06 2007
eventum et medium
Ereignis und orgische Repräsentation im Medienaktivismus
„Wenn die Repräsentation in sich das Unendliche findet, so erscheint sie als orgische, und nicht mehr als organische Repräsentation: Sie entdeckt in sich den Aufruhr, die Unruhe und die Leidenschaft unter der scheinbaren Ruhe oder den Grenzen des Organisierten. Sie stößt wieder auf das Ungeheuer.“ (Gilles Deleuze)[1]
Das Verhältnis von Ereignis und Medium scheint
auf den ersten Blick ein recht einfaches zu sein: Das Ereignis erscheint
zunächst als Stoff, der von einem Medium als Mittel in einen anderen
Aggregatszustand übertragen wird, in jenen der Repräsentation. Der Begriff des
Mediums allein schon legt nahe, dass es sich um eine „Mitte“, um ein „Mittel“,
um eine „Mittlerin“, um „Vermittlung“ handelt: das Medium also als Mitte
zwischen Ereignis und Darstellung, zwischen Aktion und Information, kurz: als
Mittel zum Zweck des Informationstransfers. In dieser Perspektive der Vermittlung
sind wir unversehens und ohne weitere Umstände im Paradigma der Repräsentation
gelandet, und damit auch bei einer hierarchisch-linearen Vorstellung von
Information und Aufklärung. Eine derartige Linearität impliziert die Einteilung
in Informierte und zu Informierende, ein dichotomes Verständnis von Aktion und
Repräsentation sowie die rigide Trennung von medialer Produktion und
Medienkonsum. Das dieser Reihe von Dichotomien zugrunde liegende doppelte
Prinzip der politischen und der ästhetischen Repräsentation, der Vertretung im
politischen und der Darstellung im abbildenden Sinn, möchte ich hier als
„organische Repräsentation“ bezeichnen und von einer anderen Form der
„orgischen Repräsentation“ unterscheiden.
Eine derartige Unterscheidung hat auch einigen Einfluss auf das Verständnis jener Phänomene, die oft etwas missverständlich unter dem Begriff Medienaktivismus zusammengefasst werden. Auch im diskursiven Kontext von AktivistInnen wird oft die kohärente Linearität von Aktion und Repräsentation als organische Bewegung konzipiert, etwa wenn das Ziel spektakulärer Aktionen in der Hauptsache darin besteht, durch diese Aktionen „vernachlässigte Themen“ auf die Titelseiten von Mainstream-Medien zu bringen. Dabei werden zwar oft im weitesten Sinn Methoden der Kommunikationsguerilla zur Anwendung gebracht, also Botschaften nicht ganz so direkt und linear vermittelt, es geht aber im Wesentlichen immer noch um ein organisches Verhältnis von spektakulärer Aktion und möglichst genau zu planender Repräsentation.
Die Schlauchboot-Aktion von Greenpeace im Juni 2007 vor der deutschen Ostseeküste von Heiligendamm etwa wurde – zumindest in der Argumentation ihrer AkteurInnen – im Muster einer organischen Repräsentation beschrieben: Mit hoher Geschwindigkeit hatten sich insgesamt elf Greenpeace-Schlauchboote dem Strand von Heiligendamm genähert, an dem die Regierungschefs der G8 unter Hochsicherheitsbedingungen tagten. Drei Boote drangen bis in die Sicherheitszone um das G8-Gelände ein. Weil sie schwer zu orten waren, reagierten die Sicherheitsbehörden erst relativ spät, dann aber dafür mit aller Gewalt: Fünf überdimensionierte Polizeiboote nahmen die Verfolgung auf, darunter auch ein schweres Patrouillenboot der Wasserschutzpolizei.
Auf der Oberfläche der Verlautbarungen ging es den Greenpeace-AktivistInnen um die Vermittlung einfacher Botschaften: Am Ende der Aktion entrollte die Besatzung eines Schlauchbootes ein Plakat mit der wenig kreativen Aufschrift „G8 act now!“. Greenpeace fügte dem anschließend hinzu, die AktivistInnen hätten den Staats- und Regierungschefs am Strand eine Petition mit einem Aufruf zum Klimaschutz überreichen wollen.
