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06 2013

Noch eine europäische Krise?!

Mythos, Übersetzung und das Gebietsdispositiv

Jon Solomon

Übersetzt von Birgit Mennel

Überlagerung

In Naoki Sakais Theoretisierung der heterolingualen Adressierung (Sakai 1997) findet sich eine äußerst wichtige Unterscheidung zwischen Adressierung (ein soziales Verhältnis aufgrund sprachlicher Begegnung) und Kommunikation (die Wiederholung oder Iterabilität eines Inhalts). Diese Unterscheidung ermöglicht es Sakai zu zeigen, wie gewisse Voraussetzungen einer Sprachgemeinschaft retroaktiv auf die translationale Begegnung projiziert werden und dabei das ausformen, was er die „homolinguale Adressierung“ nennt. Während die allgemein übliche Vorstellung von Übersetzung diese als eine Form von Übertragung und Austausch zwischen sprachlich-kulturellen Sphären betrachtet, ist die Homogenität, die dieses Verständnis ermöglicht, oft eine retroaktive Abstraktion der eigentlichen Übersetzungspraxis. Der Moment der Adressierung enthält eine irreduzible – gleichermaßen ontologische wie semantische – Unbestimmtheit, und doch berufen wir uns fortwährend auf den Begriff der kommunikativen Übertragung, um diese Unbestimmtheit dem Blick zu entziehen. Was üblicherweise als „Brücke“ zwischen Gemeinschaften und Sprachen gedacht wird, ist tatsächlich die einführende Geste, die die Abgrenzung von Sprachgemeinschaften und Nationalsprachen erlaubt und legitimiert. Auf eine epistemologische Repräsentation von Iterabilität reduziert, wird Übersetzung ein spekulatives Moment, das weit über den deutschen Idealismus hinausreicht und das in seiner Beschreibung eines Phänomens diesem retroaktiv Elemente der eigenen „Vision“ aufdrängt und diese als vorgängig bezeichnet. Ich möchte mich dieser Bewegung anhand des Themas der Überlagerung [superimposition] nähern, ein Wort, dessen Komponenten Position, Auferlegen [imposition], Doppelung und Erhebung heraufbeschwören. Dabei geht es mir darum, Elemente für eine Kritik des Gebietsdispositivs anzubieten.

Zentral für dieses kritische Projekt ist die Frage, wie mit der Zirkularität moderner Gesellschaften umgegangen werden soll, die ihre eigenen Voraussetzungen instituieren? Das Problem der Zirkularität läuft im Wesentlichen auf eine Vexierfrage zwischen der Geschichte und dem Wissen hinaus, das in kapitalistischen Gesellschaften gehegt wird. Das ewige Problem des Denkens im Gefolge moderner Revolutionen besteht nicht nur darin, die revolutionären Ereignisse zu erklären, sondern vielmehr ihre sozialen Bedingungen zu erkennen und sie – mit diesem Wissen bewaffnet – zu reproduzieren und zu perfektionieren. Das Kapital muss einerseits soziale Hierarchien ausreichend untergraben, um dynamische Produktionskräfte freizusetzen; andererseits aber muss es diese Volatilität lange genug in disziplinären Strukturen einfangen, um die Akkumulation von Mehrwert möglich zu machen. Methodologisch stellt diese konfliktive Notwendigkeit Modelle von Kausalität in Frage, die tiefgreifender sozialer Veränderung zugrundeliegen. Wie wurden/werden Bauern und Bäuerinnen zu Arbeitskraft, während sich gleichzeitig die Früchte der Produktion in Kapital verwandelten/verwandeln? Sobald jemand, wie dies im politischen Diskurs heute so oft der Fall ist, der Ökonomie gegenüber sozialen und kulturellen Praxen einen determinierenden Einfluss zuschreibt, können historische Übergänge, wie etwa von Agrar- zu Industriegesellschaften, nicht mehr erklärt werden.

Aus diesem Grund wies Étienne Balibar darauf hin, dass es neben der Produktionsweise (der klassischen Kategorie der politischen Ökonomie) eine parallele Kategorie gibt, die er „Subjektivierungsweise“ nennt. Die Subjektivierungsweise lässt sich nicht wie im Plechanow’schen Determinismus von der Produktionsweise „ableiten“, sondern muss vielmehr im Sinne dessen gedacht werden, was den Kampf um Autonomie (Subjektwerdung) mit dem unvermeidlichen Problem sozialer Differenz (Herrschafts- und Unterwerfungsverhältnisse) auf paradoxe Weise verbindet. Während die Produktionsweise der Index der Ausbeutung ist, stellt die Subjektivierungsweise einen sozialen Index der Machtverhältnisse dar. Balibar spricht von diesen beiden Modi als „unvereinbar“ und doch „untrennbar“ (Balibar 1995: 160); sein Konzept der Beziehung zwischen ihnen erinnert an seine frühere Theoretisierung des Verhältnisses von Freiheit und Gleichheit, die in einer revolutionären Situation als „Satz der Gleichfreiheit“ (Balibar 1993: 108) miteinander verbunden werden.

In seiner Analyse der Erklärung der Menschenrechte von 1789 lenkt Balibar die Aufmerksamkeit auf die radikale Neuheit einer Verbindung von Gleichheit und Freiheit, die sich nicht auf das transzendentale Fundament entweder einer menschlichen Natur oder einer göttlichen Wahrheit beruft. Durch den Verzicht auf ein solches Fundament (das zwangsläufig bedeuten würde, Knechtschaft anzuerkennen) zielt die revolutionäre Erklärung stattdessen darauf, ihre eigenen Voraussetzungen Wirklichkeit werden zu lassen, die die Form einer strikten Äquivalenz zwischen Gleichheit und Freiheit annehmen. Hier ist jedoch ein historischer Widerspruch am Werk: Während die revolutionäre Situation tatsächlich die Bedingungen schuf, unter denen diese Voraussetzungen wirksam werden können, kann sie ihre Übereinstimmung doch nicht sicherstellen. In der eigentlichen sozialen Praxis bleiben Freiheit und Gleichheit in einem unauflösbaren Widerspruch gefangen. In der „Forderung der Gleichfreiheit“ entfesselt diese Kombination eine radikale Unbestimmtheit im Sozialen. Der Kern dieser Unbestimmtheit liegt, Balibar zufolge, in der unauflösbaren Spannung zwischen der Universalität der Erklärung und der Partikularität der konkreten sozialen Bedingungen, in die die Revolution verstrickt ist. Er zieht aus dieser einzigartigen Analyse faszinierende Schlussfolgerungen in Hinblick  darauf, wie moderne Gesellschaften, die auf einer Äquivalenz zwischen Gleichheit und Freiheit beruhen, deren Bedingungen sie gleichwohl institutionell nicht sichern können, dazu gezwungen sind, nach „Zusätzen“ von Eigentum (für die Freiheit) und Gemeinschaft (für die Gleichheit) zu suchen. Ich möchte, aus Gründen der Zeitersparnis, das Augenmerk darauf lenken, was Balibar „die Einschreibung der ‚anthropologischen Unterschiede‘ in die Topik der Freiheit-und-Gleichheit“ nennt (Balibar 1993: 211). Es handelt sich dabei zusammengefasst um die sexuelle Differenz (die mit den Widersprüchen der Gemeinschaft korrespondiert) und um die intellektuelle Differenz (oder Klassendifferenz, die mit den Widersprüchen des Eigentums korrespondiert).

Balibar liefert keine Erklärung für seine Terminologie. In seiner Verwendung „anthropologischer Unterschiede“ erstrecken diese sich auf Klassen- und Geschlechterdifferenzen. Doch es bräuchte nur wenig, um zu zeigen, dass die ethno-linguistische Differenz – die traditionell eher mit dem Begriff eines anthropologischen Unterschieds in Verbindung gebracht wird – ebenso mit eingeschlossen werden könnte. Ich denke, es ist wichtig, festzuhalten, dass die Kategorie des anthropologischen Unterschieds den Gegensatz zwischen Natur und Kultur in einer Weise zusammenspannt, die mit Balibars Warnung vor einer „platonischen Lektüre“ der revolutionären Erklärung der Menschenrechte vollkommen konsistent ist. Diese Lektüre würde die in der Erklärung formulierten Ideen als Wesenheiten betrachten und nach ihrer gemeinsamen Natur suchen (Balibar 1993: 108f.). Es gilt hingegen, sich mit der Unbestimmtheit dieser Kategorien auseinanderzusetzen. Diese ruft unaufhörlich das Bedürfnis wach, die beiden Kategorien wieder in neue Gegensätze von Natur und Kultur, Notwendigkeit und Kontingenz, Universalismus und Partikularismus einzuschreiben, sodass sie letztlich einen Beitrag dazu leisten können, die fortwährende Transformation der lebendigen Arbeit, das heißt der Menschen, in die Ware Arbeitskraft sicherzustellen.

