Cookies disclaimer

Our site saves small pieces of text information (cookies) on your device in order to keep sessions open and for statistical purposes. These statistics aren't shared with any third-party company. You can disable the usage of cookies by changing the settings of your browser. By browsing our website without changing the browser settings you grant us permission to store that information on your device.

I agree

01 2013

Die Sprachen der „Banlieues“

Birgit Mennel / Stefan Nowotny

93

91, 92, 93, 94. – In den Jahren vor der Entstehung eines unabhängigen Staates Algerien standen diese Zahlen für die französischen Departements Alger, Oran, Constantine und Territoires du Sud in einem Gebiet, das seit 1830 fortschreitend kolonisiert worden war und das, anders als die meisten anderen Kolonien, als integraler Teil Frankreichs galt. Eine 1968 durchgeführte Verwaltungsreform ordnete die 1962 „frei“ gewordenen Zahlen verschiedenen Departements im Großraum Paris zu: Die Ordnungszahl 91 bezeichnet seither das Departement Essonne im etwas entfernteren Süden der Pariser Agglomeration und ist Teil der sogenannten grande couronne („großen Krone“) von Paris, also jenes weiteren Gürtels von Gemeinden, die den metropolitanen Ballungsraum nach außen hin definieren. Aus den Nummern 92, 93 und 94 setzt sich andererseits die petite couronne („kleine Krone“) zusammen, mithin jener engere Ring von „Banlieues“, der sich um das unmittelbare Stadtgebiet legt. 92, 93, 94, das sind heute: Hauts-de-Seine (92), das sich von Norden bis Süden an den Westen der Hauptstadt anschmiegt, Seine-Saint-Denis (93) im Norden und Nordosten sowie Val-de-Marne (94) im Süden und Südosten.

Allzu voreilige Schlüsse sollten aus der Verknüpfung von französisch-algerischer Kolonialgeschichte und gegenwärtigen Pariser Banlieues, die wir damit nahelegen, nicht gezogen werden. Und zwar nicht nur deshalb nicht, weil den Zahlenspielen von Verwaltungsreformen, für sich besehen, wenig Beweiskraft zukommt. Vielmehr hat selbst die vorrevolutionäre „Krone“ Frankreichs längst in der „Banlieue“ ihren Ort gefunden: So ist Versailles, dessen Schloss im 17. und 18. Jahrhundert absolutistische Könige beherbergte und mittlerweile UNESCO-Weltkulturerbe ist, als Gemeinde heute Teil des Departements Yvelines in der Pariser grande couronne. Und in Hauts-de-Seine (92), in der petite couronne, befindet sich mit Neuilly-sur-Seine nicht nur eine der reichsten Gemeinden Frankreichs, der als Bürgermeister von 1983 bis 2002 übrigens der spätere Staatspräsident Nicolas Sarkozy vorstand; hier ist auch das megalomanisch angelegte Hochhaus-Geschäftsviertel La Défense angesiedelt, das sich über mehrere „Banlieue“-Gemeinden (darunter Nanterre, einst Ausgangspunkt der Pariser 68er-Bewegung) erstreckt und die Machtvertikalen von Banken und Versicherungsunternehmen in architektonisch triumphierender Geste zur Schau stellt.[1]

Und doch ist der Signifikant „Banlieue“ anders und eindeutiger kodiert. Seiner technischen, vermeintlich neutralen Bedeutung als „Vorstadt“ stehen nicht nur Etymologie und Wortgeschichte gegenüber, sondern auch die Wert- und Bedeutungsakzentuierungen, die ihm gegenwärtige Diskurse verleihen.

„Banlieue“, das ist etymologisch zunächst die „Bannmeile“, lieue de ban (von lat. bannum leucae – wobei die Längenmaßeinheit leuca/leuga, fr. lieue, dt. „Leuge“, historisch variable Distanzen bezeichnen konnte). So wurde in feudalen Zeiten jener außerstädtische, aber die Städte umgebende und mit dem Stadtleben kommunizierende Bereich genannt, der noch der städtischen Gerichtsbarkeit unterworfen war, damit ökonomisch und sozial unliebsame Aktivitäten in ihm unterbunden werden konnten. Und es verdient durchaus Erwähnung, dass die heutige Verwendung dieses Ausdrucks sprachgeschichtlich nicht alternativlos ist: sie hat sich aber gegenüber dem konkurrierenden Wort faubourgs (von foris burgum, „außerhalb der Burg“) als Bezeichnung für eine bestimmte Art von „Vorstädten“ weitgehend durchgesetzt.

