04 2008
Was vermögen wir?
Vom Bewusstsein zur Verkörperung im gegenwärtigen kritischen Denken
Übersetzt von Birgit Mennel und Tom Waibel
In den letzten zwei Jahrhunderten modernen kritischen Denkens können wir je nach Gegenstand und Kontext viele Bestimmungen von Kritik entdecken. Gleichwohl möchte ich damit beginnen, eine Definition vorzuschlagen, die in recht transversaler Weise die wichtigsten Aspekte der kritischen Tradition zusammenfasst: „Kritik ist jener Diskurs, der praktische Befreiungseffekte auf das hat, was wir erkennen, sein und tun können.“ Dies ist offensichtlich eine ziemlich klassische Definition. Nach etlichen Jahren der Krise des kritischen Denkens halte ich es dennoch für möglich, die Gültigkeit dieser Definition und ihren auch heute noch an uns gerichteten Anspruch beizubehalten. Ihre Gültigkeit hängt sicherlich von unserem Vermögen ab, der Kritik einen neuen Sinn zu verleihen, das heißt, sie in den tatsächlichen Verhältnissen unserer gegenwärtigen Welt zu verorten sowie in den Bestimmungen unseres konkreten Daseins zu verkörpern. Dies werde ich im vorliegenden, aus drei grundsätzlichen Momenten bestehenden Beitrag versuchen, indem ich mich, ausgehend von der soeben vorgeschlagenen Definition von Kritik, auf folgende Fragen beziehe:
1. Was können wir erkennen? – Ich werde die neuen Merkmale jenes Dogmas ausführen, dem sich die Kritik heute stellen muss: eines Dogmas ohne Masken, das wir als das Offenbare des globalisierten Kapitalismus bezeichnen können.
2. Was können wir sein? – Im Rahmen dieser Fragestellung werde ich das Thema der Verkörperung von Kritik erarbeiten und so die heutige Bedeutung von Betroffenheit entwickeln.
3. Was können wir tun? – In Zusammenhang mit dieser Frage werde ich schließlich die Bedingungen zur Schaffung von kritischem Denken heute problematisieren, und zwar ausgehend von meiner Erfahrung im Projekt Espai en Blanc[1].
Was können wir erkennen?
In nahezu all ihren Bedeutungen und Traditionen hat Kritik mit der Idee zu tun, etwas zu zeigen oder zu erhellen, was wir nicht sehen: eine verborgene Wahrheit, Bedingungen der Möglichkeit, einen Widerspruch, eine Irrationalität, etwas Untolerierbares, die Grenzen unseres Seins usw. Kritik erweist sich demnach als Auswirkung einer nicht kontemplativen Vision, der eine transformierende Macht zum Wandel von Bewusstsein, Subjekt, Geschichte, Lebensformen usw. zugemutet wird. Doch eines der Hauptmerkmale des globalisierten Kapitalismus, dieses Kapitalismus, der sich selbst als die einzig mögliche Welt darstellt, besteht darin, dass er keine Masken mehr trägt und nichts zu verbergen hat. Es gibt kein Geheimnis der Produktion mehr. Nach dem Ablegen aller Masken bleibt nur seine Offensichtlichkeit als Form der Legitimation. „Das ist alles, was es gibt“, sagt uns die Welt.
Nach dem Fall des Kommunismus als dem Horizont des sozialen Wandels wurde viel vom Sieg des Kapitalismus gesprochen. Doch wenn wir den tatsächlichen Zustand der heutigen Welt, selbst in ihrer oberflächlichsten Erscheinung, betrachten, wird offenbar, dass der Sieg des Kapitalismus kein wirklicher Erfolg war. Seine Versprechen, seine Fähigkeiten und Erfolge sind nicht länger die Grundlage seiner Legitimität. Diese fußt vielmehr auf der offensichtlichen Wahrheit, die den Kapitalismus zur einzig möglichen Welt erklärt. Da keine Notwendigkeit zur Verteidigung oder Rechtfertigung besteht, wird seine Offensichtlichkeit zu einer neuen Form des Dogmatismus: eines Dogmatismus ohne Masken, der durch keinerlei Offenbarung entmystifiziert oder bekämpft werden kann.
Die Welt lässt sich heute nicht mehr durch einen Prozess der Erhellung entzaubern, aber das Offenbare behält dennoch seine verzaubernde Wirkung. Diese Verzauberung neutralisiert im Sinne der Offensichtlichkeit die Kritik mittels einer dreifachen Reduktion:
1. Die Reduktion auf ein moralisches Urteil: Wir können den Zustand der Dinge akzeptieren oder verurteilen.
2. Die Reduktion auf ein ästhetisches Urteil: Die Wirklichkeit kann uns gefallen oder missfallen, und in dieser Wirklichkeit können wir unterschiedliche Lebensstile wählen.
3. Die Reduktion auf ein psychologisches Urteil: Wir können uns gegenüber dem, was uns umgibt, gut oder schlecht fühlen; wir fühlen uns zunehmend schlecht, wenn wir der Zahl der neuen psychischen Erkrankungen sowie des Geisteszustands in Europa und den entwickelten Gesellschaften gewahr werden.
