sich jeder Verallgemeinerung entzieht. Einer Politik, die nichtsdestotrotz zweifellos ihre eigenen – allen voran antisemitischen – Repräsentationsfiguren mobilisierte und ihr Vernichtungswerk niemals unabhängig von Strategien der symbolischen Vernichtung vollzog. Destitution meint in der Erfahrung der nazistischen Lager, mit einem Wort Adornos, „Schlimmeres als den Tod“[18], nämlich die Desintegration subjektiver Existenz unter Aufbietung aller institutionellen Macht.

Das Situationale entscheidet jedoch zuletzt gar nicht am Verallgemeinerungsfähigen, sondern am „Allgemeingültigen“ in einem anderen Sinn: an dem nämlich, was in jeder Situation aktualisierbar ist oder aber seiner Aktualisierungsmöglichkeiten beraubt wird.[19] Das Problem, vor das uns Agambens Analyse stellt, ist daher letztlich jenes der Verschränkung des doppelten Sinns der „Institution“ (als Funktiv der die Spielräume des Möglichen einrichtenden, regulierenden, beschränkenden, verwaltenden – und noch im Vernichtungswillen verwaltenden – politischen Repräsentation einerseits sowie als instituierende Praxis andererseits) mit dem doppelten Sinn der „Destitution“ (als Freisetzung eines „Felds des Möglichen“ sowie als Vernichtung der – stets kontingenten – Möglichkeit von Subjektivierung als solcher). Institution und Destitution stehen auch in diesem Sinn keineswegs im Verhältnis einer dialektischen Opposition, jener Opposition etwa, die den Aufstand seit langem als unlösbares Problem der politisch-juridischen Theorie erscheinen lassen.[20] Viel eher wäre von einem Verhältnis der komplexen Implikation auszugehen, welches das Feld der politischen Kämpfe aufspannt und, um auf unser Ausgangsthema zurückzukommen, ein instituierendes Moment, das nicht Zweck ist, inmitten des destitutierenden Aufstands aufscheinen lässt.

Der Destitution als „destituierender Macht“ wären daher, der scheinbaren begrifflichen Opposition zum Trotz, die Umrisse einer instituierenden Tätigkeit zu entnehmen, die in einer emanzipatorischen Differenz zu den das Feld des Möglichen beschränkenden institutionellen Apparaten steht und die im Übrigen unter den – hier weitgehend ausgesparten –Begrifflichkeiten der „Konstitution“ vielleicht gar nicht zu fassen ist. Die Rede von den „instituierenden Kräften“ (Colectivo Situaciones) ist in diesem Sinn nicht voreilig als Beispiel für eine „neue Konstituierung der Multitude“[21] zu sehen, sondern beim Wort zu nehmen. Möglicherweise hat das oft beklagte Elend der politischen (und nicht nur der unmittelbar politischen) Institutionen gerade darin seinen Grund, dass die Funktion der Institutionen zuallermeist in Abhängigkeit von einer Konstitution im Sinne einer vorgängigen Zusammensetzung betrachtet wurde. Und möglicherweise ist dies auch der Grund, warum die Entgegensetzung von konstituierender und konstituierter Macht, die die Vorgängigkeit der Zusammensetzung zweifellos zu unterlaufen versucht, ein praktisches Paradox (jenes der permanent „konstituierenden Republik“) hinterlässt[22], das für ein neues Verständnis der Institution bzw. des Instituierenden wenig Spielraum lässt. An diesem Punkt könnte man sich aber gerade an einer Neukonzeption des Instituierenden versuchen, das die Kritik am Institutionellen und die oben beschriebene Macht der Destitution keineswegs ignoriert, sondern vor ihrem Hintergrund eine Positivität der instituierenden Tätigkeit in den Blick nimmt.