Wo in Frankreich heute von „Banlieues“ die Rede ist, da geht es jedenfalls meist um sogenannte zones sensibles, um periurbane „soziale Brennpunkte“, die von hoher Arbeitslosigkeit, perspektivlosen Jugendlichen, Gewalt, Delinquenz und verfemten Schattenwirtschaften wie etwa dem Drogenhandel geprägt sind. In den Sozialwissenschaften gibt es prominente Versuche, diese „Zonen“ in unterschiedlich akzentuierter Abgrenzung von US-amerikanischen Ghettos als Milieus einer „fortgeschrittenen Marginalität“ (Loïc Waquant) oder auch einer noch nicht gänzlich „ausschließenden“ sozialen „Entkoppelung“ (Robert Castel) zu verstehen.[2] Im Blockbuster-Stil gedrehte französische Filme wie Banlieue 13 und sein Nachfolger Banlieue 13: Ultimatum[3] bringen hingegen überspitzt auf den Punkt, worauf sich viele der vorherrschenden Imaginarien zusammenziehen. Sie zeigen eine von Gangs beherrschte Welt, die von Paris durch eine kaum überwindbare Mauer abgeschottet ist. Und selbst wenn die Brutalität dieser Gangs in den erwähnten Filmen durch diejenige der politischen Eliten auf der anderen Seite der Mauer letztlich noch überboten wird, so handelt es sich doch um eine zunächst verwahrloste Welt: eine Welt, die nicht „weiß“ ist, sondern sich in einem gewissermaßen tribal angeordneten Spektrum „anderer“ Farben und tätowierter „weißer“ Körper ausdifferenziert; und eine Welt, die ihre Fratze der Gewalt allein im gerechten Kampf gegen ihre Unterdrücker ablegen kann, um, durch diesen Kampf geläutert, endlich ein „menschliches“, soziales, solidarisches Antlitz anzunehmen.[4]

Als Vorbild für die „Banlieue 13“ dieser Filme lässt sich übrigens unschwer „93“ identifizieren, denn die reguläre französische Aussprache von „93“ lautet quatre-vingt-treize und stellt die „13“ (treize) an ihr betontes Ende. Und in der Tat kommt Seine-Saint-Denis, also „93“, oft die Rolle der „Banlieue“ par excellence zu. Das betrifft nicht nur den Umstand, dass „93“ unter den Departements der Pariser petite couronne den Ruf hat, gewissermaßen eine einzige zone sensible zu sein. Von hier gingen auch die – sich schnell auf Banlieues in weiten Teilen Frankreichs ausweitenden – Banlieue-Unruhen im Herbst 2005 aus, nachdem zwei Jugendliche auf der Flucht vor der Polizei in einem Umspannwerk in Clichy-sous-Bois tödliche Stromschläge erlitten hatten.

Quatre-Chemins

Unsere eigene Begegnung mit „93“ verdankt sich einer Kooperation des eipcp-Projekts „Europe as a Translational Space. The Politics of Heterolinguality“ mit den Laboratoires d’Aubervilliers[5], die uns im Laufe des Jahres 2011 eine Reihe von längeren, über insgesamt zwei Monate erstreckten Aufenthalten in Aubervilliers ermöglichten. Ein wichtiger Teil dieser Aufenthalte war der Vorbereitung und schließlich Durchführung einer Workshop- und Veranstaltungswoche gewidmet, die im September 2011 in den Laboratoires stattfand (die Autor_innen und Interviewpartner_innen der hier veröffentlichten Texte sind die Teilnehmer_innen des Workshops sowie zum Teil Mitorganisator_innen und wichtige Akteur_innen von Teilen der Veranstaltungswoche).[6]