Die Überreichung eines Forderungspapiers an die G8 hätte nur deren Akzeptanz als pseudo-repräsentative Organe gestärkt. Aber die spektakuläre Aktion hatte wohl gar nicht dieses vorgebliche Ziel als Ziel, sondern die Repräsentation von strategisch genau geplanten Bildern in den Massenmedien. Insofern ist diese Praxis von Greenpeace als Eingriff in die Produktion von medialen Bildern, also gewissermaßen auch als „Medienaktivismus“ zu sehen, allerdings immer im Paradigma der organischen Repräsentation. In der Logik des Kampfes Davids gegen Goliath war genau jenes Bild am wichtigsten, in dem ein Polizeiboot (Goliath) mit äußerster Gewalt und Geschwindigkeit ein kleines Greenpeace-Schlauchboot (David) rammte, sich schließlich über dieses schob, wodurch die Besatzung über Bord ging. Dieses Bild ging dann auch wie geplant durch alle großen Medien; die akribisch vorbereitete Rasterung des Raums der Repräsentation, die Verteilung der Rollen von Polizei und AktivistInnen, die Übermittlung der impliziten Botschaft „David wird gewinnen!“ war aufgegangen.
Was Greenpeace hier schulmäßig vorgeführt hat, ist die Logik des Transfers von Botschaften auf einer mehr oder weniger geraden Linie von der Aktion zur medialen Repräsentation. Die damit fixierte Zuordnung der Aktion zum Paradigma der organischen Repräsentation soll Greenpeace keineswegs als apolitisch denunzieren, derartige Interventionen in die Mainstream-Medien können durchaus auch politische Effekte zeitigen. Wenn sie jedoch in keiner Weise daran interessiert sind, den Produktionsapparat der Medien selbst zu verändern, oder wenn gar alternative und taktische Medien in derselben Weise als quasi-neutrale Vermittlungsapparate konzeptualisiert werden, nur eben als solche alternativer oder gegenhegemonialer Repräsentation, besteht darin ein fataler Reduktionismus. Diesem Reduktionismus begegnen wir allerdings auf beiden Seiten, die so getrennt offenbar doch nicht funktionieren: Nicht nur Mainstream-Medien, sondern auch alternative Medien tendieren oft dazu, sich selbst als eine indifferente, leere Mitte zu verstehen, die weder das Ereignis noch dessen Darstellung tangiert.
Solche unhinterfragten Vorstellungen der neutralen Übermittlung von Wahrheiten verweisen vor allem auf die enorme Kluft, die sich auftut zwischen den avancierteren Medientheorien und der Praxis derer, die mit ihren Subjektivierungsweisen die Vorstellung des Mediums als Mitte konstituieren. Wollen wir diese Mitte nicht als leeren Umschlagplatz von Informationswaren konzipieren, sind zwei Voraussetzungen zu klären: Zum einen ist die Ver-Mittlung des Mediums selbst nie als neutral zu verstehen, und noch wichtiger: gerade die Form der Vermittlung kann das Medium als Produktionsapparat verändern. Walter Benjamin hat das schon vor fast 80 Jahren in seinen medien- und kunsttheoretischen Aufsätzen u.a. an Bert Brechts Kunstpraxis untersucht[2], und Brecht selbst hat seine Erfahrungen vom Verfremdungseffekt des Epischen Theaters über das Lehrstück in seiner Radiotheorie weiter entwickelt.[3] Die diesbezüglichen genealogischen Linien erreichten in den 1970ern vor allem in Italien und Deutschland eine neue Qualität und Intensität, um zuletzt mit der zunehmenden Hybridisierung der elektronischen Medien im Kontext der No-Global-Bewegung nochmals an Bedeutung zu gewinnen. Auch wenn kapitalistische Appropriation und Reterritorialisierung nie lange auf sich warten ließen, auch wenn damit immer neue orgische Repräsentationen in die Gefilde des Organischen integriert wurden, fachten neue Medien in den Zeiten und Räumen ihrer Entwicklung und Aneignung immer auch Fragen nach ihrer emanzipatorischen Funktion und Anwendung an, vor allem im Hinblick auf eine Durchkreuzung der organischen Logik von Aktion und Repräsentation. Den Zusammenhang von sozialen Bewegungen und neuen Medien in seiner vollen Komplexität zu verstehen, heißt diese Prozesse der Durchkreuzung auch in der Reflexion und Theoretisierung nicht auf die einfachsten Aspekte der Vermittlung von Informationen zu reduzieren, sondern als vielschichtige Phänomene zu erfassen.