Unbestimmtheit bedeutet nicht die Abwesenheit von Bestimmtheit, sondern verweist eher auf die Herausforderung, eine retroaktive Überlagerung zu vermeiden. Das Problem besteht darin, wie mit der modernen Vexierfrage von Gesellschaften umzugehen ist, die ihre eigenen Voraussetzungen postulieren. Auf dem Spiel steht das Problem der Kausalität. Balibars Schaffen seit den 1980ern zeichnet sich durch den Versuch aus, jene Problematik wieder mit Leben zu erfüllen, auf die Louis Althussers Konzept der „immanenten Kausalität“ abzielte, den Versuch, soziale Verhältnisse jenseits eines Gegensatzes von Ursache und Wirkung zu denken, der aus der klassischen Mechanik übernommen wurde.

Nirgendwo wurde diesem Ruf theoretisch mehr entsprochen als in Jason Reads Schriften aus dem ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends. Read fasst die Schriften von Marx zur „ursprünglichen Akkumulation“ zusammen und stellt sie den philosophischen Einsichten von Deleuze und Guattari zum Wesen der Ereignisse und der kapitalistischen Verhältnisse und den Beiträgen Foucaults zum Verständnis der Subjektivität gegenüber. Er vermeidet die marxistische Orthodoxie, die sich durch das deterministische Modell linearer Kausalität auf dogmatische Weise über soziale Verhältnisse verständigt, und versucht die Art und Weise, wie wir das Soziale erfassen, entschieden im Unbestimmten zu verankern. Das Unbestimmte, das Read unter dem Namen „Kontingenz“ heraufbeschwört, autorisiert keine ziellose Erdichtung, sondern ist eine Möglichkeit, die Singularität des Aufeinandertreffens von Produktions- und Subjektivierungsweisen zu begreifen. Read fasst die Singularität ihrer Begegnung folgendermaßen zusammen:

 „In [dem auf den Notizen von Marx von 1857–1858 basierenden Artikel] ‚Formen, die der kapitalistischen Produktion vorhergehen‘ ist die Kontingenz der Begegnung, die Tatsache, dass jede Produktionsweise von Voraussetzungen ihren Ausgang nehmen muss, die sie nicht selbst produziert, aber selbst voraussetzt, unmittelbar mit einem zweiten Problem verflochten: nämlich damit, wie jede Produktionsweise ihre eigene Kontingenz, Geschichtlichkeit und letztlich ihre Verwundbarkeit verschleiert.“ (Read 2003b)

Ich möchte hier herausfinden, was Reads (und selbstverständlich Balibars) Entdeckung eines Gegensatzes zwischen reinem Ursprung und vollständigem Ende der Geschichte, der modernen Subjektivierungsweisen zugrunde liegt, für „die Einschreibung ‚anthropologischer Unterschiede‘“ bedeutet. Nirgendwo in der modernen Epoche, in der die kapitalistische Entwicklung mit der kolonialen Begegnung und der imperialistischen Expansion zusammenfällt, sind Ursprung und Geschichtlichkeit fester miteinander verwoben als im Gebietsdispositiv. Es ist praktisch ein Gemeinplatz der gegenwärtigen Verhältnisse, dass die Unterschiede des Ursprungs und der historischen Entwicklung den Kern jenes Unvermögens bilden, ein gemeinsames Narrativ über die koloniale Begegnung zu entwickeln, das heute unter Intellektuellen aus unterschiedlichen Weltregionen und verschiedenen Disziplinen humanistischen Wissens so augenscheinlich wird. Im Gebiet verbleiben heute Kontinuität und Authentizität starr in der Beziehung zwischen Geschichte und Ursprung verankert.

Es wäre jedoch ein Fehler, daraus zu schließen, dass eine Kritik der „Verschleierung“ oder der Strategien der „Überlagerung“ alleine ausreichen würde, um das Gebietsdispositiv zum Verschwinden zu bringen. Auch wenn Foucaults anti-historizistisches Projekt in seiner archäologischen Phase ein wichtiger Meilenstein in der Kritik des Gebiets bleibt – aufgrund der Ablehnung der Tropen der Herkunft, des Einflusses und der Kontinuität als Mittel, die Vergangenheit zu verstehen –, ist der Foucault’sche Text dem Gebietsdispositiv verschrieben und trägt unwissentlich zu dessen Stärkung bei (Solomon 2011). Der Kern des Problems besteht darin, dass das moderne Subjekt, das aus der Unentscheidbarkeit von Ursache und Wirkung hervorgeht, sich nicht einfach nur auf einen Effekt der Verschleierung reduzieren lässt und auch nicht nur das Ergebnis einer falschen Kontinuität sein kann, die angeblich zwischen Ursprung und Geschichte besteht. Das Subjekt des Gebietsdispositivs muss eines sein, das die Verschleierung ebenso aktiv produziert, wie es durch jene Verschleierung produziert wird. Es muss, in anderen Worten, dem Subjekt des Mythos ähneln, in dem Sinn, den die Philosophen Jean-Luc Nancy und Philippe Lacoue-Labarthe diesem Begriff gegeben haben.


Biopolitik als eine „Geschichte der Fiktionierungen“

In ihrer Analyse der Nazi-Ideologie als historisch situiertes metaphysisches Vorhaben, das als politisches Projekt betrieben wurde, lenken Nancy und Lacoue-Labarthe unsere Aufmerksamkeit nicht auf den Inhalt des Mythos, das heißt, auf seinen ikonographischen und allegorischen Reichtum, sondern vielmehr auf die „produktive bzw. formende Kraft des Mythos“ (Nancy/Lacoue-Labarthe 1994:  184). Der Mythos, in diesem modernen Sinn verstanden, will nicht nur eine Erzählung über Geschichte und Ursprünge sein, sondern zugleich die Realisierung dieser Erzählung sowohl im Sinne der Selbsterkenntnis wie auch im Sinne der begrifflichen Erfassung eines Konstitutionsprozesses. In den Augen der beiden Philosophen heißt „Mythos“ jene Erfahrung, die sich einstellt, sobald moderne Gesellschaften, die ihre eigenen Voraussetzungen setzen, diese Voraussetzungen im Element des Transzendentalen zu verankern versuchen. Die historische Erfahrung Deutschlands ist diesbezüglich äußerst erhellend (wenn auch gewiss nicht exemplarisch oder einzigartig, wie wir noch sehen werden).