Maurice Merleau-Ponty hat in seinen 1954/55 gehaltenen, der Frage der Instituierung/Institution gewidmeten Vorlesungen am Collège de France den Begriff der Institution nicht in einen hierarchisch-funktionellen Zusammenhang zu jenem der Konstitution gestellt, sondern in Opposition zu ihm gebracht. Merleau-Pontys Überlegungen gehen von einer Kritik der Bewusstseinsphilosophie aus, die der Sprache, in die diese Überlegungen gefasst sind, eingeschrieben bleibt; dennoch lassen sie sich ganz im Sinne des oben skizzierten Denkens der Subjektivierungsvermögen lesen und zielen nicht zuletzt explizit auf ein Denken der Subjektivität in ihrer politisch-sozialen Geschichtlichkeit:

 „Ist das Subjekt aber instituierend, nicht konstitutierend, dann kann man verstehen, dass es sich nicht auf sein augenblickliches Sein beschränkt und der Andere nicht das Negative meiner selbst ist. Was ich an bestimmten entscheidenden Zeitpunkten begonnen habe, liegt weder als objektive Erinnerung in einer weiten Vergangenheit noch ist es aktuell als erlebte Erinnerung – vielmehr befindet es sich in diesem Zwischenreich [l’entre-deux] wie das Feld meines Werdens während dieser Zeitspanne. Meine Beziehung zum Anderen würde sich damit nicht auf eine Alternative reduzieren lassen: Ein instituierendes Subjekt kann mit einem Anderen koexistieren, weil das Instituierte nicht die unmittelbare Spiegelung seiner Aktivitäten darstellt. Dieses kann nachträglich durch sich selbst oder durch Andere wieder aufgenommen werden, ohne dass es hierbei um eine totale Neuschaffung geht. Dadurch steht es als Angelpunkt einerseits zwischen den Anderen und mir, andererseits zwischen mir und meinem Selbst, als Folge und Gewähr unserer Zugehörigkeit zur Welt.“[23]

Es ist ein solches gemeinsames Feld des Werdens, so scheint es, um das es – in die Sprache des Politischen übersetzt – in der eingangs zitierten Frage „Was machen wir mit dem, was wir machten?“ geht, auf dessen Eröffnung die Macht der Destitution zielt und dessen Sinnpotenziale von den Figuren der bestehenden institutionellen Strukturen nicht eingelöst werden können. Es mag in Ereignissen wie jenen des 19. und 20. Dezember 2001 sichtbar werden, und doch existiert es nicht unabhängig von einer instituierenden Tätigkeit, die in diesen Ereignissen nicht aufgeht und mit ihnen nicht zu Ende geht.



[1] Colectivo Situaciones, ¡Que se vayan todos! Krise und Widerstand in Argentinien, Berlin: Assoziation A 2003, S. 34 (Titel der argentinischen Originalausgabe: Colectivo Situaciones: Apuntes para el nuevo protagonismo social, Buenos Aires: Ediciones De Mano en mano 2002).

[2] Vgl. ebd.

[3] Vgl. dazu neben dem bereits zitierten Buch des Colectivo Situaciones u. a.: Hugo Moreno, Le désastre argentin. Péronisme, politique et violence sociale (1930–2001), Paris: Editions Syllepse 2005, S. 177–200, sowie die retrospektiven Analysen in Argentiniens (Post-)Krise: Symbole und Mythen, kultuRRevolution, Nr. 51, 1/2006.

[4] Colectivo Situaciones, ¡Que se vayan todos!, op. cit., S. 35.

[5] Ebd., S. 36.

[6] Vgl. ebd.

[7] So erzählt eine Mutter, deren Sohn sich mit einigen anderen Leuten an der Plünderung eines Fleischerladens beteiligte: „Mein Sohn berichtete, dass einige von ihnen sich dort zuerst über die Registrierkasse hermachten. Er warf deshalb die Kasse auf den Boden, damit die anderen nicht an das Geld kamen, sondern sich nur die Lebensmittel griffen, die sie brauchten. Da fing ein Streit an und mein Sohn ging weg. Doch vorher nahm er noch Essen für uns alle mit und brachte auch einen Käse“ (zit. ebd., S. 107).

[8] Vgl. die Affirmation des „Lokalen“ als verdichtete Spiegelung des Globalen gegen Ende der „Déclaration de l’Ambassade Universelle“, des Gründungsdokuments der Brüsseler Universal Embassy (www.universal-embassy.be; die Deklaration steht derzeit leider nicht online [9. 1. 2007]).