Es ist also in jedem Fall zu einfach, Medienaktivismus nur aus der einseitigen Perspektive des Paradigmas der organischen Repräsentation zu betrachten, als sekundären Faktor in einer linearen Bewegung der Vermittlung von der Handlung zur adäquaten Darstellung dieser Handlung. Abgesehen davon, dass es auch bei organischen Repräsentationen nicht um eine lineare Logik der Abbildung von „Wirklichkeit“ geht, sondern um die permanente Produktivität von Repräsentationen, um die Herstellung von „Wirklichkeit“ in und durch Repräsentation: Medien gehen über lineare Begriffe der Vermittlung als Mitte und Mittel weit hinaus.
Es gibt allerdings auch eine andere Vorstellung der Mitte, als sie vorschnell durch den Begriff der Vermittlung evoziert wird. Schon der antike lateinische Gebrauch von medium lässt, etwa in den Formulierungen rem in medio ponere (eine Angelegenheit öffentlich vorbringen) oder in medium quaerere (etwas für alle gemeinsam, als Gemeingut, fordern) eine weitere Bedeutung des Mediums aufblitzen: das medium als eine Mitte, die einen offen-vagen Begriff von Öffentlichkeit, von öffentlichem Raum, von Gemeinsamem nahe legt. Gilles Deleuze und Félix Guattari beschreiben diese Mitte als einen reißenden Strom, der alles mit sich mitreißt, eine Fluchtlinie, in der sich alles beschleunigt, in der sich die Verkettung der Singularitäten als UND ereignet. In einer solchen orgischen Verkettung durch die Mitte geht es nun nicht mehr nur darum, die konstituierte Macht der Massenmedien mit neuen Inhalten zu beliefern, es geht um ständige Versuche der Neuzusammensetzung, um Veränderungen und Neuerfindungen der Produktionsapparate, um den Prozess einer konstituierenden Macht auch im Medienaktivismus.
Seattle
1999 –Indymedia und die orgische Repräsentation
In ihrem Essay zur „Artikulation des Protestes“[4] hat Hito Steyerl die Zweideutigkeit des Begriffs „Artikulation“ betont: Auf der Ebene der Symbole bedeutet er die Verbalisierung und Verbildlichung des politischen Protests, andererseits aber auch Verkettung, innere Organisation und Gliederung der Bewegung. Steyerl beschreibt beide Ebenen als Montagen, Zusammenstellungen in Form inhaltlicher Ein- und Ausschließungen, von Prioritäten und blinden Flecken. Genau diese blinden Flecken analysiert sie anhand der Indymedia-Produktion Showdown in Seattle (1999), die anlässlich der Proteste gegen die WTO in Seattle noch während der Manifestationen gedreht und geschnitten wurde: Produktionsweise wie auch Ergebnis entsprächen paradoxerweise der Fertigungskette der kritisierten Corporate Media, dem Mythos der Information in Mainstream-Medien korreliere der der Gegeninformation bei Indymedia. Und heraus käme eine seltsame „Stimme des Volkes“ (the voice of the people), die Addition von Stimmen, die „einander politisch teilweise radikal widersprechen, etwa die von Umweltschützern und Gewerkschaften, verschiedenen Minderheiten, feministischen Gruppen, etc.“[5]
Es ist zweifellos eine wiederkehrende Herausforderung bei der Darstellung von Bewegungen und Protestformen, weder ihre fließende Heterogenität in filmischer Repräsentation auf zu bestimmte Weise fest-, und damit anzuhalten, noch ihre Widersprüche als pseudo-synergetische Addition zu verschleiern. Steyerl problematisiert zu Recht die manchmal naive Haltung der PionierInnen der globalisierungskritischen Proteste und der Anfänge des Indymedia-Aktivismus. Sie geht allerdings weiter und fragt in diesem Zusammenhang auch verallgemeinernd, ob die Verkettung, die Addition des Deleuze'schen UND nicht völlig blind und daher eher ein Vorgang der Subtraktion wäre, in der Widersprüche und Gegensätze mitnichten vermittelt, sich vielmehr gegenseitig ausschließen würden.