Das moderne „Deutschland“ war, wie die Autoren erklären, in einem historischen „Double-Bind“ gefangen, der mit dem Problem historischer Nachahmung in Zusammenhang stand. Sowohl gegenüber der Gegenwart (repräsentiert durch „Frankreich“, das lange vor „Deutschland“ einen modernen und militärisch aggressiven Nationalstaat entwickelte, der auf einem Prinzip der Homogenität basierte, das sich über verschiedene Bereiche der Sprache, des Territoriums sowie des Markts erstreckte) wie auch gegenüber der Vergangenheit (repräsentiert durch Latinität und die neoklassische Aneignung „Griechenlands“) sah sich das moderne „Deutschland“ mit dem Problem der Nachahmung konfrontiert. Dieser doppelte Mangel, der sich in der Geschichte des Kolonialismus anschließend wiederholen sollte, stellte nicht nur die Identität in Frage, sondern auch den Subjektivierungsprozess. „Deutschland ist, anders gesagt, nicht nur identitätslos, es fehlt ihm auch das Eigentum an seinem Identifizierungsmittel“ (Nancy/Lacoue-Labarthe 1994:  174). Es mag schwierig sein, in einer Zeit des Neuschreibens der Geschichte zu leben, wie nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als „Deutschland“ eine problemlose Inklusion in den „Westen“ zugestanden wurde, um so seine Beteiligung an der antikommunistischen Front sicherzustellen. Dies sei hier nur erwähnt, um an die Besorgnis in Bezug auf die Frage zu erinnern, ob „Deutschland“ Teil des „Westens“ sei, die das „deutsche“ Denken und die „deutsche“ Kultur durch die schwierige Periode der Moderne hindurch kennzeichnete. Beginnend damit, dass im 18. Jahrhundert „kaum eine deutsche Sprache existierte“ (Nancy/Lacoue-Labarthe 1994:  174) begann die moderne Suche „Deutschlands“ nach „Identifizierungsmitteln“ mit der Aneignung des gegenständlichen Bildes der Übertragung durch Übersetzung. Obgleich diese Aneignung von der „Identifizierung […] der deutschen Sprache mit der griechischen“ ihren Ausgang nimmt (Nancy/Lacoue-Labarthe 1994:  177), bewegt sie sich rasch weg von der sprachlichen Identifizierung zur gegenständlichen Ebene des einheitlichen Bildes. Nicht, dass „Deutschland“ in „Griechenland“ eine mythologische Ausdrucksquelle findet; vielmehr entdeckt es in der griechischen Mythologie eine Macht, um „Fiktionen“ Wirklichkeit werden zu lassen. Das Subjekt dieser Fiktionen sind anthropologische Bilder oder Typen. Die von „Deutschland“ entdeckte mythologische Macht ist nichts anderes als der Wille, in einer Taxonomie anthropologischer Unterschiede einen anthropologischen Typus zu besitzen. Dies ist eine wahrhaft spekulative Macht, die sich der Realität auferlegt und sie zu „modellieren“ versucht. Doch das „Modell“ wird im Kontext des historischen „Double-Binds“ auch als Quelle oder Ursprung genannt. Die Macht des Mythos (oder der Fiktionierung) ist die Macht, sich das Gattungswesen als idealen anthropologischen Typus vorzustellen, der ursprüngliches Modell und Ziel bzw. historisches Schicksal eines besonderen Volks zugleich ist. Diese Zirkularität ist die Macht der Überlagerung. Viel mehr als eine Identität strebte „Deutschland“ eine „Aneignung von Identifizierungsmitteln“ an (Nancy/Lacoue-Labarthe 1994:  174; Hervorhebung im Original). Mit dem schrittweisen Versuch einer Festigung der „deutschen“ Identität geriet „Deutschland“ jedoch immer tiefer in eine Falle, die ihm durch die Form des historischen „Double-Bind“ auferlegt worden war.

In einem globalen Kontext beschreibt diese „deutsche“ Erfahrung die Quintessenz des Problems nationaler Selbstbestimmung, das sich im Verlauf der Geschichte des Kolonialismus wiederholen wird. Der Versuch, eine nationale Identität zu finden, die in Opposition zum „Westen“ steht, ist eine Form der Kofiguration, in der dem Bild des „Westens“ weiterhin eine zentrale Rolle zukommt. Daher ist es absolut notwendig, zu verstehen, dass der „Double-Bind“ der historischen Nachahmung nicht nur für den kolonisierten „Rest“ ein Problem darstellt, sondern auch für den kolonisierenden „Westen“ konstitutiv ist. Der „Double-Bind“ der historischen Nachahmung lässt sich nicht in den Grenzen eines einzigen Gebiets eindämmen, sondern ist vielmehr essenziell für dessen Wesen als modernes Dispositiv im Allgemeinen. Er bezieht sich genau auf die moderne Vexierfrage von Gesellschaften, die ihre eigenen Voraussetzungen setzen.

Nancy und Lacoue-Labarthe fordern uns dazu auf, diesem Problem „den Status eines politischen Begriffs“ (Nancy/Lacoue-Labarthe 1994:  174) zuzuerkennen, der „eine ganz präzise historische Schicht“ (Nancy/Lacoue-Labarthe 1994:  173) betrifft. Das politische Problem der historischen Nachahmung im modernen Kontext besteht nicht nur in dem Problem, was nachgeahmt werden soll, also einem Problem der Identität, und es ist auch nicht nur das Problem, wer nachahmt, sondern es ist zudem und in erster Linie das Problem, wer oder was durch den Akt der Nachahmung generiert oder produziert wird. In anderen Worten: Es geht um ein Problem des Subjekts, für das die Produktions- und Reproduktionsprozesse des Lebens politisch auf dem Spiel stehen. Der Ort dieser „präzisen Schicht“, die Nancy und Lacoue-Labarthe ausfindig machten, ist letztlich gleichbedeutend mit dem, was Foucault Biopolitik nannte. Zwischen dem Subjekt der Nachahmung und dem durch die Nachahmung geschaffenen Subjekt lässt sich zweifellos ein komplexer Pfad[1] verfolgen, der die „paradoxe“ Natur der „ästhetischen Exemplarität“ (Lacoue-Labarthe/Nancy 1994: 176) in der Formierung der modernen Taxonomie eines „anthropologischen Unterschieds“ begründet. Hier muss jedoch festgehalten werden, dass das zirkuläre Wesen der Beziehung zwischen den beiden Subjekten durch die mythologische Kraft des Typus als einer lebendigen Art eingefangen wird.  Die von Lacoue-Labarthe und Nancy vorgeschlagene „Geschichte der Fiktionierungen“ (Lacoue-Labarthe/Nancy 1994: 173) ist folglich eine Geschichte der biopolitischen Taxonomie, die nach dem „Eintritt des Lebens in die Geschichte“ auftritt, den Foucault bekanntermaßen als die Geburt der Biopolitik ausmachte. Diese Typen sind keine Repräsentationen tatsächlicher Dinge, sondern Projektionen einer formenden Macht, eines Begehrens, das der Kluft zwischen Ursprung und historischer Entwicklung entspringt.

Die retroaktive Überlagerung ist zweifellos entscheidend für das Hervorbringen von Subjekten im Gebietsdispositiv. Aber dies rührt nicht, wie gemeinhin angenommen wird, von der konfliktiven Mannigfaltigkeit der Ursprünge und Geschichten her, die durch jedes einzelne dieser Gebiete repräsentiert werden. Wir haben es stattdessen mit einem Double-Bind „zum Quadrat“ zu tun. Der kapitalistische Double-Bind einer Nachahmung von Ursprung und Geschichte, der die Geschichte der ursprünglichen Akkumulation ausmacht, wird durch den kolonialen Double-Bind vervielfältigt, der sich aus dem unvermeidlichen Problem der Nachahmung zwischen hierarchisch organisierten und unterteilten Gebieten ergibt, denen jeweils ein konkretes und inkommensurables Zweigespann Ursprung/Geschichte eignet. Gerade weil die Geschichte in der modernen Epoche immer der Ort dieses „Double-Bind zum Quadrat“ ist, hat sie für unsere Analyse dermaßen große Bedeutung, als jener Ort, der die mythische Produktion eines Subjekts hervorruft, das im anthropologischen Unterschied angelegt wird. Geschichte ist der Bereich, in dem die subjektive Technik der Überlagerung ausgeübt wird – und zwar genau als Mythos, als Mythos einer kollektiven Fähigkeit des Menschen, kollektiv Individuen und individualisierte Kollektive zu bilden.

Sowohl Foucaults Archäologie wie auch seine spätere Genealogie sind strategische Interventionen in diese Technik. Im Lichte der Anstrengungen Foucaults, unsere Aufmerksamkeit auf die generative statt auf die repressive Seite der Macht zu lenken, ist es äußerst wichtig, darauf zu bestehen, dass das, was wir Überlagerung genannt haben, nicht nur bedeutet, dass sozialen Akteur_innen äußere Zwänge auferlegt werden. Vielmehr beinhaltet die Überlagerung auch den Prozess einer Doppelung, die subjektive Positionen ebenso erschließt wie das Element der Erhebung, das erlaubt, die Taxonomie des anthropologischen Unterschieds auf die Topographie von Gebieten zu projizieren.

Diese produktive Doppelung von kolonialer Differenz und kapitalistischer Akkumulation anzuerkennen zwingt uns dazu, uns in unserer Kritik des Gebietsdispositivs einem Problem der Mitteilbarkeit zu stellen. Um dieses Problem zu erläutern, könnte ein genauerer Blick auf die Kritik hilfreich sein, die Giorgio Agamben gegenüber dem „Dispositiv“ formuliert.


Agambens Dispositiv

In diesem Abschnitt komme ich auf Agambens kurzen Essay Was ist ein Dispositiv? zurück, nicht nur um Anhaltspunkte dafür zu finden, wie das Dispositiv funktioniert und wie wir ihm entkommen können, sondern auch um eine Reihe von Problemen in Agambens Text zu untersuchen, die das Problem von Kommunikation und Übersetzung in Hinblick auf den hartnäckigen Fortbestand des Gebietsdispositivs verdeutlichen.