Quatre-Chemins ist der Name des Ortes, an dem wir in Aubervilliers ankamen. Name einer Station der Linie 7 der Pariser Métro, welche das Zentrum von Paris mit Aubervilliers verbindet, Name zugleich einer großen Straßenkreuzung sowie des sie umgebenden Viertels unweit der Grenze zwischen „Banlieue“ und „Stadt“. Wobei die „vier Wege“ (quatre chemins), die an dieser Kreuzung zusammen- oder jedenfalls auseinanderlaufen, auf der einen Achse nach Paris bzw. in umgekehrter Richtung nach La Courneuve führen (Ort eines der prototypischen Banlieue-Wohnkomplexe, nämlich der cité des 4000, benannt nach den 4000 Wohnungen, die in dem Komplex untergebracht sind); auf der anderen Achse, gewissermaßen den inneren Banlieue-Gürtel entlang, ins unmittelbar angrenzende Pantin bzw. umgekehrt zunächst ins Zentrum von Aubervilliers und dann weiter nach Saint-Denis.

Eines des ersten Dinge, die uns nach unserer Ankunft erzählt wurden, ist, dass in Aubervilliers (einer Stadt mit kaum 80.000 Einwohner_innen) eine schier unglaubliche Vielzahl von „Nationalitäten“ zusammenlebt, und Quatre-Chemins ist ein Ort, der einer solchen Auskunft durchaus Plausibilität verleihen könnte. Dennoch waren wir an anderen Vielheiten interessiert als solchen, die nach „Nationalitäten“ oder Ähnlichem gerastert und gezählt werden könnten: Vielheiten, die Subjektivitäten und Sozialitäten durchqueren, anstatt sie zu taxieren und einzufassen, Vielheiten, die nichtsdestotrotz zugleich von Bruchlinien durchzogen sind und diese dennoch permanent zu überschreiten oder zu „reparieren“ versuchen. In einer solchen Perspektive erscheint ein Ort wie Quatre-Chemins zuallererst als eine Art vibrierendes Kräftefeld, in dem sich unterschiedlichste Sozialitäten, Ökonomien, Affektivitäten, Farben und Klänge (oder vielmehr Farb- und Klangtönungen) und nicht zuletzt „Sprachen“ (oder vielmehr Sprechweisen) ineinanderschlingen: sie laufen ineinander über oder heben sich voneinander ab, aber so, dass nie sicher ist, ob die Eindrücke des Ineinander-Überlaufens oder Sich-voneinander-Abhebens nicht mehr der eigenen Wahrnehmung als dem Wahrgenommenen zuzuschreiben sind.

Es gibt andere Phänomene, an denen Unterschiede deutlicher werden – aber diesmal eben als Bruchlinien, die nicht Manifestationen von unsicheren Abhebungen, sondern Effekte von gezielten Maßnahmen sind: So z. B. wenn Cafés und Bars in der „Banlieue“ um Mitternacht schließen müssen, während die behördlich festgelegte Sperrstunde in Paris erst um zwei Uhr nachts ist. Oder wenn die alte Bausubstanz, die Aubervilliers in vielen Teilen prägt, an bestimmten Orten jäh abreißt oder sich in Abbruchhäusern und Baugruben verliert, um nach einem Stück urbanen Niemandslands den Raum für Hochhauskomplexe freizugeben, die hoch in den Himmel ragen und zugleich eine maximale Anzahl an Wohneinheiten in sich einschließen. Oder auch (denn Aubervilliers gehört zur „stadtnahen“ Banlieue von Paris) wenn während der Zeit unserer Aufenthalte eine riesige Shopping Mall in Aubervilliers eröffnet wurde, ein Uni-Campus im Entstehen ist und eine zweite Linie der Pariser Métro bald entsprechend verlängert wird – während der Transport zwischen weniger „angebundenen“ Banlieue-Gemeinden (wie etwa dem oben erwähnten Clichy-sous-Bois) und Paris oft mehr Zeit in Anspruch nimmt als der zwischen Paris und Brüssel.

