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03 2008

Politik des Archivs

Übersetzungen im Film

Hito Steyerl

Übersetzt von Birgit Mennel und Tom Waibel

 


VHS auf .flv

Nahaufnahme einer Frau an einer Schultafel. Sie dreht sich um, um zu sprechen. Ihr Mund ist jedoch auf dem Bildschirm nicht sichtbar. Dieses Bild wurde offensichtlich auf beiden Seiten abgeschnitten. Aber warum? Und von wem?

 
Bilder in Worte übersetzen

Dieser Text behandelt einige Aspekte des Nachlebens zweier Filme. Beide Filme wurden in Jugoslawien gedreht. Beide sind berühmte PartisanInnenfilme, sie heißen „Valter brani Sarajevo“ (1972) und „Bitka na Neretvi“ (1969). Das Filmstudio, in dem „Valter brani Sarajevo“ (Walter verteidigt Sarajevo) aufgenommen wurde, ist im letzten Bosnienkrieg zerstört worden. Doch dieser Film und der noch weit legendärere „Bitka na Neretvi“ (Die Schlacht an der Neretva) leben fort. Ihre Existenz in den Kinos gehört ebenso wie das Land, in dem sie produziert wurden, der Vergangenheit an. Aber als Heimvideos, DVDs oder Datenpakete reisen sie um die Welt. In der berühmten Formulierung Walter Benjamins berührt das Nachleben eines Werks den Bereich der Übersetzung. Dies gilt auch für das Nachleben von Filmen. In diesem Sinn handelt dieser Text von Übersetzung: von der Transformation zweier Filme, deren Originalkopien teils vom Krieg zerstört wurden, durch Übertragung, Montage, Übersetzung, digitale Komprimierung und Aneignung.

 
Gedächtnis

Im Zuge einer Recherche für einen meiner Filme stieß ich auf das unvollständige Bild der Lehrerin. Ich sah es auf einer Kinoleinwand im Filmmuseum in Sarajevo, wo die Kopie einmal im Jahr projiziert wird – um gelüftet und so konserviert zu werden, wie der Filmvorführer erläuterte. Da ich dieses Bild in meinem Film verwenden wollte, begab ich mich auf die Suche nach einer vollständigeren Version des Bildes. Dies stellte sich als schwierig heraus. Aber im Zuge meiner Recherche ging es zunehmend nicht mehr um das Bild selbst. Es begann auf Fragen zu antworten, die niemand gestellt hatte. Fragen wie: Was ist ein Archiv? Was ist die Originalversion eines Films? Welchen Einfluss haben digitale Technologien auf die Übersetzung? Welche Arten von Gemeinschaften und Kollektiven werden im digitalen Niemandsland globalisierter Mediennetzwerke hervorgebracht?

Je weiter ich in meiner Recherche vorankam, umso deutlicher wurde es, dass das Bild nicht nur aus Versehen beschnitten worden war. Bestimmte Kräfte wirkten darauf ein und drängten einen Teil des Bildes in ein politisch und ökonomisch definiertes Abseits. Innerhalb der widersprüchlichen Dynamiken von Globalisierung und Postkommunismus/Postkolonialismus werden Archive zerstreut und vervielfältigen sich, manche werden porös und lecken, andere verändern und verschieben ihren Inhalt. Während manche Bilder auf immer zerstört werden, lassen sich andere nie mehr löschen.