Agamben beginnt seinen Essay mit einer kurzen zusammenfassenden Definition des Dispositivs. Die wesentlichen Punkte sind: 1) Es setzt sich aus heterogenen Elementen zusammen, die sprachlich und nicht-sprachlich sind; 2) es hat eine konkrete Funktion, die auf eine gewisse Dringlichkeit in sozialen Verhältnissen antwortet; 3) es ist in der Verschränkung von Wissen und Macht zu verorten. Nachdem Agamben das Dispositiv auf so elementare Weise definiert hat, spürt er der Genealogie dieses Konzepts über eine historische Wegbeschreibung nach.

Ich überspringe den hegelianischen Teil dieser Wegbeschreibung und komme rasch zu dem, wofür Agamben die Bezeichnung „theologische Genealogie der Ökonomie“ (Agamben 2008: 19) wählt. Diese umspannt eine historische Periode von ungefähr 500 Jahren, die vom 2. bis zum 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung reicht. Während dieser Periode übernimmt das griechische Wort oikonomia eine „entscheidende Funktion in der Theologie“, von der man als einer „göttlichen Ökonomie“ sprach (Agamben 2008: 19). Das ist Agamben zufolge entscheidend, um die besondere philosophische Position des Dispositivs in modernen Gesellschaften zu verstehen. Frühe Kirchenväter griffen auf den Begriff oikonomia zurück, um dem Polytheismus, der in den Gesellschaften dieser Zeit noch ein drängendes Problem war, das Potenzial zu nehmen, über das Dogma der Trinität wieder in die Kirche Einzug zu halten. Philosophisch hat dieser Schachzug tiefgreifende Folgen. Das Sein oder die Essenz werden der Praxis oder dem historischen Handeln entrissen. Daraus folgt „nichts Geringeres als eine, recht grobe Aufteilung des Vorhandenen in zwei große Gruppen oder Klassen: einerseits die Lebewesen (oder die Substanzen), andererseits die Dispositive, von denen sich jene unablässig gefangen nehmen lassen“ (Agamben 2008: 26). Aufgrund dieser Aufteilung müssen Dispositive ein Subjekt produzieren, das die durch den Mangel an Sein entstandene Lücke zu füllen vermag. Subjekte sind, so betont Agamben, die dritte „Klasse“, die den „Nahkampf“ (Agamben 2008: 27) zwischen den anderen beiden schlichtet.

Die Äquivalenz zwischen Lebewesen und Substanz ist klassisch, und doch lässt es sich Agamben nicht nehmen, darauf zurückzugreifen. Agamben ist in Sachen Ontologie nun gewiss kein aristotelischer Thomist. Ich vermute, seine Wahl dieser Sichtweise ist nicht philosophisch begründet, sondern hat mit einer historischen Entscheidung zu tun.

Geschichtlich ist das Dogma der Trinität nichts anderes als die durch das souveräne Gebot aufrechterhaltene Vorschrift, der Vorgabe des Hylemorphismus treu zu bleiben. Die Kirchenväter hätten das Problem des Polytheismus einfach durch die völlige Abschaffung des Dogmas vermeiden können (wie dies etwa im Islam der Fall war). Dies hätte jedoch dem Christentum die außergewöhnliche Kraft zur Aneignung genommen, die in der Bestimmung einer numerischen Einheit – „drei Personen, ein Sein“[2] – liegt. Diese Geste, eine paradigmatische Form spekulativer Überlagerung, bereitet den Boden für einen expansionistischen – wagen wir zu sagen: kolonialisierenden – Universalismus.

Was aber bedeutet es, festzustellen, dass philosophisches Denken „den Boden bereitet“? Zweifellos läuft es auf eine dramatische Lektüre hinaus, wenn man dem Pfad folgt, der über den Umweg einer „theologischen Genealogie der Ökonomie“ das aufspürt, was diese Vorgabe der „abendländischen Kultur hinterlassen hat“, wie Agamben es formuliert (Agamben 2008: 21). Der Sinn dieses Erzähldramas leitet sich selbstverständlich nicht aus der Partikularität des Westens ab, sondern aus seinem angeblichen Universalismus, der im Rest von Agambens historischem Narrativ offensichtlich wird. Dieses Narrativ ersetzt „Kapitalismus“ und „Moderne“ klammheimlich durch einen anderen Begriff, nämlich den des Abendlandes, dem noch zu viel Partikularität anhaftet. Und in genau diesem Sinn ist die „theologische Genealogie der Ökonomie“ ein weiteres Dispositiv, insofern es, wiederum in Agambens Worten, „Kenntnisse“ sind, die darauf abzielen, „das Verhalten, die Gesten und die Gedanken von Menschen zu verwalten, zu regieren, zu kontrollieren und in eine vorgeblich nützliche Richtung zu lenken“ (Agamben 2008: 24; Hervorhebung durch J. S.).

Es geht hier nicht um die Kritik eines kruden philosophischen Okzidentalismus. Es ist vielmehr, um bei den klassischen Begriffen zu bleiben, die Agamben verwendet, ein Fall von „Praxis und Sein“, die „als untrennbar wahrgenommen und gelebt werden“ (Zartaloudis 2008: 133). Die Proposition der „Untrennbarkeit“ ist nicht so simpel, wie sie vielleicht klingen mag. Doch sie kann vorläufig, bis wir ein passenderes Konzept gefunden haben, als Anhaltspunkt oder als Platzhalter fungieren. In Agambens Essay über das Dispositiv geht diese Untrennbarkeit genau im Zusammenhang mit der Frage sprachlicher Mitteilbarkeit verloren. Seine Wahl des Mobiltelefons als privilegiertes Beispiel für das aktuelle Dispositiv ist symptomatisch. Sein humorvolles Eingeständnis, einen „unbändigen Hass auf dieses Dispositiv [das Mobiltelefon]“ entwickelt zu haben, der ihn dazu brachte, „Überlegungen anzustellen, wie man die Handys zerstören oder ausschalten könnte“ (Agamben 2008: 29), ist ein symptomatischer Hinweis auf den Grad an subjektivem Einsatz, den dieser Punkt erregt.

Welche Rolle hat nun die Sprache in diesem Essay über das Dispositiv? Von den drei Rollen, die ich dort wahrnehme, möchte ich die Aufmerksamkeit auf diejenige lenken, die unserem Thema am nächsten ist, nämlich die der Übersetzung. Übersetzung übernimmt in der Konstruktion der „theologischen Genealogie der Ökonomie“ in erster Linie die Rolle der Etymologie und der Artikulation. Der griechische Begriff oikonomia wird mit dem lateinischen Wort dispositio in Zusammenhang gebracht, und zwar so, dass der letztere Begriff „den komplexen Bedeutungsumfang “ des ersteren „annimmt“ (Agamben 2008: 23). Übersetzung in Gestalt der Etymologie ist ein Verfahren, das eine verräumlichte Repräsentation kultureller Sphären und einen Prozess der Übertragung zwischen beiden ermöglicht. Agambens Narrativ ist also ein Beispiel für eine klassisch moderne Repräsentation von Übersetzung als einer Form der translatio (des Transfers) zwischen gesonderten sprachlich-kulturellen Sphären. Es geht mir hier nicht darum, die etymologische Filiation an sich anzufechten, die Agamben brillant nachzeichnet, sondern vielmehr die Art  und Weise, wie er diese zu einem repräsentativen Bild kultureller Kontinuität projiziert. Michael Herzfeld, ein Anthropologe Griechenlands und Thailands, fasst das folgendermaßen zusammen: „Etymologie legitimiert nicht nur eine nicht notwendig existierende Verbindung, sondern lenkt auch die Aufmerksamkeit von der Kurzlebigkeit dieser Verbindung ab: Sie materialisiert sie sozusagen, indem sie von verwandten Signifikanten spricht, als hätten diese eine einzige Bedeutung, und alle zeitlichen Veränderungen in der Bedeutung hinter einer einzigen, untrennbaren und zeitlosen Wahrheit verbirgt“ (Herzfeld 2002: 910). In einem postkolonialen Kontext könnte die Bedeutung der kulturellen Übersetzung, die sie durch die Etymologie erhält, kaum ausgeprägter sein. Der historische Kontakt zwischen Bevölkerungen vor der kolonialen Begegnung wird in der Etymologie auf immer gleichbleibende Weise kodiert und bildet eine Art „tiefes historisches Gedächtnis“ früheren historischen Kontakts. Das Spezifische der kolonialen Begegnung ist indes eben der Tatsache zuzuschreiben, dass Bevölkerungen einander ohne diese Art von „tiefem historischen Gedächtnis“ begegnen, das von der Etymologie kodiert wird. Stützt man sich also auf die Etymologie, um die Geschichtlichkeit moderner Philosopheme zu erklären, so wird die Sicht auf den Kolonialismus als Ursache und Wirkung dieser Phänomene verstellt. Aus dieser Perspektive ist die etymologische Geste nur ein weiterer Versuch einer retroaktiven Bewältigung der problematischen Zirkularität moderner Gesellschaften.