Hier muss aber in der Tat unterschieden werden. Zunächst zwischen politischer Bewegung und bewegten Bildern: Was bei Steyerl ineinander verflochten präsentiert wird, die Montage des Films und die Montage der Bewegung, funktioniert nicht ganz so analog wie es scheint. Bei der Verkettung der Bewegung handelt es sich im besten Fall um einen Strom, bei dem es nichts zu montieren, und daher auch nichts zu addieren gibt. Wie das Deleuze'sche UND alle Relationen mit sich fortreißt, geht es auch hier nicht um beliebige Addition (oder Subtraktion), sondern um eine Bewegung, deren Glieder erst ex post als solche dargestellt, in der Darstellung aber zugleich still gestellt werden können. Die Verkettung von Singularitäten in Bewegung entzieht sich ebenso jeder „vollständigen“ Repräsentation, wie Repräsentation andererseits die Bewegung fürs Erste stoppt, still stellt. Und erst den engen Grenzen des Organisierten und der organischen Repräsentation entspringt Hito Steyerls Frage, was davon zu halten sei, "wenn sich auf den Antiglobalisierungsdemos Nationalisten, Protektionisten, Antisemiten, Verschwörungstheoretiker, Nazis, Religiöse und Reaktionäre problemlos in die Kette der Äquivalenzen einreihen”[6]. Nicht dass ich dieses evidente Problem der meisten kontemporären Proteste nivellieren wollte, aber die Frage eines möglichen Ausschlusses gewisser Positionen und, vorher noch: der Vermittlung von Widersprüchen, stellt sich eben nur im festen Rahmen einer dialektischen Methode, die als Instrumentarium des Stillstellens vorhandene Bewegungselemente in eine Beziehung zwingen will, nicht aber im Deleuze'schen Denken von Verkettung, in dem es keinen vorgängigen Ausschluss gibt.
In der filmischen Repräsentation der Heterogenität dieser Verkettung besteht – so jene als ungebrochene Gegeninformation auf eine oppositionelle Wahrheit insistiert – allerdings tatsächlich die Gefahr einer Homogenisierung dieser Heterogenität, der Erzeugung einer filmischen Totalität, die trotz gegensätzlicher Intention ähnliche Effekte erzeugt wie die angegriffene Spektakelmaschine. Showdown in Seattle ist nicht nur so etwas wie ein Gründungsdokument von Indymedia, sondern auch aus jetziger Sicht (nach 8 Jahren Wirkungsgeschichte) als Produkt sehr einflussreich gewesen in der Verbreitung von Repräsentationen eines Ereignisses, das für die No-Global-Bewegung von großer Bedeutung war und ist. Nicht zuletzt wurde das Video dadurch auch oft reproduzierte oder nachgeahmte Quelle nicht nur der Bildproduktion, sondern auch der globalisierungskritischen Aktion – zugegeben, schon diese Quelle war nicht immer frei von Dualismen, Formeln und Klischees. Gleichzeitig wäre allerdings darauf hinzuweisen, dass gegenhegemoniale Bilder von Wider- und Aufständen nicht allzu vorschnell – etwa durch einen avancierten Kunstdiskurs – abgekanzelt werden sollten.[7] Die notwendigerweise ebenso spontane wie prekäre Produktion von Zeichen, Aussagen und Bildern des Aufstands ist eine Form, die spezifische und strukturell bedingte Probleme erzeugt, die aber auch grundsätzlich anders als die spezifischen Vermittlungsformen der Mainstream-Medien eine Weiterentwicklung des Medienaktivismus als orgischer Repräsentation ermöglicht.
Anders als im Paradigma der organischen Repräsentation erscheint das Medium als orgisches nicht mehr als reines Mittel zur Information, zur Übermittlung eines Ereignisses, sondern es verkettet sich mit dem Ereignis, es wird schließlich selbst Ereignis. eventum et medium: In der Verkettung von Ereignis und Medium produziert die Mitte als Fluchtlinie, die Mitte als UND, nicht einfach Repräsentationen, sie ist Teil des Ereignisses: Hier fungieren die Zeichen, Aussagen und Bilder nicht, um Objekte oder Subjekte, um die Welt zu repräsentieren oder zu dokumentieren, sondern dazu, die Welt sich ereignen zu lassen. [8]
Orgisch sind Medien also vor allem in ihrer Rolle als Möglichkeitsbedingung von Ereignissen; nicht als Lösung des Problems (auch nicht des Problems der Addition von Widersprüchen), sondern als Eröffnung des Möglichen, als unendliche Ausdehnung der Repräsentation ins Orgische, zugleich als Potenzialität des Ereignisses und als Aktualisierung dieser Potenz. So wird auch das Video Showdown in Seattle eine Linie im Ereignis, das sich in der Verkettung von Seattle, der Verkettung der Körper, aber auch der Slogans, der Internet-Kommunikation, der Bilder und Aussagen des Indymedia-Videos aktualisiert[9]: Medienaktivismus, der seine Funktion nicht auf das Dokumentieren von politischen Bewegungen beschränkt, sondern sich im Aktivismus-Werden des Mediums ereignet.