 
35 mm, Farbpositiv

Das fragliche Bild stammt aus einer Szene des Films „Die Schlacht an der Neretva“, einem berühmten jugoslawischen PartisanInnenfilm aus dem Jahre 1969 mit Orson Welles, Yul Brynner, Franco Nero und vielen anderen berühmten SchauspielerInnen. Er erzählt die Geschichte einer legendären Schlacht am Fluss Neretva in Bosnien während des Zweiten Weltkriegs. Die PartisanInnen kämpften gegen einen Verbund deutscher, italienischer und kroatischer Faschisten sowie gegen serbische Nationalisten. Die Lehrerin taucht ziemlich am Anfang des Films auf, in einer sehr kurzen Sequenz an einer Schule in den befreiten Territorien Bosnien-Herzegowinas. Sie wendet sich ihren SchülerInnen zu, um die von ihr auf die Tafel geschriebenen Worte zu buchstabieren; das Wort „AVNOJ“ (Antifašističko V[ij]eće Narodnog Oslobođenja Jugoslavije), das die antifaschistischen, in den frühen 1940er-Jahren in Jugoslawien gegründeten Volksbefreiungskomitees bezeichnet. Die intendierte Bedeutung dieser Szene könnte darin bestehen, dass Kinder im Geiste des Sozialismus und Antifaschismus erzogen werden. Aber die Szene wirft andererseits auch Fragen danach auf, was Lesen- und Schreibenlernen im Allgemeinen bedeuten. Was ist Alphabetisierung?  Werden dem Verstand vorherbestimmte Bedeutungen eingeprägt oder ihm Werkzeuge zur Schaffung neuer Bedeutungen vermittelt?

 
Nationale Kultur

Offensichtlich verdichten sich in dieser kurzen Sequenz viele Ideale des Modernismus: die Hoffnung auf Erziehung, Fortschritt, Gleichheit. Die Aufklärung wird allerdings eher von oben verordnet. In dieser Szene wird auch deutlich, dass Kinder im Rahmen eines bestimmten Bezugssystems lesen und schreiben lernen, dessen Abkürzung AVNOJ lautet. Wir werden über das politische Bezugssystem dieser Erziehung nicht in Zweifel gelassen. Gemeinschaftliche Erziehung erschafft oft die Basis einer gemeinsamen Nation.

Das klassische Kino ist auch eine Bildungsinstitution, allerdings anders als eine Schule. Es wurde sowohl im nationalen Rahmen der westfälischen Ordnung wie auch innerhalb internationaler fordistischer Kulturindustrien entwickelt. Die Institution des Kinos ist immer noch eng mit der Vorstellung von nationaler Kultur, kulturellem Gedächtnis, der Konstruktion einer kollektiven Imagination, eines gemeinsamen Erbes und seiner Bewahrung verknüpft und verweist auch auf Diskussionen über kulturellen Imperialismus und Hegemonie. Die Distribution von Kinokopien ist streng kontrolliert; sie ist teuer und erfordert ein ausgedehntes institutionelles System. Das Urheberrecht von Kinofilmen wird streng überwacht. Daher bringt die Übertragung (oder Kopierung) eines Films in ein anderes institutionelles System möglicherweise auch die Transformation dieser Rahmenbedingungen mit sich.

 
35 mm auf VHS

Warum wurden also beide Seiten dieses Bildes abgeschnitten? Die Antwort ist einfach. Die im Filmmuseum von Sarajevo arbeitenden Leute fertigten die VHS-Kopie selbst an. Sie richteten dabei eine VHS-Kamera im 3:4-Format auf eine Projektion im Breitbildformat. Als Folge wurden beide Seiten der Projektionsfläche abgeschnitten. Der Grund für eine solche Aufzeichnungsweise liegt im drastischen Geldmangel dieser Institution im Kontext uneingeschränkter Privatisierung. Die für eine professionelle Übertragung angemessene Ausrüstung ist nicht vorhanden. Das abgeschnittene Bild verweist auf diesen ökonomischen und politischen Mangel ebenso wie auf die Situation eines Staates in der sogenannten Transition. Der Staat wurde genauso zusammengekürzt wie sein Name auf der Schultafel im Film „Die Schlacht an der Neretva“. Das ursprüngliche, mit Kreide geschriebene Wort Jugoslavije wurde zu …slavije reduziert, die Worte Befreiung und antifaschistisch sind kaum noch lesbar. Das Abschneiden des Bildes verläuft parallel zum Zerfall des ursprünglichen Staates.