Griechenland: Der Mythos des Westens

Unter anderem beweist sich der Westen als Paradigma des modernen Gebietsdispositivs dadurch, dass er Übersetzung als kulturelle Übertragung durch die disziplinäre Kontrolle von Wissensbeständen institutionalisiert hat. Elemente für eine Archäologie dieser institutionellen Konfiguration finden sich in Herzfelds Beschreibung einer nicht eingestandenen kolonialen Problematik, die der Anthropologie als Disziplin zugrunde liegt. Es geht nicht nur darum, dass die Anthropologie in dem Projekt der Aufklärung wurzelt, das intrinsisch mit dem Kolonialismus verbunden ist, und nach einer wissenschaftlich erschöpfenden Taxonomie menschlichen Seins strebt (demgegenüber Herzfeld den Vorschlag macht, Taxonomie gegen Taxonomie zum Einsatz zu bringen). Vielmehr geht es um die Idee, dass die Anthropologie innerhalb eines Wissensgebiets über den als Instanz eingesetzten Mythos waltet. Im Fall der modernen Anthropologie zerfällt dieser Mythos in zwei Teile: einerseits den im Wesentlichen cartesianischen Mythos des vom mythos getrennten logos; andererseits wird sie zu jenem Ort, an dem der Westen als Mythos zunächst konstruiert wurde. Wie Herzfeld ausführlich darlegt, geht es um die Geschichte einer Disziplin, die sich auf griechische Ursprünge beruft, nur um ihre eigene Geschichtlichkeit zu verbergen. Diese Geschichte erfasst „Griechenland“ und unterteilt es – sowohl bildlich wie wörtlich – in Disziplinen, Übersetzungen sowie in eine Ökonomie der Verschuldung. Steht „Griechenland“ in der Schuld „Europas“ oder „Europa“ in der Schuld „Griechenlands“? Wie muss die Perspektive verändert werden, um einen Umgang mit der Akkumulation von Schulden in der Subjektivierungsweise statt in der Produktionsweise zu finden? Von einem „Wechselkurs“ zwischen beiden zu sprechen, würde bedeuten, dem ökonomischen Subjekt den Vorrang zu geben – insbesondere in einer Zeit, in der die Schuld ein Mechanismus ist, um sich kollektiver Verantwortung zu entledigen.

Im Kontext der gegenwärtigen europäischen Schuldenkrise sowie des „Defizits der Demokratie“ (Balibar 2004) ist es von außerordentlicher Bedeutung, Herzfeld zu folgen, wenn er eine Verbindung zwischen dem Akkumulationsregime und dem Gebietsdispositiv zieht:

 „Ich werde [dieses Phänomen] Kryptokolonialismus nennen und es als jene seltsame Alchemie definieren, durch die gewisse Länder, Pufferzonen zwischen den kolonialisierten und den noch wilden Territorien, dazu gezwungen wurden, ihre politische Unabhängigkeit mit einer enormen ökonomischen Abhängigkeit zu bezahlen. Diese Beziehung wurde in der ikonischen Gestalt einer aggressiven nationalen Kultur zum Ausdruck gebracht, die so gestaltet wurde, dass sie fremden Modellen entsprach“ (Herzfeld 2002: 900-901).

Nach der Lektüre Herzfelds kann ich nur vermuten, dass die Gründe dafür, dass die europäische Krise entlang einer griechisch-deutschen Achse lokalisiert ist, weder zufällig noch auch auf neoliberale Strategien reduzierbar sind. Es geht hier auch um die grundlegende Unfähigkeit der europäischen Konstruktion, sich des Mythos des Westens zu entledigen. Es scheint, dass jede größere europäische Krise des vergangenen Jahrhunderts mit der grundlegenden Frage in Zusammenhang gebracht wurde, ob (oder wie) der „Kolonialismus“ – der eigentlich für Gebiete außerhalb „Europas“ reserviert zu sein schien – als legitime Option der Bevölkerungsverwaltung im „europäischen“ Raum eingeführt werden kann.


Profanierung

Am Ende seines Essays über Dispositive kehrt Agamben zur „Profanierung“ zurück, einem wiederkehrenden Thema in seinem Werk, das er als Vorlage anbietet, um sich von den Dispositiven zu befreien. Sein Argument basiert auf dem juridisch-religiösen Status, den dieser Begriff im alten Rom innehatte. Während das Heilige die Dinge der gewöhnlichen und von allen geteilten Welt entzieht und so eine Form der Trennung instituiert, die allen Machtverhältnissen zugrunde liegt, führt die Profanierung die Dinge wieder dem gewöhnlichen Gebrauch zu. Profanierung bedeutet nicht, Dispositive zu zerstören oder zu beseitigen, sondern ist vielmehr eine Praxis, die diese wieder dem gewöhnlichen Gebrauch zurückgibt. Ich sehe nicht, wie es möglich sein sollte, in einem postkolonialen Kontext einen Begriff wie den der Profanierung auf allgemein übliche Weise zu verwenden, da er intrinsisch mit einer spezifischen Zivilisations- und Religionsgeschichte verbunden ist. Wenn „ein absolut profanes Leben“ wie Agamben schreibt, eines ist, „das die Vollkommenheit der eigenen Potenz und der eigenen Mitteilbarkeit erreicht hat“ (Agamben 2000: 114–115), dann ist es unmöglich zu verstehen, wie der Begriff der Profanierung diese Mitteilbarkeit erreichen sollte angesichts der Aneignung durch den Diskurs eines „Kampfs der Kulturen“. Auch das Handy, das für Agamben verachtenswerte Aspekte des Dispositivs exemplifiziert, ist eines jener Elemente, die uns sehr unmittelbar an das vertraut globale, miteinander verbundene Zeitalter erinnern, in dem wir leben. Man kann sich niemals sicher sein, von woher die Person am anderen Ende der Leitung (oder App) anruft. Würde Agamben sein Projekt gegenüber der Mitteilbarkeit der Profanierung in sozialen, politischen und institutionellen Situationen „ver-antwortbar“ machen, in denen beispielsweise die arabische Sprache Standard ist, könnte dieser Prozess zumindest als eine Geste in Richtung eines Akts der Befreiung vom Gebietsdispositiv bezeichnet werden, wenn er nicht gar unmittelbar einen Akt der Befreiung begründet. Im Gegensatz dazu wäre Naoki Sakais Kritik des Übersetzungsregimes, das auf den Annahmen homolingualer Adressierung aufbaut, ein ausgezeichnetes Beispiel für die Art von Handlung, die Agambens Konzept der Profanierung anstrebt, allerdings ohne den Ballast der Übersetzung, den dieses Konzept mit sich trägt. Wir müssen jedoch sehr vorsichtig sein, damit aus der heterolingualen Adressierung kein neuartiger Mechanismus der Verknüpfung von Theorie und Praxis wird. 