Kinoki Lumal – medium als Ereignis
Ungefähr zur selben Zeit, als in Seattle die globalisierungskritische Bewegung unter anderem mit zapatistischen Strategien reüssierte, entwickelte sich ein prekäres Unternehmen der Medienarbeit in Mesoamerika. Während die mannigfaltigen Bezüge auf die ZapatistInnen und Subcomandante Marcos sich in die gesamte Welt verteilten, versuchte das Kollektiv Kinoki Lumal[10] zwischen 1999 und 2004 den umgekehrten Weg zu gehen: Joaquin Santiz Lopez, Manuel Guzman Ruiz, Juan Santiz Gomez, Alberto Vallejo Reyna und Thomas Waibel organisierten ein kommunitäres Kino gerade in den marginalisierten und infrastrukturell benachteiligten Territorien in Chiapas.[11] In der Tradition der postrevolutionären sowjetischen Dokumentarfilmpraxis (Vertov, Medvedkin), der filmischen Aufbrüche um und nach 1968 (Godard, Gorin, Rouch) und der altermedialen Praxis alternativer Medien in den letzten 30 Jahren (Radio Alice, PaperTigerTV, später Indymedia, Telestreet, etc.) sollten im Südosten Mexikos Modelle der kommunikativen Medienarbeit in Form eines Wanderkinos ausprobiert werden. Thomas Waibel beschreibt die Erfahrungen des Kollektivs zwischen 1999 und 2004 (bis hin zur Übergabe der Geräte und des gesamten Unternehmens an den autonomen Rat von Ricardo Flores Magón) in seiner Dissertation „Die Masken des Widerstandes. Spiritualität und Politik in Mesoamerika“[12], nicht ohne die Probleme, die technischen, genderspezifischen und ökonomischen Grenzen basaler Medienarbeit im Kontext von Aufstandsbekämpfung und low intensity repression zu artikulieren.
Im Mittelpunkt der Medienarbeit von Kinoki Lumal, die ein Jahr lang geduldig in Video-Workshops in ländlichen Kulturzentren in Chiapas aufgebaut wurde, stand die Organisation eines kommunitären Kinos in den sozialen Basen des zapatistischen Aufstands. Dieses Wanderkino wurde mittels eines Systems mobiler Projektion in enger Zusammenarbeit mit den besuchten Dörfern, Dorfgemeinschaften und Kollektiven verwirklicht. Zumeist fand es in marginalisierten und von öffentlicher Infrastruktur vernachlässigten Gegenden in Chiapas statt. Das Equipment des Wanderkinos wurde von den Betreibenden selbst von Dorf zu Dorf getragen, wo die BewohnerInnen aus einem kleinen Archiv von Filmen auswählen konnten. Das Kollektiv schuf damit an den verschiedensten Orten Partizipation auf Augenhöhe und intensive Situationen des Austausches. Im Verlauf der Unternehmungen ging Kinoki Lumal über die selbst organisierte Präsentation von Filmen hinaus: Es entstanden in mehreren Wellen verschiedene Video-Dokumentationen, Fotoreportagen und Radiofeatures. Die ersten beiden Kurzfilme reagierten auf den Wunsch, die Tätigkeit des Kollektivs medial zu transportieren; sie schildern das Ankommen und die Vorführungen des Wanderkinos in einer indigenen Dorfgemeinschaft sowie die ersten Ergebnisse von Workshops, die dem Umgang mit dem Medium Film gewidmet waren.[13]
In dem Maße, in dem sich die Kinovorführungen in den unterschiedlichen lokalen Situationen wiederholten, schien es allerdings nicht mehr zu genügen, filmische Mittel einfach dafür einzusetzen, die politischen und medialen Aktivitäten zu präsentieren, zu reflektieren und zu diskutieren; die besuchten Gruppen artikulierten in einem weiteren Schritt den Wunsch nach einem stärker selbst bestimmten medialen Ausdruck ihrer alltäglichen Arbeit. So entstand gemeinsam mit der „Gesellschaft für soziale Solidarität Ernesto Che Guevara“ eine erste Dokumentation über Anbau, Ernte, Verarbeitung und Verkauf von Kaffee und die damit zusammenhängenden Fragen von sozialer Organisation.[14]