 
Archiv

Das Filmmuseum als Videothek: Diese Situation beschreibt den Zustand einer Institution, die das kulturelle Erbe einer Nation bewahren soll, ebenso wie den Zustand dieser Nation selbst. Üblicherweise ist es die Aufgabe eines Archivs wie etwa eines Filmmuseums, „getreue“ Reproduktionen seines Materials zu produzieren: das heißt Reproduktionen, die so identisch wie möglich sind. Die Kontrolle über die Reproduktion ist die Grundlage der Macht, die in Archiven verdichtet wird. Jacques Derrida argumentiert, dass sich das Wort „Archiv“ vom griechischen Wort archeîon herleitet, dem Haus oder der Wohnung der höheren Magistratsangehörigen.[1] Die Dokumente werden in den Häusern der Mächtigen aufbewahrt. Das Archiv konserviert oftmals nur die Geschichte der Sieger, indem es sie als historische Wirklichkeit oder wissenschaftliche Wahrheit präsentiert. Das Archiv ist eine realistische Maschine, ein Korpus des Macht/Wissens; es reproduziert sich durch Wiederholung. Genauer gesagt kontrolliert und reguliert die Autorität traditioneller Archive die Reproduktion ihrer Gegenstände. Die Kriterien für die „getreue“ Reproduktion jener Objekte sind streng. Neben wissenschaftlichen und historischen Regeln spielt auch die Reproduktion von Eigentumsrechten im audiovisuellen Bereich eine wichtige Rolle. Die Wiederholung im Archiv obliegt der Kontrolle durch unterschiedliche Logiken von Macht/Wissen, die zumeist sowohl vom Nationalstaat als auch von Kapitalinteressen durchgesetzt werden.

 
Wiederholung

Heutzutage hat sich die Funktion des Archivs jedoch aus den verschiedensten Gründen verkompliziert, die von digitalen Reproduktionstechnologien bis zur bloßen Tatsache reichen, dass einige Nationen einfach verschwunden sind und ihre Archive zerstört wurden und zerfallen. Das war zeitweise der Fall beim Filmmuseum Sarajevo, das während des Krieges in den 1990er-Jahren stark beschädigt wurde. Andererseits entstehen neue nationale Archive. Neben dem Filmmuseum von Bosnien-Herzegowina in Sarajevo gibt es nun auch ein bosnisch-serbisches Filmmuseum in Pale. Das kulturelle Erbe wird zerstreut und rekombiniert, allerdings in unterschiedlichen Konstellationen. Nicht nur die Archive selbst verändern sich, auch Teile ihres Inhalts. Um genauer zu sein: Die Wiederholung, auf der die Autorität der Archive gründet, verändert sich. Zwischen den unterschiedlichen, von Nationen oder Kapital kontrollierten Machtbereichen entstehen Risse und Brüche, da Nationen und Kapital selbst durch die Kräfte postkommunistischer und postkolonialer Situationen sowie durch weitreichende Neoliberalisierung tiefgreifend verändert werden. Die Wiederholung der Objekte im Archiv ist nicht länger identisch, sie wiederholt nicht dasselbe unter demselben Namen oder demselben Eigentumsrecht. Die Wiederholung ist nicht mehr getreu, sondern verräterisch, verschoben, verzerrt, enteignet oder einfach verändert. Dies erinnert an die verschiedenen Formen der Wiederholung, die Gilles Deleuze in seinem Werk Differenz und Wiederholung beschrieben hat.[2]  Er argumentiert, dass mehrere Formen von Wiederholung möglich sind. In aller Kürze zusammengefasst, handelt es sich dabei um die Wiederholung desselben, die Wiederholung des Ähnlichen und die Wiederholung des Neuen, welche die Wiederholung in der Differenz entweder verdecken oder freisetzen. Wenn wir nunmehr im Falle zeitgenössischer Archive davon sprechen können, dass sich darin verschiedene Formen der Wiederholung ereignen, beruht dies auf sehr spezifischen politischen, technologischen und ökonomischen Situationen, die digitale Reproduktionstechnologien mit den von Gewalt geprägten Auswirkungen der Globalisierung kreuzen.