Als Theorie kann die heterolinguale Adressierung ihre eigene Mitteilbarkeit nicht gewährleisten. Im Kontext der tatsächlichen Unterteilungen der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften  entsprechend den Prinzipien des anthropologischen Unterschieds, muss daran erinnert werden, dass die Subjektivierungsprozesse durch die Ökonomie nicht gleichmäßig über den Globus verteilt sind, sondern – wie die kapitalistische Wirtschaftsaktivität im Allgemeinen – den auf sozialen Institutionen basierenden Austauschmodalitäten unterliegen, die durch alle Arten von Ungleichheit und Differenz überkodiert werden. Hier ist das Beispiel der „China-Studien“ von Bedeutung: Da China-Studien ein Wissensfeld sind, das sich vermeintlich auf ein spezifisches Gebiet und eine spezifische Bevölkerung bezieht, ist es kaum von Belang, wie schlecht „China“ und „Chinesisch-Sein“ eigentlich definiert sein mögen. Wichtig ist vielmehr die Kompliz_innenschaft zwischen dem Prozess einer Subjektivierung durch das Ökonomische im institutionellen Feld und dem Prozess der Subjektivierung durch das Ökonomische in den eigentlichen sozialen Verhältnissen, die als Studienobjekte dargestellt werden. In dieser sozialen Realität, das heißt, in chinesischen sozialen, politischen und kulturellen Institutionen, vollzieht sich der Prozess der Subjektivierung durch das Ökonomische im Verhältnis zu den doppelten Geschichten von sowohl Kolonialismus wie Kapitalismus, eine Kombination, die einer politischen Kommunikation der Befreiung vom Gebietsdispositiv größere Hindernisse in den Weg legt. Solche Hindernisse werden durch Jacques Rancières Begriff des „Unvernehmens“ oder durch Jean-François Lyotards Idee des „Widerstreits“ im Wesentlichen zusammengefasst. Ohne die Unterschiede zwischen diesen beiden zu verbergen, möchte ich auf folgenden Punkt aufmerksam machen: Die Verschiedenheit der Gesichtspunkte macht es unmöglich, einen gemeinsamen Zugang zu einer gemeinsamen Welt gemeinsam zu kommunizieren. Aus eben diesem Grund können jene Intellektuelle, die in anderen Disziplinen als den China-Studien arbeiten und deren Glaube an ihre eigene Exteriorität oftmals Ausdruck einer echten Bescheidenheit und eines Respekts für die anderen ist, nicht als vom Gebietsdispositiv ausgenommen betrachtet werden, in dem sich diese „chinesischen“ Subjekte formieren. Ganz im Gegenteil, das Gebietsdispositiv durchdringt die Universität zur Gänze und kein noch so frommer Respekt für „Andersheit“ kann daran etwas ändern. Das gilt insbesondere für die heutige „Finanzuniversität“, an der disziplinäre Themen besser denn je mit dem Thema der Ökonomie übereinstimmen. „Kulturelle Übersetzung“ zu akzeptieren bedeutet letztlich, diese Vorgabe der Ökonomie zu akzeptieren.

Die Asymmetrie und Inkommensurabilität, die die Theorien des „Unvernehmens“ und des „Widerstreits“ motivieren, sind nur insofern haltbar, als von einer Kontinuität zwischen den Registern von Denken und Handeln, Theorie und Praxis ausgegangen wird. Eine solche Kontinuität ist genau das, was die Überlagerung als eine allgemeine Figur des transzendentalen Moments im modernen Denken ausmacht. Wenn wir indes, wie Bernard Aspe vorschlägt, Denken und Handeln im Sinne einer Nicht-Beziehung unterscheiden, dann besteht  unsere Aufgabe darin, die geeigneten Mittel zu finden, um zwischen den beiden zu „springen“, und zwar ohne spekulative Artikulation oder Überlagerung.

Als Praxis eröffnet die heterolinguale Adressierung die Zeitlichkeit, in der ein solcher Akt des „Springens“ möglich wird. Erinnern wir uns daran, dass die homolinguale Adressierung ihre Wirksamkeit nicht durch den Mitteilungsgehalt der Adressierung erhält, sondern durch die Zeitlichkeit des sozialen Verhältnisses, in der diese Adressierung stattfindet. Wir müssen sehr vorsichtig sein, um der heterolingualen Adressierung nicht politische Aufgaben abzuverlangen, die sie nicht erfüllen kann. Der Gegensatz zwischen der heterolingualen und der homolingualen Adressierung entsteht nur auf einer Seite der Kommunikation, dem Objekt der Repräsentation und Iterabilität. Hier ist die heterolinguale Adressierung eine Theorie, die uns an das erinnert, was den Akt der übersetzenden Begegnung überlagert. Der Moment der heterolingualen Adressierung in der Begegnung als Akt kann indes nicht positiv definiert werden und „bedeutet“ an sich nichts. Wenn wir den Unterschied zwischen der heterolingualen Adressierung als Akt und als Theorie nicht aus den Augen verlieren, bleiben wir offen gegenüber der Unbestimmtheit sozialer Beziehung und der Temporalität von Praxis. Aspe nennt dies „den Augenblick“. In genau diesem „Augenblick“ löst sich die Kontinuität zwischen Denken und Handeln auf, die für den „Widerstreit“ oder das „Unvernehmen“ als wesentlich gilt.

In anderen Worten, es braucht keine Prosa (oder Poetik) der Übersetzung, sondern eine Politik des Transfers (translatio) oder der Transposition, für die Aspe die Figur des Sprungs (le saut) gebraucht. Wenn, wie Balibar schreibt, „die Emanzipation der Unterdrückten nur ihr eigenes Werk sein [kann], was unmittelbar dessen ethische Bedeutung unterstreicht“ (Balibar 1993: 111), dann kann die Emanzipation vom Gebietsdispositiv, das entweder alle oder niemanden unterdrückt, nur durch einen Sprung ins Außen des Gebietsdispositivs erfolgen – das heißt, ins Außen seiner hylemorphischen Ontologie und Unterwerfungsweisen. Das ist kein sprichwörtlicher „Vertrauensvorschuss“, sondern vielmehr eine Verweigerung transzendentaler Gesten (wie etwa die Berufung auf eine Metasprache), die zur Verbindung von Theorie und Praxis unumgänglich nötig sind.


Exodus

Von Gavin Walker kommt ein Beitrag zur Kritik des Gebietsdispositivs, der in der Zukunft sicherlich in seiner Bedeutung erfasst werden wird.  Darin macht er den Vorschlag, dass wir die subjektive Investition in das Gebietsdispositiv als eine Form der Ethik betrachten müssen. Es handelt sich indes um eine Ethik, die in ihrer gegenwärtigen Form jedes emanzipatorische Handeln zugunsten der Ökonomie aufgegeben hat: Sie ist ein reines Mittel, das von einem unendlich sinnlosen Ziel auf virale Weise angeeignet wurde. Dieser kindischen Ethik gegenüber schlägt Walker eine Strategie des Exodus vor sowie eine Aneignung dessen, was ich als Technik der Überlagerung bezeichne: 

„In diesem Sinne können die area studies nicht überwunden werden, sondern müssen durch eine subtraktive Strategie des Exodus, durch die Beseitigung ihres grundlegenden Elements, das wir selbst sind, zweigeteilt werden. Solch ein Exodus ist herbeizuführen und kann nicht entdeckt werden, indem neue Formen der Begegnung und der theoretischen Praxis, neue Nähen, Distanzen und Beziehungen geschaffen werden, eine Überlagerung der Konturen, Abgrenzungen und Verfahren an anderen Orten als jenen, an denen sie erwartet werden“ (Walker: im Erscheinen).

Diese Passage irritiert mich, da sie meinen Verdacht bestätigt, dass jenen, die das Gebietsdispositiv einem gewöhnlichen Gebrauch zurückgeben wollen, als einzige ethische Handlung offen steht, die Finanzuniversität insgesamt zu verlassen. Innerhalb der Finanzuniversität scheint eine „profane“ Aneignung der subjektiven Technik der Überlagerung unmöglich. Unabhängig von der kritischen Kraft der eigenen Publikationen und Forschung bleibt es dabei, dass das, was so gut wie alle von uns – oder vielleicht nur ich? – an der Universität tatsächlich tun, der Praxis einer mythologischen Überlagerung gewidmet ist, die unsere Subjektivierung durch die Ökonomie verschleiert. Das führt zu normalisierten Assemblagen von Körpern, Sprachen und Gedanken, die in ihren Handlungen unablässig die Mythologie „zu erwartender Plätze“ reproduzieren. Der fundamentalste „Platz“, der eine_r an der Universität schließlich zugewiesen wird, ist der Ort einer „Monopolisierung der Wahl“ (Aspe) durch die Sphäre der Ökonomie.