[9] Vgl. Walter Benjamin, „Zur Kritik der Gewalt“, in: Gesammelte Schriften, Bd. II.1, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991, S. 179–203, hier S. 202 u. 194; Benjamin bezieht die Begriffe des proletarischen bzw. politischen Generalstreiks aus Georges Sorels Réflexions sur la violence (1908).

[10] Vgl. dazu Werner Hamacher, „Afformativ, Streik“, in: Ch. L. Hart Nibbrig (Hg.), Was heißt „Darstellen“?, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1994, S. 340–371, bes. S. 360.

[11] Colectivo Situaciones, op. cit., S. 27 f.

[12] Ebd., S. 28.

[13] Giorgio Agamben, Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003, S. 128 (Übers. mod.; die deutsche Übersetzung gibt den italienischen Originalbegriff destituzione mit „Entmachtung“ wieder).

[14] Ebd.

[15] Ebd.

[16] Vgl. Maurice Blanchot, „L’indestructible“, in: L’entretien infini, Paris: Gallimard 1969, bes. S. 200, sowie Sarah Kofman, Paroles suffoquées, Paris: Galilée 1987. – Zugleich steht Agambens Denken auf theoretischer Ebene in einem permanenten Gespräch mit jenem „gewissen Vitalismus“ poststrukturalistischer Theoriebildungen beispielsweise Foucault’scher oder Deleuze’scher Prägung steht, der jegliche Substantialisierung des „Lebens“ zurückweist, um in diesem Begriff nichtsdestoweniger die Chiffre immanenter Subjektivierungsprozesse (Selbstaffektion: „Selbst“-Aktualisierung und „Selbst“-Effektuierung) zu sehen.

[17] Ein Zusammenhang, der sich bereits in Ferdinand Bruckners Drama Die Rassen (in: F. Bruckner, Dramen, Wien/Köln: Böhlau 1990, S. 345–443) aus dem Jahr 1933 vorformuliert findet: „Helene Es ist unser einziger armseliger Widerstand, – / Karlanner (nickt) Du kämpfst. / Helene – dass nichts vertuscht wird, dass alle Zeugnisse erhalten bleiben“ (S. 418). Die volle Tragweite dieser Verknüpfung, die nach Auschwitz einen Bruch im Verständnis von Zeugenschaft herausfordert, war selbst 1933 noch kaum abzusehen.

[18] Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1975, S. 364.

[19] Vgl. dazu die Unterscheidung zwischen der von der Situationalität abstrahierenden Voraussetzung einer „Verallgemeinerungsfähigkeit“ von (gerechten) Zwecken durch das Recht und der situationsspezifischen „Allgemeingültigkeit“ als Kriterium der Gerechtigkeit bei Walter Benjamin (op. cit., S. 196); die Unterscheidung wäre übrigens von all jenen zu beachten, die Agamben – in teils kritischer Absicht, teils unkritischer Anknüpfung – unterstellen, er erkläre die ganze gegenwärtige Welt zum nazistischen Lager.

[20] Vgl. dazu meine Überlegungen insbesondere zu Kant Verurteilung des Aufruhrs in „La condition du devenir-public“, transversal web journal, http://eipcp.net/transversal/1203/nowotny/fr (9. 1. 2007), sowie Agambens Ausführungen zur Frage eines „Rechts auf Widerstand“ in Etat d’exception, Paris: Seuil 2003, S. 24 ff.

[21] So Toni Negri in einer Besprechung des zitierten Buches des Colectivo Situaciones, vgl. www.generation-online.org/t/sitcol.htm (9. 1. 2007).

[22] Vgl. Toni Negri, „Repubblica Costituente. Umrisse einer konstituierenden Macht“, in: T. Negri / M. Lazzarato / P. Virno, Umherschweifende Produzenten. Immaterielle Arbeit und Subversion, Berlin: ID Verlag 1998, S. 67–82, bes. S. 80.

[23] Maurice Merleau-Ponty, „Die ‚Institution‘ in der personalen und öffentlichen Geschichte“, in: Vorlesungen I, Berlin: de Gruyter 1973, S. 74–77, hier: S. 74; für die vollständigen Vorlesungsunterlagen vgl. M. Merleau-Ponty, L’institution. La passivité. Notes de cours au Collège de France (1954/55), Paris: Belin 2003.