Frei nach Deleuze/Guattari bezeichnet Thomas Waibel die Praxis von Kinoki Lumal als „mediale Wunschmaschine“. Die orgische Qualität dieser Wunschmaschine zeigte sich vor allem daran, in welch hohem Ausmaß die organische Linearität von Aktion und Repräsentation gesprengt wurde. Statt von Inhalten und Medium erdrückt zu werden, hatten sich die ProtagonistInnen daran gemacht, immer weitere Wünsche in Bezug auf die Medienarbeit zu aktualisieren. Nicht die Einübung in eine klassisch-organische Form der Repräsentation, der getrennten Produktion und Konsumption waren Gegenstand ihres Unternehmens, sondern die Herstellung eines kommunikativen Raums, in dem Rezeption und Produktion, Medium und Ereignis ineinander übergehen. Und vor allem wurde damit auch ein verloren gegangener Raum des Politischen wiederhergestellt: „Die Tätigkeit des Wanderkinos stellte einen Beitrag zur Wiederanknüpfung der sozialen Netze dar, die im Zuge der kriegerischen Auseinandersetzungen zerrissen worden waren. Sie förderte einerseits die Reflexion über die Darstellbarkeit des Eigenen durch die mediale Produktion von Subjektivität und schuf andererseits durch die abendlichen Kinoprojektionen in den Dörfern nicht-alltägliche Situationen, in denen sich die Zuseher und Zuseherinnen ohne Rücksicht auf ihre politischen, religiösen oder weltanschaulichen Unterschiede versammeln konnten.“[15] Gerade die Entstehung dieses Raums der filmischen Präsentation und Produktion jenseits von identitärem Konsenszwang weist darauf hin, dass die Medienarbeit von Kinoki Lumal die Hierarchie der Vermittlung gesprengt und jene Mitte des Mediums, jene spezifische Öffentlichkeit und Teilhabe hergestellt hatte, in der die gerade Linie von der Repräsentation zur Aktion durchschnitten wird. Mit diesem Durchschneiden der Linie kehrt sich auch die Ordnung der organischen Repräsentation um, die wilde Mischung der orgischen Repräsentation breitet sich aus: Die Filmvorführung ist weniger Repräsentation als dass sie selbst Ereignis wird, das wiederum neue Ereignisse der medialen Produktion nach sich zieht. Eine Kette von Ereignissen, nicht wie am Schnürchen aneinander gereiht, sondern durch die Mitte fließend und fliehend. Wenn in dieser Mitte die gerade Linie von Repräsentation und Aktion durchschnitten wird, entstehen immer wieder neue Fluchtlinien, Fluchtlinien, die aber nicht nur die konstituierte Macht des herkömmlichen Mediengebrauchs fliehen, sondern eine neue konstituierende Macht schaffen.
Das Medienkollektiv arbeitete allerdings auch an relativ klassischen Dokumentationsformen, etwa 2001 an einer Dokumentation der berühmten Reise der zapatistischen KommandantInnen durch Mexiko: Eine Delegation von 22 aufständischen Comandantes zog mehrere Wochen lang unter dem Titel „Marsch der Farbe der Erde“ zum Nationalkongress in die Hauptstadt, um die Verankerung der Übereinkünfte in der mexikanischen Verfassung einzufordern, die bereits 1996 zwischen der Bundesregierung und den Aufständischen getroffen worden waren. Mitglieder des Medienkollektivs begleiteten die Reise, um gleichzeitig mit der Rückkehr der KommandantInnen in den widerständigen zapatistischen Regionen eine filmische Edition der zurückgelegten Reise vorführen zu können; auch hier – ähnlich wie im Fall von Indymedia in Seattle – der Versuch, möglichst synchron zu den politischen Ereignissen eine geeignete Form der Repräsentation dieser Ereignisse zu entwickeln. Trotz erheblicher Probleme führte die realtime-Dokumentation schließlich zum Ergebnis einer videographischen Chronik in sechs Teilen.[16]
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die politische Tour de Force der zapatistischen Comandantes für die beteiligten indigenen Gemeinschaften nicht von größerem Interesse zu sein schien als die Dokumentation der zweifelsohne eng mit dem zapatistischen Politikverständnis verknüpften Formen indigener Spiritualität. In Zusammenarbeit mit einer Vereinigung von traditionellen Maisbauern hatte Kinoki Lumal schon 2001 einen Kurzfilm über eine Zeremonie für die Fruchtbarkeit in einer roten Höhle im Hochland von Chiapas produziert.[17] Im Zuge einer Einladung nach Santiago Atitlán in Guatemala entstand danach eine kurze mediale Präsentation der kulturellen Vereinigung Ahau Tepepul[18] und schließlich der Dokumentarfilm Der alte Großvater Rilajmam.[19] Diese Dokumentation schildert anlässlich einer mehrtägigen Zeremonie, die der dominanten religiösen Figur eines alten Großvaters gewidmet ist, die unterschiedlichen Erzählungen und sozialen Praktiken, die sich um diese spirituelle Tradition ranken.