Dies kann sich nur durch ein Bekenntnis zum politischen Handeln ändern, wie Aspe vorschlägt. Für Intellektuelle in „Europa“ beginnt politisches Handeln mit der Weigerung, ihren „erwarteten Platz“ in den kolonialen/kapitalistischen Einteilungen der intellektuellen Arbeit einzunehmen, der durch Sprachkompetenz, disziplinäre Aufteilungen, räumliche Anordnungen und institutionelle Evaluationen widergespiegelt wird. Wir sprechen hier offensichtlich von einem institutionellen Wandel, der nur als radikal oder revolutionär bezeichnet werden kann, da die Wissensdisziplinen wie die Organisation von Bevölkerungen zugleich neu organisiert werden müssen. Keine dieser Dimensionen kann die Voraussetzungen oder Fundierung für die jeweils andere bereitstellen. Es handelt sich um einen Aspischen Sprung ins Außen, in dem Denken und Handeln einander nicht gegenseitig ersetzen können.

Wenn es wahr ist, dass der erste Schritt zur Befreiung vom Dispositiv mit Verweigerung beginnt, was folgt dann darauf? Agambens Antwort lautet, dass sich nichts grundlegend ändert. Alles bleibt, wie es vorher war, mit dem grundlegenden, radikalen Unterschied, dass es keine Trennung mehr gibt. Profanierung läuft auf ein Ende der Trennung hinaus. Dies könnte als besonders spekulative Haltung erscheinen. Aus diesem Grund schätze ich Aspes philosophische Überlegungen zu einem Leben „ohne Zurückhaltung“, die ihn in eine andere Richtung führen als Agambens „Leben ohne Trennung“. Letzteres ist eine heideggerianische Theoretisierung der „Ungetrenntheit“, die das Denken neuerlich im Spekulativen verankert – selbst wenn es sich dabei um ein von aller Spekulation abgeschnittenes Spekulatives handelt – zumindest im Sinne des Deutschen Idealismus. Aspes Zugang rückt stattdessen die uns auferlegte Nicht-Beziehung in den Mittelpunkt sowie die Herausforderung eines vorbehaltslosen „Sprungs“ ins Außen und/oder zwischen die beiden.

Wichtig für die Ablehnung eines „Lebens ohne Trennung“ zugunsten eines „vorbehaltlosen Sprungs“ ist die von Aspe getroffene Unterscheidung zwischen Akt und Arbeit. Ein Akt wird mit etwas Neuem in Verbindung gebracht; eine Arbeit mit Beendigung und Ende. Im Hinblick auf das Politische muss diese Differenz im Moment des Auferlegens gefunden werden. Der politische Akt erlegt einen Anfang auf – einen Anfang, der aus der Sicht von linearen Kausalitätsketten unmöglich scheint.

Um was für eine Art von Auferlegen handelt es sich indes? Ein Anfang ist genau das, was Aspe zufolge das Paradox darstellt, seine eigene Voraussetzung zu sein (Apse 2011: 106). Das ist das Problem, mit dem dieser Essay begann, das als die wesentliche Vexierfrage moderner Gesellschaften bezeichnet wurde. Das Neue an Aspes Arbeit ist, dass sie dazu auffordert, mit all den verschiedenen Formen einer spekulativen Überlagerung zu brechen, die – durch die Gleichsetzung von Geschichte und Wissen – die rationale Äquivalenz zwischen dem eröffnenden Moment und seiner Voraussetzung zu verstehen versuchen. Schließlich findet sich in Aspes Arbeit eine Alternative zu der Trauer, wie sie von dekonstruktiven Autor_innen wie etwa Lacoue-Labarthe zum Ausdruck gebracht wird. Auf einer 1992 in Strasbourg abgehaltenen Konferenz, „Thinking Europe at Its Borders“ fokussierte Lacoue-Labarthe seine Intervention auf die Frage der „Nachträglichkeit“ (l’apres-coup[3]): „In ihrer abruptesten und daher paradoxesten Definition bezeichnet Nachträglichkeit die verspätete – aber anerkannte – Manifestation von etwas, das nicht geschah oder nicht die geringste Chance hatte, zu geschehen. Etwas, das stattfand, ohne stattzufinden“ (Géophilosophie de l’Europe 1992: 74). Lacoue-Labarthe identifiziert diese „retroaktive“ Eigenschaft als die philosophisch wichtigste Bewegung europäischer Modernität und schließt: „Nachträglichkeit kann auch ganz einfach die Form des Bedauerns oder der Reue annehmen“ (Géophilosophie de l’Europe 1992: 76). Aspes vorsichtige Formulierung eines „Sprungs“ als Verweigerung des religiösen Vertrauensvorschusses sieht im Gegensatz dazu keine Notwendigkeit für trauernde Reue, da sie eine Alternative zum politischen Oszillieren zwischen der Diktatur des Proletariats und der Diktatur der Ökonomie anzubieten hat. In anderen Worten, es wird von uns verlangt, das, was sich uns auferlegt, direkt anzusehen – uns dem Auferlegen zu stellen, ohne bei einer Überlagerung Zuflucht zu nehmen. Im Fall des eröffnenden Anfangs bedeutet dies zumindest, „ins Außen der Kette dieser [spekulativen] Folgerungen zu springen“ (Aspe 2011: 105). Eine Transposition angesichts eines Auferlegens, die die Überlagerung verweigert.


Die Politik der Transposition und der Arabische Frühling

Um die potenzielle Politik der Transposition zu illustrieren, möchte ich einige wenige Anmerkungen zum „Arabischen Frühling“ machen. Von den vielen Aspekten des Arabischen Frühlings, die Aufmerksamkeit und Analyse erforderlich machen, springen fünf der von Balibar und Brossat auf prägnante Weise identifizierten Aspekte unmittelbar ins Auge: 1) das Vermächtnis der kolonialen Begegnung (wovon Migrationen nur ein Teil sind), das ein wesentliches Element historischer Irreversibilität darstellt; 2) das „System geheimer Absprachen“ zwischen den Eliten in westlichen und nicht-westlichen Staaten; 3) der Anfang vom Ende gewisser historisch determinierter soziopolitischer Formen, die unter dem Namen Souveränität zusammengefasst werden; 4) der damit einhergehende Beginn einer Periode beispielloser historischer Transformation; und schließlich 5) die Ambiguität einer Situation, die aus unserer kollektiven Unfähigkeit rührt, bekannte alte Konzepte und Widersprüche zu verwenden, um die politischen Einsätze, die auf dem Spiel stehen, klar zu definieren (Balibar/Brossat 2011).

Diese fünf Elemente zusammengenommen verdeutlichen die unvermeidliche Destabilisierung eines Systems, das viel tiefer reicht als das wuchtige Gebäude der Souveränität, um das herum moderne politische Macht im Gefolge der kolonialen Begegnung auf kontingente Weise errichtet wurde. Können wir nicht auch wagen, zu sagen – ohne die Bedeutung und Relevanz des Konflikts zwischen Souveränität und Demokratie zu leugnen –, dass auf der Ebene der „anthropologischen Differenz“, die aus der kolonialen/imperialen Modernität hervorging, eine Transformation in den zugrundeliegenden biopolitischen Strukturen des globalen Systems auf dem Spiel steht?

Um die Bedeutung dieser Frage zu klären, ist es möglicherweise nützlich, eine Arbeitshypothese zu entwerfen, die eine Grundlage für gemeinsame Begrifflichkeiten bildet.

Durch die historische Kontingenz der kolonialen Begegnung initiierte eine soziale Formation, die wir nunmehr aus Gewohnheit „den Westen“ nennen, ein globales Projekt menschlicher Befreiung, das auf zwei Ebenen gleichzeitig operiert: Auf der ersten Ebene findet sich im Wesentlichen die epistemologische Seite des Projekts, die vollständiges wissenschaftliches Wissen über alle Arten von Leben auf dem Planeten Erde anstrebt, die menschliche Gattung selbstverständlich eingeschlossen. Auf der zweiten Ebene findet sich ein Projekt politischer Ontologie, das die rationale Entwicklung einer Form oder von Formen sozialer Organisation zum Ziel hat, die am besten für die Partikularitäten der menschlichen Gattung in all ihren manifesten Formen geeignet sind. Um Michel Foucault zu folgen: Wirklich einzigartig oder beachtenswert im Hinblick auf den modernen Menschen ist nicht das Aufkommen eines „objektiven“ wissenschaftlichen Wissens oder „demokratischer“ politischer Organisation, sondern vielmehr die Verbindung zwischen beidem. Diese Verbindung ist der Tatsache zuzuschreiben, dass unter all den Arten von Leben auf der Erde, der Mensch jene Gattung ist, die an ihrer eigenen Artbildung über Praxen der Sprache, der Arbeit und des Lebens (Reproduktion) beteiligt ist. Wissen über die anthropologische Differenz ist damit auf intrinsische Weise mit der politischen Verwaltung menschlicher Mannigfaltigkeiten verbunden. Wie Foucault bereits sehr früh in seiner Karriere feststellte, führt dies zu einem unablässigen Oszillieren zwischen dem Transzendentalen und dem Empirischen, das ein Kennzeichen der Modernität ist.