Wir können diesen Bruchlinien hier nicht im Einzelnen nachspüren, und noch weniger den nicht-zählbaren Vielheiten, denen unser Interesse von Anfang an galt. Wir können und sollten aber sagen, dass wir, als wir in Quatre-Chemins ankamen, eine Frage mitgebracht hatten. Diese Frage bezog sich auf Sprach- und Übersetzungsverhältnisse als Ausdruck sozialer Verhältnisse in den sogenannten Banlieues. Und diese Frage war so gestellt, dass sie ihrerseits eine Art „Kreuzung“ bildete: Die vier Wege, die in ihr zusammen- oder vielmehr auseinanderliefen, waren, auf der einen Achse, die von Monolingualität und Multilingualität, von Einsprachigkeit und Mehrsprachigkeit; auf der anderen, für uns wichtigeren, Achse hingegen die von Heterolingualität und Homolingualität oder genauer – mit Begriffen, die Naoki Sakai[7] geprägt hat – von heterolingualen Adressierungen und Regimen der homolingualen Adressierung.

Die Heterolingualität der Banlieues

Wir können Sakais Grundgedanken hier nur in aller Kürze umreißen: Das Phänomen der Übersetzung, das für Sakai zentral ist, lasse sich nur verstehen, wenn es von einer sozialen Relationalität her gedacht wird, der „Sprachen“ – im Sinne existierender Codes, auf die sich Sprechende mehr oder weniger gut verstehen können – nicht einfach vorgelagert sind. Anders gesagt, Übersetzung sei nicht einfach nur ein Transfer von Bedeutungen von einer „Ausgangssprache“ in eine „Zielsprache“, der dort notwendig und von Spezialist_innen bewerkstelligt werde, wo die Bedingungen der durch eine gemeinsame Sprache gewährleisteten „Kommunikation“ nicht gegeben sind. Sie gründe vielmehr in einer „heterolingualen Adressierung“, mithin in der Eröffnung eines sprachlichen Verhältnisses, das die „eine“ oder „andere“ bzw. die „vielen“ Sprachen durchkreuzt und in der jegliche Adressierung (Sich-Richten-an, Sich-Richten-auf) von einer virtuellen, differenziellen und gewissermaßen konfusen Sprachlichkeit ausgeht, die nie auf die Identität der einen oder anderen „Sprache“, der einen oder anderen „Sprachgemeinschaft“ oder der zwischen beiden „kommunizierten“ Bedeutungen reduziert werden kann. Erst eine bestimmte Repräsentation dieses Vorgangs und mit dieser Repräsentation verkoppelte Regime (der „homolingualen Adressierung“), die auf ihn einwirken, ihn modulieren und modellieren, lassen das Phänomen der Übersetzung als eine Art merkwürdiges Sekundärphänomen gegenüber den vermeintlich zuvor bereits bestehenden Einheiten von „Sprachen“, „Sprachgemeinschaften“ etc. erscheinen.

„Heterolingualität“ ist also der Name einer nicht-zählbaren Vielheit. Und erst sein begrifflicher Widerpart, „Homolingualität“, erlaubt es, Einheiten oder zählbare Vielheiten von „Sprachen“ festzustellen. Wir erinnern an Quatre-Chemins: Wer sich hier aufhält, mag sich wohl darin versuchen, die eine oder andere Sprache zu identifizieren, die Sprachen zu zählen, die an diesem Ort durcheinanderlaufen, oder die Leute danach zu taxieren, „wie viele“ Sprachen sie sprechen und mit wem. Aber selbst die Sprache, die sich am deutlichsten von allen anderen abhebt, Französisch, ist hier weit entfernt davon, eine mit sich selbst identische Einheit zu bilden; jeder Versuch, die vielen Sprachen zu zählen, kommt dem Versuch gleich, die vielen Leute zu zählen, die sich z. B. auf einer Party oder einer politischen Demonstration tummeln und deren Vielheit nicht notwendigerweise von ihrer Anzahl abhängt; und wer wollte schon, um im Bild zu bleiben, die buchstäblich zahl‑losen Beziehungsgeflechte ermessen, die einer Party oder Demonstration ihre je spezifische Qualität verleihen?