Die verschiedenen Formen der Zusammenarbeit, die ständige Weiterentwicklung der Teilhabe, die Austauschprozesse der Medienarbeit haben den Produktionsapparat von Kinoki Lumal stetig weiter verändert, die Repräsentationen nie im Organischen erstarren lassen. Von hier aus aber, aus den Nachbarschaftszonen von Spiritualität und Sozialität, wurde auch die Unübersetzbarkeit der lokalen Intensität in der Überlappung von medialer Produktion und Rezeption erkennbar. In ihrem Text zur Übersetzung der Medienarbeit von Kinoki Lumal nach Europa fragt Hito Steyerl: „Was aber passiert, wenn die Commandantes ihre Skimützen abnehmen? Welche Situationen beherrschen ihren Alltag? Was kennzeichnet das Leben in einer Zone ‚niedrig intensiver Kriegsführung’? Hier setzt Kinoki Lumals Arbeit an - und gleichzeitig die Verstörung des Metropolenpublikums ein. Denn was unter der Maske hervorkommt, sind alltägliche Indigene, und keine linken Superhelden. Sie schuften, sie verhandeln, sie quatschen, sie saufen, sie feiern und schleppen dabei ab und zu Götter herum.“[20] Im Gegensatz zur Dokumentation des „Marsches der Farbe der Erde“, im Gegensatz auch zum dokumentarischen Resümee der Arbeit mit den autonomen Institutionen der zapatistischen Selbstorganisation[21], die auch in den Vorführungen außerhalb von Mittelamerika auf Interesse stießen, kamen die Arbeiten über die Verknüpfung von Spiritualität und Politik im indigenen Ritual in Europa nicht an. Auch wenn die Produktionen von Kinoki Lumal die Klippen der ethnografischen Substanzialisierung des Anderen, des Peripheren genauso umschifften wie die Essenzialisierung des Bodenständigen in der Bearbeitung lokaler Spiritualität: die Produktionen des Kollektivs, die sich der bekannten Ikonographie des zapatistischen Widerstandes verweigerten und anstelle von bewaffneten oder vermummten Aufständischen Bilder von alltäglicher Arbeit oder Ritualen präsentierten, stießen in Europa auf Ablehnung oder Langeweile. Es blieb unmöglich, diese Produkte des Prozesses, der Medium und Ereignis in eine ununterscheidbare und offene Mitte gerückt hatte, zurück in die organischen Repräsentationsmechanismen von politischem Aktivismus und Kino in Europa zu speisen.
Was somit als offene Frage zurückbleibt, ist zum einen das Problem, was mit der orgischen Repräsentation des Medienaktivismus geschieht, wenn sie aus der Verkettung mit dem Ereignis gerissen wird und damit ins Organische übergeht. Wie kann auch dieser Übergang als emanzipatorischer vorgestellt werden, anstatt als bloße Einspeisung in spektakuläre Kulturevents und Medienspektakel? Darüber hinaus stellt sich aber auch das allgemeinere Problem der transnationalen, oder besser translokalen Verkettung der orgischen Repräsentation: Wie kann sich orgische Repräsentation über die lokalen Erfahrungen hinaus als Experimentiergrund für eine translokale nicht-repräsentationistische Praxis entwickeln, in der das Medium als Verkettung und Ereignis zu verstehen ist, in der sich die unendliche orgische Unruhe aus der Repräsentation löst? Und schließlich, wie kann sich diese unruhige Mitte an jedem Ort des Aufruhrs, des Aufstands, der Leidenschaft aktualisieren, nicht nur in Chiapas, Seattle und Heiligendamm?