 
VHS : NTSC

Kommen wir auf das Bild der Lehrerin in der „Schlacht an der Neretva“ zurück. Angesichts des unbefriedigenden Zustands meiner VHS-Kassette begab ich mich online auf die Suche nach einer anderen, professionelleren Heimvideoversion des Films. In den letzten Jahren können DVDs und Heimvideokopien leicht über Onlinehändler wie etwa Amazon erstanden werden. Die ausufernde Vermehrung privater DVD-Kopien ist paradoxerweise auf den langsamen Tod des VHS-Formats zurückzuführen. Wegen der Einführung von DVDs verkauften viele der Videotheken ihre alten Lagerbestände einfach über das Internet, was nicht nur einen starken Preiseinbruch mit sich brachte, sondern tatsächlich einen Markt entstehen ließ, auf dem zunehmend mehr private Kopien verkauft wurden. Noch vor einigen Jahren wäre es sehr schwierig gewesen, eine Heimvideokopie eines Films wie „Die Schlacht an der Neretva“ von Berlin aus zu finden. Doch jetzt war es sehr einfach, eine amerikanische Version des Films „Neretva“ auf VHS zu erhalten, die mir innerhalb von zwei Wochen zugesandt wurde.

 
Schnitt

Die von mir gesuchte Szene befand sich jedoch nicht im Video. Ich konnte es nicht glauben und sah mir das Video mehrmals an. Letztlich begriff ich, dass die Szene in dieser Version nicht vorkam. In der Tat ist diese Filmversion siebzig Minuten kürzer als das 175 Minuten lange Original. Doch selbst wenn die Szene vorhanden gewesen wäre, hätte es sich nach wie vor um eine Version im 3:4-Format gehandelt. Die Lehrerin hätte ihren Text immer noch außerhalb des Bildschirms gesagt, dieses Mal jedoch in englischer Synchronisation.

 
Video 2000

Es wurde noch eine andere Videokassette angeboten, eine 145 Minuten lange deutsche Version. Die Wiedergabe dieser Kassette war jedoch sehr schwierig, da sie im Video-2000-Format produziert worden war, das nur zwischen 1979 und 1986 existierte. Somit konnte die „Schlacht an der Neretva“ nur über sieben Jahre hinweg in diesem besonderen Format gesehen werden, und man müsste heute möglicherweise in ein technisches Museum gehen, um das Video abzuspielen. Ich weiß daher nicht, ob es das vollständige Bild der Lehrerin an der Tafel beinhaltet. Ich weiß nur, dass sie Deutsch gesprochen hätte.

 
Synchronisation

Inzwischen war ich misstrauisch geworden, da mir der Verdacht gekommen war, dass die deutsche Version möglicherweise ebenfalls nicht der Kinokopie entsprach. In der IMDb (International Movie Database) und in verschiedenen Onlineshops fanden sich folgende Informationen über die verschiedenen Längen dieses Films:
Original: 175 min. / Serbien: 165 min. / Kroatien: 145 min. / Deutschland: 142 min. / Italien: 134 und 147 min. / Spanien: 116 min. / USA: 127 und 102 min. / Russland: 78 min.

In allen diesen Ländern werden unterschiedliche Versionen desselben Films vertrieben. Die originale Kinoversion schien nur zwischen den Versionen zu existieren, als sei sie eine verlorene adamitische Sprache. Der Film zersplitterte in unzählige Versionen seiner selbst, die an nationale Geschmackslagen angepasst wurden. Ein BenutzerInnenkommentar riet, sich alle unterschiedlichen DVD-Versionen anzusehen und Deutsch, Italienisch und Spanisch zu lernen, um eine möglichst vollständige Version des Films zu sehen. Selbst in den postjugoslawischen Ländern zirkulieren mehrere Versionen. Ein Onlinekommentar erläuterte, dass die serbische DVD-Version ungefähr 160 Minuten lang und deutlich anders geschnitten war als alle anderen Veröffentlichungen auf DVD oder Video.