All dies aber brachten wir als Frage mit, als Vorschlag einer Perspektivierung, und wir werden auch hier keine These bezüglich der „Sprachen der Banlieues“ aufstellen. Jeder Vorschlag einer Perspektivierung verknüpft sich aber unausweichlich auch mit eigenen Perspektiven, mit spezifischen Situierungen des eigenen Interesses. Und diese Perspektiven bzw. Situierungen und Orientierungen unseres Interesses möchten wir hier an zwei Punkten offenlegen.

Der erste Punkt betrifft die Frage der politischen Artikulation bzw. konkret die Banlieue-Unruhen vom Herbst 2005 und eine Vielzahl von öffentlichen Reaktionen auf sie: Dass die politische Rechte, in Frankreich und darüber hinaus, diese Unruhen entweder auf blinde und ausdruckslose Gewalt zu reduzieren versuchte oder aber als Ausdruck eines ethnisch oder religiös begründeten „Hasses auf den Westen“, kann kaum überraschen. Seltsam ist aber, dass selbst viele Debatten in der Linken, vielleicht insbesondere außerhalb Frankreichs, in der reichlich abstrakten Alternative steckenzubleiben schienen, sich entweder irritiert von den protestierenden Jugendlichen abzuwenden oder aber gebannt auf etwas zu starren, was sie zwar nicht recht verstanden, was aber immerhin als widerständiges, ja potenziell revolutionäres politisches Subjekt in Frage kommen mochte. Die zweite Haltung entlarvt sich schnell als pure Projektion, die die „Wahrheit“ einer gegebenen politisch-sozialen Artikulation unterstellt, ohne sich mit der Artikulation selbst überhaupt auseinandersetzen zu wollen. Die Irritation der ersten Haltung hingegen hatte nicht allein – und vermutlich nicht vorrangig – damit zu tun, dass diese Artikulation dem Augenschein nach vor allem darin bestand, Autos anzuzünden und in einem (viel diskutierten) Fall auch eine Schule; sie hatte mehr noch damit zu tun, dass sich die Protestierenden nicht „organisierten“ – und dass sie ihre Artikulation nicht in Form von Manifesten oder Forderungskatalogen organisierten.

Wir kommen genau hier bereits zum zweiten Punkt. Denn überspitzt gesagt läuft eine solche Alternative darauf hinaus, dass die Artikulation des Protests entweder eine Bedeutung hat, die ihr vorgelagert ist (und folglich nur mehr, auf mehr oder weniger glückliche Weise, „expliziert“ werden muss); oder aber dass sie umgekehrt keine wirkliche Bedeutung (bzw. eine allenfalls suspekte Bedeutung) hat, solange sie die Form nicht einhält, die für die Produktion politisch-sozialer Bedeutungen vorgesehen ist. Mit der Artikulation selbst muss man sich im einen wie im anderen Fall dann gar nicht mehr beschäftigen. Und das ist umso merkwürdiger, als gerade die französischen „Banlieues“ durch einen außergewöhnlichen Reichtum von Artikulationen und „Sprachen“ bzw. Sprechweisen charakterisiert sind – der indessen, selbst abseits der Frage politischer Sprachen, so lange nicht wahrgenommen werden kann, solange diese Sprachen und Sprechweisen etwa unter den Generalverdacht gestellt werden, kein „richtiges“ Französisch zu sein, oder aber auf andere „richtige“ Sprachen reduziert werden (entlang der Achse Monolingualität/Multilingualität).

Das betrifft zum einen den Bereich des „Argot“ und besonders des „Verlan“, also jener u. a. durch Silbenverdrehung geschaffenen und permanent neuerfundenen Sprache, die sich zuerst in den Banlieues von Paris entwickelt hat. Wir beschränken uns auf ein einziges Beispiel: Das Wort babtou ist eine verbreitete Verlan-Variante des Wortes toubab, das seit der Kolonialzeit in Teilen Westafrikas als Bezeichnung für „Weiße“ bzw. „Europäer“ verwendet wird. Bereits diese Bestimmung der „Bedeutung“ von toubab ist allerdings vielleicht allzu voreilig. Immerhin berichtet z. B. Frantz Fanon in Schwarze Haut, weiße Masken davon, während seiner Militärzeit in der französischen Armee von einem Angehörigen der ebenfalls für Frankreich kämpfenden tirailleurs sénégalais selbst den toubabs zugerechnet worden zu sein, weil er als Antillaner ungeachtet seiner Hautfarbe in einem „weißen“ Regiment diente:

„Wir erinnern uns an einen Tag, als es mitten im Kampf darum ging, ein Maschinengewehrnest auszuheben. Dreimal wurden die Senegalesen vorgeschickt, dreimal wurden sie zurückgeschlagen. Dann fragte einer von ihnen, warum denn die toubabs nicht hingingen. In solchen Augenblicken weiß man nicht mehr, wer man ist, toubab oder Einheimischer [i. O.: indigène].“[8]

Und was die Verwendung von babtou im heutigen Frankreich angeht, ist es aufschlussreich, sich diverse Internetforen durchzulesen. Die Bedeutung „Weiße_r“ steht hier zwar außer Diskussion, aber die Frage, wer aller so genannt werden kann, in welchen Situationen und mit welchen Wertakzentuierungen, findet keine eindeutige Antwort: sie lässt sich nicht loslösen von komplexen Adressierungsverhältnissen. Babtou ist insofern gewissermaßen ein „heterolinguales“ Wort. Es ist ein Wort, das keiner kodifizierten Sprache wirklich angehört. Es kann nicht von der einen in die andere kodifizierte Sprache übersetzt werden – und zwar nicht nur deshalb nicht, weil in ihm eine spezifische und zugleich komplexe Geschichte niedergelegt ist, sondern vor allem auch weil es, vor aller Kodifizierung, selbst in permanenter Übersetzung begriffen ist.

Zum anderen aber ist vor allem in bestimmten Rap-Kontexten eine sehr deutliche und reichhaltige politische Sprache entstanden, der auch in Bezug auf die Ereignisse vom Herbst 2005 vieles von dem zu entnehmen ist, was manche an „öffentlicher Artikulation“ vermisst haben. In Abgrenzung von den nationalen Kodierungen eines rap français und zugleich von den Vermarktungsinteressen der Musikindustrien wird dieser Rap heute vielfach als rap de fils d’immigrés („Rap der Nachkommen von Immigrant_innen“) bezeichnet[9] und verbindet sich u. a. mit Namen wie La Rumeur, Anfalsh oder Casey, die Teil der Anfalsh-Posse ist.

Ein erstes wichtiges Merkmal dieses Rap ist – neben unmittelbaren Stellungnahmen zum aktuellen politischen Geschehen – die programmatische Thematisierung von Fragen der Migration, des Kolonialismus bzw. der „postkolonialen Situation“ oder der Geschichte der Sklavenwirtschaft, immer wieder unter expliziter Bezugnahme auf antikoloniale Autoren wie Aimé Césaire oder Frantz Fanon.[10] Ein zweites Merkmal (mehr noch als das erstgenannte mit der Entstehungsgeschichte des Rap überhaupt verbunden) ist die programmatische Umkehrung des Blicks:

„Die Revolution des Rap ist die Umkehrung des Blicks. Es geht nicht mehr um die Gesellschaft und die herrschenden Medien, die auf die Immigration oder die Jugendlichen aus den Vierteln blicken, sondern um die Jugendlichen aus genau diesen Vierteln, die sich die Gesellschaft anschauen und ihre Meinung sagen. Das ist ein unerhörter symbolischer Umsturz.“[11]

Diese Umkehrung des Blicks verbindet sich aber mit einer nicht weniger entschiedenen Anfechtung dessen, was man als die Regeln des Diskurses bezeichnen könnte. Der Bandname La Rumeur („Das Gerücht“) lässt sich in diesem Zusammenhang geradezu als Gegenentwurf zu den Diktaten eines geregelten, bestimmten Bedingungen unterworfenen „Diskurses“ verstehen. Und dieser Gegenentwurf hat erneut mit der Geschichte der Rap-Artikulation selbst zu tun, bei der es sich um eine Verkettung und Pluralisierung von Artikulationen in der „ersten Person Singular“ handelt[12]: das heißt, es geht in ihr nicht zuerst darum, zu überzeugen bzw. eine Übereinstimmung mit den vorgebrachten Aussagen zu erzielen, sondern darum, zu bezeugen bzw. Formen der Artikulation zu schaffen, die andere Artikulationen, die aus anderen Erfahrungen heraus entstehen mögen, nach sich ziehen und sich mit ihnen verknüpfen.