Vielen
Dank für Vor- und Nachbearbeitung an Thomas Waibel und Isabell Lorey.
[1] Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, 66f.
[2] Vgl. Benjamin, „Der Autor als Produzent“, sowie dazu Raunig, Kunst und Revolution, 109-124
[3] Brecht, „Radiotheorie 1927 bis 1932“, in: Gesammelte Werke 18, 117-134
[4] Hito Steyerl, "Die Artikulation des Protestes", in: Gerald Raunig (Hg.), TRANSVERSAL. Kunst und Globalisierungskritik, Wien: Turia+Kant 2003, 19-28
[5] ebd., 23
[6] ebd., 25
[7] Vgl. zur Frage eines adäquaten Verhältnisses von Medienaktivismus und künstlerischer Kritik: Gerald Raunig, „Das Dokument als gegenwärtiges Werden“ / „The Document as Present Becoming“, in: Sabine Schaschl-Cooper, Vit Havranek, Bettina Steinbrügge (Hg.), The Need to Document, Zürich: jrp/Ringier 2005, 89-98
[8] Vgl. dazu Maurizio Lazzarato, "Kampf, Ereignis, Medien", in: Gerald Raunig (Hg.), Bildräume und Raumbilder. Repräsentationskritik in Film und Aktivismus, Wien: Turia+Kant 2004, 176 sowie meine beiden Texte über den Begriff der „instituierenden Praxen“: http://eipcp.net/transversal/0106/raunig/de und http://eipcp.net/transversal/0507/raunig/de.
[9] vgl. dazu auch Marion Hamm, "Ar/ctivism in physikalischen und virtuellen Räumen", in: Gerald Raunig (Hg.), Bildräume und Raumbilder. Repräsentationskritik in Film und Aktivismus, Wien: Turia+Kant 2004, 34-44
[10] Der Name des Kollektivs besteht aus dem in den 1920ern erfundenen russischen Neologismus Kinoki (kino = Kino, Film; oko = Auge) und dem Maya-Wort lumal (=das eigene Land und die Gemeinschaft, die es bewohnt), die Selbstbezeichnung des Medienkollektivs ließe sich also als das „Kinoauge unserer Territorien“ übersetzen.
[11] Infos unter http://www.kinoki.at/lumal/index.htm
[12] Die beschreibenden Anteile der folgenden Absätze fußen im Großen und Ganzen auf dieser Arbeit: Thomas Waibel, Die Masken des Widerstandes. Spiritualität und Politik in Mesoamerika, philosophische Dissertation, Universität Wien 2007, vor allem 33-49
[13] Cine Mekapal, Video 16 min., spanisch/tzeltal, deutsch Voice over, Mexico 2000, Realisation: Kinoki Lumal und Talleres, Video 14 min., spanisch/tzeltal, deutsch Voice over, Mexico 2000, Realisation: Kinoki Lumal
[14] Kapel. Die Kaffeeproduzenten von Ernesto Che Guevara, Video 48 min., spanisch/tzeltal, deutsches Voice over, México 2000. Buch und Regie: Kollektiv Che Guevara, Kamera: Joaquin Santiz Lopez
[15] Thomas Waibel, „Die Masken des Widerstandes“, 45 f.
[16] Der Marsch der Farbe der Erde, Video-Chronik 99 min., spanisch/tzeltal, deutsche Untertitel, México 2001, Kamera, Montage und Regie: Kinoki Lumal
[17] Tzajal Ch’en – Rote Höhle, Video 18 min., spanisch/tzotzil mit deutschen Untertiteln, México 2001. Buch und Regie: Union de Milperos tradicionales Hombres y Mujeres de Maiz, Montage: Kinoki Lumal
[18] Ahau Tepepul, Video 6 min., spanisch/tzutuhil, deutsche Untertitel, Guatemala 2002
[19] Der alte Großvater Rilajmam, Video 77 min., spanisch/tzutuhil, deutsche Untertitel, Guatemala 2002. Buch und Regie: Asociación Cultural Ahau Tepepul, Kamera und Montage: Kinoki Lumal
[20] Hito Steyerl, Das Babelfights-Syndrom. Kinoki Lumal, http://eipcp.net/transversal/1003/steyerl/de
[21] Vgl. Die gute Regierung der Zapatistas, Video 31 min. spanisch, deutsche und englische Untertitel, Mexiko 2005, Realisation: Oliver Ressler und Tom Waibel.