Der Film war im Zuge seiner vielfachen Synchronisationen nicht nur gekürzt, sondern auch tiefgreifend verändert worden. Er wurde nicht identisch wiederholt, während er durch die globalen digitalen Verbindungen und die Postproduktionsstudios der internationalen Videoindustrien geschleust wurde. Vielmehr wurde er einer Erneuerung  und Umgestaltung unterzogen und mehrfach umgeschnitten, um den besonderen Geschmacksvorstellungen der unterschiedlichen KonsumentInnengruppen zu entsprechen.

 
Wiederholung II

Nach Deleuze gibt es neben der auf Gewohnheit beruhenden Wiederholung desselben auch eine andere Form der Wiederholung, die nicht dasselbe, sondern das Ähnliche wiederholt. Diese Form der Wiederholung verdrängt das Original; sie wiederholt und verschiebt gleichzeitig. Sie schafft ein Gedächtnis, das sich auf eine Vergangenheit bezieht, die niemals gegenwärtig war. In der Erinnerung werden Ereignisse wiederholt, die vorher nicht existierten, genau wie in einem  immer auf Fiktion beruhenden nationalen Gedächtnis. Die unterschiedlichen Videoversionen von der „Schlacht an der Neretva“ zeigen,  dass das Archiv seine ursprüngliche Macht zur identischen Bewahrung verloren hat. Die Macht der neuen Archive beruht dagegen auf der Veränderung und Modifikation des Films für unterschiedliche Interessen. Diese Adressierung beeinflusst die Zielgruppe ebenso wie sie neue Öffentlichkeiten konstituieren kann.

 
Untertitel

Schließlich fand ich das Bild der Lehrerin. Es war in einer äußerst interessanten postjugoslawischen DVD-Ausgabe enthalten. Auf dieser DVD sind vier nationale Versionen von der „Schlacht an der Neretva“ enthalten: eine serbische, eine slowenische, eine bosnische und eine kroatische. Obwohl die DVD mit einer dem Original gegenüber leicht gekürzten Filmversion ausgestattet war, war das Bild der Lehrerin vorhanden – in allen vier Versionen, von denen jede im Menü mit einer kleinen Nationalflagge gekennzeichnet war. Ich fand die Lehrerin also nicht nur einmal, sondern viermal. Überraschenderweise stellte sich heraus, dass die Filmszene in drei von vier Versionen völlig identisch war. Nur die slowenische Version war untertitelt, alle anderen Versionen waren gleich – keine Untertitel, kein Unterschied in der Länge oder in der Montage. Drei der vier unterschiedlichen nationalen Versionen schienen also absolut identisch.

Es gab jedoch einen entscheidenden Unterschied: nur bei einer handelte es sich um eine legale Version, die zwei anderen waren Raubkopien. Die kroatische und bosnische Version enthielten keinerlei Hinweise auf Rechteinhaber. Nur die serbische und die slowenische Version waren lizenziert. Der Zerfall des alten Staates vervielfältigte die Märkte für geistiges Eigentum.

Man könnte festhalten, dass die Vervielfachung des Bildes der Lehrerin auf die gegenwärtige Vervielfachung der Erziehungssysteme in Bosnien entlang sogenannter ethnischer und religiöser Unterschiede verweist. Heutzutage sind segregierte Schulen in Bosnien üblich. Die Europäische Union fördert diesen Erziehungstypus sogar, weil er ihrer Diversitätspolitik entspricht. Das Ergebnis ist die Schaffung neuer Trennungen, die als ursprüngliche Traditionen dargestellt werden. Das Bild der Lehrerin wird nicht länger abgeschnitten, sondern vielmehr geklont, um neue nationale Echos seiner selbst hervorzubringen.