Als ein drittes Merkmal sei hier zuletzt die Problematisierung der Frage, was Sprache eigentlich „ist“, genannt. Und diese Problematisierung vollzieht sich nicht nur über die Verwendung von Argot- oder Verlan-Ausdrücken bei gleichzeitig oft raffiniertester Handhabung des „Französischen“ (im Sinne der Académie française, seit 1635 die zentrale Wächterorganisation über die französische Sprache), über die selbstverständliche Einbeziehung anderer Sprachen wie z. B. des Arabischen[13] oder über Bezugnahmen auf Kreol-Sprachen, wie sie sich etwa bei Casey finden. Sie vollzieht sich mitunter auch über Bezugnahmen auf die französische Sprachgeschichte. So veröffentlichte die teils auch auf Arabisch rappende Gruppe Ministère des affaires populaires („Ministerium für populäre Angelegenheiten“) aus Lille 2009 ein Album mit dem Titel Les bronzés font du ch’ti (je nach Assoziationskontext: „Die Braunen/Angebräunten machen/betreiben/lernen Sch’ti“): Sch’ti ist, nach herrschenden linguistischen Begriffen, einer jener zahlreichen „Dialekte“, die durch nationalsprachliche Homogenisierungsregime mittlerweile bis zum Verschwinden zurückgedrängt wurden. Worum es hier geht, ist aber nicht eine Politik der „Anerkennung“ oder der musealisierenden „Rettung“ einer, nach Auskunft der UNESCO, „ernsthaft gefährdeten“ Sprache. Es handelt sich vielmehr, so scheint uns, um eine Verteidigung der Heterolingualität, die sich einerseits mit einer Erinnerung an sprachpolitische Prozesse der Homolingualisierung, andererseits aber mit Affirmation des Werdens von Sprachen (im Gegensatz zu ihrem „Sein“) verbindet.

Nichts als Worte

„Worte sind wichtig“ ist eines der oben zitierten Interviews mit Hamé überschrieben. Das schließt nicht aus, sondern (aus einer übersetzungspolitischen Perspektive) vielmehr ein, dass Worte mitunter „nichts als Worte“ sind. Wir schließen deshalb mit einer Szene aus einem Film der Engraineurs[14], die wir im Laufe des Workshops in Aubervilliers mehrmals besprochen haben. Es handelt sich um die Eröffnungsszene eines Films mit dem Titel Rien que des mots („Nichts als Worte“), und es geht in ihr um einen klassischen Topos, der mit Praxis und Theorie der Übersetzung gleichermaßen verbunden ist: den Verrat.

Die Szene zeigt eine Schülerin aus einer algerischen Familie, die von einem Lehrer gemeinsam mit ihrer Mutter in die (in „93“ gelegene) Schule zitiert wird, während ihr Vater gerade in Algerien nach einem passenden Mann für sie sucht. Die Mutter spricht kein Wort Französisch, der Lehrer kein Wort Arabisch, sodass die Schülerin, eingeklemmt zwischen zwei Autoritäten, zur unverzichtbaren Übersetzerin wird und zugleich die Freiheiten der Übersetzung entdeckt. Sie versteht das Spiel der Adressierungen, das ihr mehr Regeln als Spielmöglichkeiten auferlegt, Spielmöglichkeiten, die sie in ihrem Leben gerade intensiv sucht (sei es bei Flirts, sei es auch in einer Theatergruppe, wie spätere Szenen zeigen). Und also übersetzt sie, was jeweils gehört werden will, und verrät dabei die Bedeutung des jeweils Gesagten. Am wichtigsten aber ist: Sie schlägt dabei eine Bresche, die nicht vorrangig dem Angriff auf die eine oder andere Autorität dient, sondern ihrer Suspendierung – zuallererst aber der Erfindung des eigenen Lebens.