Von dieser Hypothese gestützt, können wir möglicherweise eine alternative Erzählung über den historischen Übergang von vielfältigen, isolierten Imperien und tribalen Organisationsformen zu einer einzigen Welt der Nationalstaaten wagen, der den sozialen Übergang zur Moderne begründet. Um hier nun sehr rasch fortzufahren, können wir aus dieser Perspektive sagen, dass die soziale Formation, die uns als „der Westen“ bekannt wurde, eben jene Form der Gemeinschaft ist, die für sich selbst unter allen anderen Formen menschlicher Gemeinschaft, die Schlüsselrolle in der Artbildung des Menschlichen in Anspruch nimmt, also jenen Platz, an dem sich das epistemologische Projekt mit dem politisch ontologischen Projekt zusammenfügt. In diesem Licht betrachtet strebt der Westen danach, die einzige Gemeinschaft zu sein, die sich ihrer selbst durch wissenschaftliches Wissen über die aktive Beteiligung der Menschheit an ihrer eigenen Artbildung bewusst ist. Doch nicht nur aufgrund eines proprietären Anspruchs auf Wissen vermochte der Westen, sich selbst als Pol, Zentrum oder Modell menschlicher Bevölkerungsverwaltung im Allgemeinen herauszubilden. Um diese Position zu besetzen, war es notwendig, aus der Kontingenz einer historischen Begegnung (Kolonialismus) ein politisches System für eine effektive Verwaltung der Bevölkerung zu errichten (effektiv aus der Sichtweise kapitalistischer Akkumulation). Während einer langen Periode des Kolonialismus und der Formierung unabhängiger Nationalstaaten wurde ein asymmetrisches „System geheimer Absprachen“ zwischen dem Westen und dem Rest entwickelt, die arabische Welt selbstverständlich eingeschlossen. Es gibt viele Formen, dieses „System geheimer Absprachen“ zu beschreiben; die zutreffendste hier jedoch  betrifft die Komplizenschaft in der Artenbildung des Menschlichen. Die formalen Mittel, um diese Komplizenschaft zu kanalisieren, sind in der Universalisierung der Souveränität und in ihrer Anwendung auf die Kontrolle von Sprache, Arbeit und Reproduktion (Leben) zu finden. Die „historische Irreversibilität“ des Kolonialismus findet ihre größte Resonanz genau in Zusammenhang mit der Formierung eines postkolonialen/postimperialen Weltsystems souveräner Nationalstaaten. Auf den ersten Blick lässt sich die Unabhängigkeit von kolonialer Herrschaft und Abhängigkeit als Umkehrung der Bedingungen von translatio imperii veranschaulichen (dem fiktiven Transfer einer natürlichen Souveränität in die europäische Kolonialherrschaft). Die gegenwärtige Situation wird indes besser als Irreversibilität und Asymmetrie beschrieben. Und in  diesem Kontext erhält der Beginn des Gemeinsamen, den wir in der Figur de_r Migrant_in erkennen können, seine größte Bedeutung. Die Figur de_r Migrant_in stellt heute die vielleicht sichtbarste Herausforderung für das System menschlicher Artenbildung dar – ein System, das aus der kolonialen Begegnung hervorging und das moderne Zeitalter definiert.

In Diskussionen über die Aussagekraft von Konzepten wie „Bürger_innenkrieg“ und „Aufstand vs. Revolution“, die den Arabischen Frühling beschreiben, ist vielleicht die von uns allen verspürte quälende Unzulänglichkeit solcher Kategorien zur Bemessung der Bedeutung dieses Ereignisses am auffälligsten. Ich frage mich, ob wir es nicht wagen können, zu sagen, dass dieses Ereignis auf vielfältige und komplexe Weise den Anfang eines Zusammenbruchs dieses historisch determinierten Systems institutioneller Komplizenschaft andeutet, das um die Artenbildung des Menschlichen herum errichtet wurde.


Fest

„Europa“ steht vor der Aufgabe, sich vom Mythos des Westens mit all seinen Arten der Differenz zu verabschieden und anstelle dessen etwas anderes entstehen zu lassen. Weder ein „Grexit“ noch ein „Gerxit“[4], sondern einen kooperativen Ausweg aus Europa. Dies impliziert den unmöglichen Akt, sich für das zu entscheiden, was auferlegt wurde: „Sich für die eigene Geburt entscheiden, was in anderen Worten heißt, sich dafür zu entscheiden, das Projekt der Rache für die Ungerechtigkeit, die in der Tatsache der Geburt liegt, aufzugeben“ (Aspe 2011: 103) – die „Tatsache“ der Geschichte aufzugeben (die immer die Geschichte der Viktimisierung und der Vergeltung ist) und das „Gegebene“ zu zelebrieren (das immer die mythische Kraft ist, die eigenen Voraussetzungen als Instanzen zu setzen). Das ist vielleicht nicht allzu weit weg von Walter Benjamins Vision der profanen Welt (abzüglich seines spekulativen Begehrens nach Ungetrenntheit). Es ist eine Welt, in der:

„[…] es eine Universalgeschichte [gibt]. Aber nicht als geschriebene, sondern als die festliche begangene. Dieses Fest ist gereinigt von aller Feier. Es kennt keinerlei Festgesänge. Seine Sprache ist die befreite Prosa, die die Fesseln der Schrift gesprengt hat.“ (Walter Benjamin, Gesammelte Schriften 1: 1235)

Es wäre mir äußerst unangenehm, dem Heiligen Benjamin keinen Respekt zu zollen, aber das Fest, das wir begehen, ist alles andere als gereinigt. Reinheit gehört zum Register des Denkens, nicht zu Körpern. Nicht, dass wir die Unreinheiten des Unbeständigen feiern müssen, aber wir müssen die Unbeständigkeit und Unbestimmtheit ins Auge fassen, die uns der Riss zwischen Handeln und Denken auferlegt. Es ist überflüssig festzustellen, dass es nicht wirklich ein Fest wäre, wenn Schreiben nicht von Handlungen begleitet wäre, und zwar in Weisen, die sich einander gegenseitig ohne die Kette einer transzendentalen Überlagerung aufdrängen, ohne das Gebietsdispositiv. Wahrlich ein Grund zu feiern.


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[1] Peter Button veranschaulicht diesen Verlauf über den komplexen Zusammenhang zwischen Bild*, Einbildungskraft*, Bildung*, Vorbild* und Nachbild* (*alle Begriffe sind Deutsch im Original); vgl. Peter Button, Configurations of the Real in Chinese Literature and Aesthetic Modernity, Leiden: Brill 2009, S. 78 f.

[2] Die philosophische Entscheidung, den Hylemorphismus abzusondern und zwischen dem Singulären/Gemeinsamen und dem Individuellen/Universellen zu unterscheiden (vgl. Paolo Virno, „Die Engel und der General Intellect: Individuation“, in: Grammatik der Multitude, übers. v. Klaus Neundlinger, Wien: Turia+Kant 2009), liegt den Argumenten in diesem Text zugrunde, konnte jedoch auch Platzgründen nicht eingearbeitet werden. Letztlich ist unser Verständnis von Übersetzung so ontologisch wie es politisch ist (und Ontologie ist politisch). Ray Brassier kommentiert dies folgendermaßen: „die Unbestimmtheit der Übersetzung reduziert sich auf die Unbestimmtheit der Individuation“; vgl. diesbez. Ray Brassier, „Beyond the Non-Rabbit: Kant, Quine, Laruelle“, in: Pli, Nr. 12, 2001, S. 65.

[3] Lacoue-Labarthe beruft sich ausdrücklich auf das freudianisch-lacanianische Thema der Nachträglichkeit.

[4] Ein früherer Chefökonom des IWF, Simon Johnson, stellt fest, dass der Kollaps des Euro unvermeidlich sei und ruft das Schreckgespenst eines deutschen Austritts – nach dem Griechenlands – aus der Einheitswährung auf den Plan. Vgl. Simon Johnson/Peter Boone, „The End of the Euro: A Survivor’s Guide“, in: Huffington Post, 27. Mai 2012, http://www.huffingtonpost.com/simon-johnson/euro-collapse_b_1549444.html.