 
H.264

Aber die „Schlacht an der Neretva“ wurde auch jenseits von Heimvideoausgaben veröffentlicht. Digitale Dateien des Films zirkulieren in unterschiedlichen Formaten wie Flash oder Quicktime und werden gratis verbreitet. Auf Youtube vollzieht sich die weitere Demontage und Neuabmischung des Films, namentlich in den Arbeiten eines gewissen Yugomix, der einige Ausschnitte des Films entfärbte, um sie historisch-dokumentarischen Aufnahmen von PartisanInnen anzugleichen. Auf Youtube wird das Originalmaterial des Films neu zusammengestellt und montiert; es ist unvollständig und wird weder identisch reproduziert noch getreu wiederholt.  Copyright, geistiges Eigentum, nationales Erbe und kulturelles Gedächtnis sind von dieser Transformation ebenso betroffen wie traditionelle Vorstellungen von Genealogie und Eigentum.

 
Rückübersetzung

Ein Beispiel: Heutzutage kommt die Hälfte der Youtube-Clips eines anderen berühmten PartisanInnenfilms „Valter brani Sarajevo“ (1972) aus chinesisch synchronisierten DVD-Ausgaben. Obwohl das einzige in Europa erhältliche Video eine alte, abgenutzte VHS in Originalsprache ist, wurde „Valter …“ in China zu einem Kassenschlager, als der Film in den 1980er-Jahren dorthin exportiert wurde. Angeblich wird er immer noch an jedem Neujahrsabend im nationalen Fernsehen ausgestrahlt.  Der Film war derart populär, dass eine besondere chinesische Biermarke nach Valter benannt wurde. Der ganze Film kann derzeit umsonst von einem sehr populären Torrent Client heruntergeladen werden. Diese Filmversion ist wiederum stark modifiziert. Ein User kombinierte das Bild der chinesischen DVD mit dem Ton der alten jugoslawischen VHS. Es handelt sich bei dieser Transaktion um eine Rückübersetzung in eine Sprache, die keinen Namen mehr hat. Der User fertigte einfach seine eigene Version an, ignorierte die nationalen Fragmentierungen und setzte durch die Gratisdistribution der Datei zeitweise ihren Status als Ware außer Kraft.

 
Copyright

Man könnte versucht sein, mit Deleuze zu folgern, dass diese Onlineplattformen der Ort sind, an dem sich die dritte Form der Wiederholung, die Wiederholung des Neuen, ereignet. Die Filme brechen aus den Restriktionen aus, die ihnen durch Nation und Kapital auferlegt werden, um die Wiederholung und Reproduktion dieser Filme zu kontrollieren. Diese Form der Distribution negiert Eigentum und Copyright, da sie sich im Modus des Diebstahls und der Gabe vollzieht, durch die Deleuze das Wesen der Wiederholung des Neuen charakterisierte.

Aber offensichtlich wäre diese Annahme nicht nur naiv, sondern einfach falsch. Auf den neuen digitalen Plattformen sind die Kräfte der Nation und des Kapitals ungehemmt im Einsatz, wie die unterschiedlichen Klagen gegen Youtube, die verschiedenen kommerziellen Transaktionen in dessen Umfeld sowie die Auseinandersetzungen um Copyright und Piraterie bezeugen. Im Falle von Piratebay, einer Torrent-Plattform, die alle möglichen Arten von raubkopiertem Material ohne irgendwelche Zensuransprüche verbreitet, ist das Problem sogar noch deutlicher umrissen. Die Server dieser Plattform wurden im Mai 2006 nach starkem Druck der US-Regierung auf die schwedische Regierung konfisziert. Absurde Details über diesen Angriff umfassen auch die Übertragung von Überwachungsvideos der Polizeiaktion auf Youtube, die Vergeltungsattacke von Hackern auf schwedische Polizeiserver sowie die überraschende Entdeckung, dass Piratebay technisch und finanziell von einem bekannten schwedischen Rechtspopulisten unterstützt worden war.

Innerhalb dieser Plattformen, die flüchtigen und heterogenen Peergroups den Zugang zu deregulierten und ziemlich ungeordneten Archiven ermöglichen, treffen also immer noch traditionelle Kräfte und Interessen aufeinander, ihr Konflikt hat sich nur auf ein neues Schlachtfeld verlagert. Sie basieren nicht wie die traditionellen Archive auf Ausschluss und identischer Reproduktion ihrer Bestände, sondern vielmehr auf Einschluss möglichst vieler Materialien und ihrer gleichzeitigen weitgehenden Unsichtbarmachung durch chaotische Verzeichnisse und intransparente Strukturen. Die neuen Archive sind eher Horte, deren Bestände wie Beutestücke zu planlosen Monumenten aufgetürmt werden.