[1] Nicht zufällig hat der Pariser Triumphbogen, Monument der napoleonischen Kriege, in der „Grande Arche“ in La Défense sein zeitgenössisches Pendant gefunden, mit dem er über eine Sicht- und Verkehrsachse direkt verbunden ist.

[2] Vgl. Loïc Wacquant, Parias urbains. Ghetto, banlieues, État, Paris: La Découverte 2006; Robert Castel, La discrimination négative, Paris: Seuil 2007.

[3] Banlieue 13, Frankreich 2004, R: Pierre Morel; Banlieue 13: Ultimatum, Frankreich 2009, R: Patrick Alessandrin.

[4] Die Konstruktion erinnert insofern an altbekannte Imaginarien des „Fortschritts“: man denke nur an Hegels Argumentationen bezüglich der Sklaverei.

[5] Wir möchten an dieser Stelle dem gesamten damaligen Team der Laboratoires d’Aubervilliers für die Zusammenarbeit und freundschaftliche Aufnahme herzlich danken: An erster Stelle geht dieser Dank an Nataša Petrešin-Bachelez und Virginie Bobin, die unsere unmittelbaren Ansprechpartnerinnen waren, aber nicht weniger richtet er sich an Grégory Castéra, Alice Cauchat, Barbara Coffy, Claire Harsany, Pauline Hurel, Anne Millet und Tanguy Nédélec für unterschiedlichste persönliche Involvierungen sowie für viele Gespräche, Rat und Unterstützung.

[6] Vgl. http://eipcp.net/projects/heterolingual/files/workshop1-de. – Unser herzlicher Dank gilt insbesondere auch an allen Workshopteilnehmer_innen und zugleich Beitragenden dieser Ausgabe von transversal: einerseits natürlich für ihre Beiträge selbst, andererseits aber auch für die nicht selbstverständliche Bereitschaft, mit uns und unserem Kollegen Boris Buden gemeinsam und über diverse Segmentierungen hinweg einen „bunten Haufen“ (Anne Querrien) zu bilden, der in vielem erst herausfinden musste, was alle miteinander zu tun hatten.

[7] Vgl. Naoki Sakai, Translation and Subjectivity. On „Japan“ and Cultural Nationalism, Minneapolis: University of Minnesota Press 1997.

[8] Frantz Fanon, Schwarze Haut, weiße Masken, übers. v. Eva Moldenhauer, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1985, S. 21.

[9] Hamé, Mitglied der Rap-Gruppe La Rumeur, erzählt in einem Interview aus dem Jahr 2010: „Wir haben uns klar positioniert, wir haben klar gesagt, dass wir nicht die ‚Beurs‘ oder ‚Blacks‘ der SOS-Racisme-Jahre sind. Eines Tages wurde ich gefragt, wie ich meinen Rap bezeichnen würde, und ich gab zur Antwort, dass es sich um einen rap de fils d’immigrés, den Rap des Sohnes eines zugewanderten Arbeiters handelt“ (vgl. http://lmsi.net/Rap-de-fils-d-immigres; abgerufen am 10. April 2013).

[10] Vgl. bes. die Alben Tragédie d’une trajectoire (2006) und Libérez la bête (2010) von Casey sowie die Alben von La Rumeur.

[11] So erneut Hamé, vgl. www.mouvements.info/Hors-cadre-entretien-avec-Hame.html (abgerufen am 10. April 2013).

[12] Vgl. aus dem Rap-Song „Artiste“ von Oxmo Puccino: „Devenir la première personne des singuliers / Se passe rarement de façon régulière“ (in theorieaffines Deutsch übersetzt: „Die erste Person von Singulären zu werden / Vollzieht sich selten auf regelhafte Art und Weise“); weiters z. B. das Kapitel „Ring Shout“ aus Christian Béthune, Le Rap. Une esthétique hors la loi, Paris: Éditions Autrement 2003, S. 18–29.

[13] Vgl. den Text von Amina Bensalah und Myriam Suchet in dieser Ausgabe von transversal.

[14] Vgl. das Gespräch mit Sonia Chikh in dieser Ausgabe von transversal.