 
Ripping

Diese Archive sind weiterhin eng mit einer weiteren Form der Reproduktion verknüpft, die „Ripping“ genannt wird. Wiederholung und Reproduktion werden zum Begriff „Ripping“ verkürzt. „To rip“ bedeutet wegnehmen, stehlen, betrügen, aber „ripping“ ist auch ein technischer Begriff, der das Kopieren von Dateien in andere Dateiformate bezeichnet und im Zuge dessen oftmals auch der Kopierschutz entfernt wird. Er bezeichnet das Kopieren eines mehr oder weniger identischen Inhalts, bei gleichzeitiger Entfernung der Eigentumsbeschränkungen und der Verweise auf die Originalquelle oder die Genealogie der Distribution. Während also manche Archive auf Wiederholung und Reproduktion basieren, gründen sich die neuen Archive auf Ripping, das heißt Diebstahl und selektive Kopierung, sowie auf die Möglichkeit, jedes Bild sowohl unbegrenzt zu speichern wie auch beliebig zu verändern.

 
Lese- und Schreibfähigkeit

Zhang Xian Min von der Filmakademie in Beijing erzählte mir kürzlich, dass schon seit langem ein chinesisches Remake von „Valter brani Sarajevo“ geplant ist. Die Verzögerung hatte einerseits mit dem Bosnienkrieg zu tun und andererseits damit, dass die chinesischen ProduzentInnen mit dem Nachkriegsstadtbild von Sarajevo unzufrieden waren. Es sah nicht mehr authentisch genug aus. Die Aufnahmen sollen nun in der Ukraine gemacht werden, wo die Originalschauplätze nachgebaut werden sollen.

Auf chinesischen Bildern zum Originalfilm „Valter …“ wurde auch der Name Sarajevo, in lateinischen Buchstaben geschrieben, in Salarewo modifiziert. Es handelt sich bei Salarewo zwar um eine getreue Umschrift der korrekten chinesischen Übersetzung von Sarajevo. Wie der Übersetzungstheoretiker Jon Solomon anmerkt, ist es jedoch unwahrscheinlich, dass die ÜbersetzerInnen die ursprüngliche lateinische Schreibweise von Sarajevo nicht kannten. Aus seiner Sicht ist diese kreative Schreibweise eher ein Anklang an die Schreibweise falscher Markenprodukte beziehungsweise raubkopierter DVDs. Obwohl es sich bei der DVD, so weit ich sehen konnte, um einen perfekten Klon des Originals zu handeln scheint (mit Ausnahme der mandarin-chinesischen Synchronisation), übermittelt sie die Botschaft: Ich bin eine Fälschung.

Wiederum überschneidet sich die Politik des Copyrights mit nationalen Phantasmen, die sich je nach Perspektive unterschiedlich darstellen. Aus der Sicht des verwüsteten Filmstudios in Sarajevo, wo zerstörte Filmrollen den Boden bedecken, scheint es, als ob Valter, der dort erschaffene fiktive Charakter, erfolgreich vor der Zerstörung fliehen konnte und seinen Ruhm im Exil sogar noch vermehrte. Doch die Frage bleibt offen, ob Valter nicht eigentlich, wie so viele exjugoslawische Veteranen, zu einem Söldner geworden ist, zu einem internationalen Experten auf globalen Krisenschauplätzen. Ist Valter heute ein Söldner der Imagination, der um die Welt reist und in Nationen tätig ist, die von Gespenstern der Teilung und Desintegration verunsichert werden?

 

 

[1] Jacques Derrida, Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression, übers. v. Hans-Dieter Gondek u. Hans Naumann, Berlin: Brinkmann & Bose 1997, S. 11.

[2] Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, übers. v. Joseph Vogl, München: Fink 1997.