Aufgrund dieser drei Formen von Reduktion bleibt die Kritik zwischen Ohnmacht und Gleichgültigkeit verstrickt. Dieses Oszillieren zwischen Ohnmacht und Gleichgültigkeit habe ich in meinem Buch In den Gefängnissen des Möglichen[2] unter einem ontologischen Blickwinkel untersucht. Meine Analyse richtete sich dabei auf die Paradoxie des Lebens in einer Welt, in der zwar alles möglich ist, zu der es aber keine Alternative gibt, wofür ich den Begriff der unwiderruflichen Kontingenz entwickelte.
Von einem pointierter politischen Blickpunkt aus betrachtet entsprechen die Gefängnisse des Möglichen der Geiselhaft oder der Enteignung einer Welt: jener Welt, die wir kollektiv verändern können und jener Wirklichkeit, die an den Schnittflächen unserer kollektiven Handlung entsteht. Wir könnten sagen, dass die Globalisierung in der Gestaltung einer einzigen Welt ohne gemeinsame Dimension besteht. Wir erleben das Wuchern unzähliger gelebter Welten, die sich gegenseitig nicht berühren, aber dennoch eine einzige Wirklichkeit ausmachen und befestigen. Manche haben dies als die Konsequenz der Privatisierung des Daseins untersucht. Von jeder dieser privatisierten Mikrowelten aus können wir die Welt in ihrer Offensichtlichkeit erkennen und (in den drei genannten Formen) beurteilen, doch diese Vision bringt keine direkten Veränderungseffekte mit sich. Was muss geschehen, damit sich diese einstellen? Wie kann uns die eigene Welterfahrung betroffen machen?
Was können wir sein?
Etwas muss uns unserem ohnmächtigen und gleichgültigen Dasein entreißen. Etwas muss uns unserer Rolle der Opfer und Zusehenden entreißen.
Es gab in Spanien eine genau in diesem Sinn interessante Erfahrung. Nach dem Attentat vom 11. März 2004 in Madrid ereignete sich ein Prozess kritischer Umwertung,[3] dessen Analyse lohnend ist. Eine bedeutende Anzahl jener Menschen, die das Attentat überlebt oder jemanden in den Zügen verloren hatten, schuf eine Vereinigung, welche die bis dahin offiziell in Verwendung befindliche Opferkategorie zurückwies. Sie fassten den Entschluss, sich selbst als „die Betroffenen“ zu bezeichnen. In dieser Verschiebung vollzieht sich ein höchst interessanter Wandel ihrer eigenen politischen Lage, der sich in drei grundlegenden Aspekten zusammenfassen lässt:
1. In der Verschiebung von Opfern zu Betroffenen findet sich eine Ablehnung der Passivität und der Empfänglichkeit gegenüber dem Schmerz, die sich einer weit größeren und tiefer greifenden Veränderung ihrer selbst öffnet. Opfersein entspricht einem unidirektionalen Prozess mit sehr konkreten Wirkungen und Zeichen. Was aber bedeutet es, betroffen zu sein? Wo beginnen und wo enden die Auswirkungen dieser Betroffenheit?
2. Durch diese Verschiebung ist der Horizont der Wiedergutmachung (Bestrafung der Schuldigen und Entschädigung der Opfer) nicht länger das einzig mögliche Ziel einer erlittenen Aggression: Was erwartet ein/e Betroffene/r? Welches sind seine/ihre Aussichten? Welchen Horizont eröffnet seine/ihre Lage?
3. Die vollständig individualisierte Identität des Opfers verflüssigt sich letztlich in einem gemeinsamen Erfahrungsfeld: Wer sind die Betroffenen? Welche Instanz ermöglicht oder verunmöglicht ihre Anerkennung?
Der/die Zusehende kann das Attentat nur verurteilen und den Schrecken dieses Anblicks empfinden. Das Opfer kann nur Schmerz erleiden und auf Wiedergutmachung hoffen. Was aber vermag ein/e Betroffene/r? Was vermögen die Betroffenen? Das ist die vom Forum der Betroffenen vom 11. März gestellte und offen gelassene Frage. Das ist darüber hinaus auch die an uns gerichtete Frage. Sie erlaubt es, unserer Frage nach den Möglichkeiten der Kritik heute eine neue Note zu verleihen. Das kritische Denken erhob immer Anspruch auf Bewusstmachung. Können wir diesen Anspruch weiterhin geltend machen? Hat es angesichts der Offensichtlichkeit unserer Wirklichkeit noch irgendeinen Sinn, mehr Bewusstsein einzufordern? Da wir beinahe alles erkennen und wissen können, aber nichts geschieht – insofern die Welt nun tatsächlich vollständig erhellt ist –, hat das Problem, dem wir uns stellen müssen, mit dem Vermögen der Verkörperung unseres kritischen Diskurses zu tun: Wie aber kann die Kritik Körperlichkeit annehmen? Wenn das Bewusstsein heute nur mehr individuelle Urteile angesichts der Offensichtlichkeit der Welt fällen kann, eröffnet die Betroffenheit ein gemeinsames Erfahrungsfeld und, wie wir soeben sahen, einen Erwartungshorizont, in dem wir nicht genau wissen, was wir vermögen. Mit dieser Verschiebung vom Bewusstsein zum Betroffensein bewegen wir uns von der Zentralität des Denkens zur Zentralität des Körpers: das heißt von der Dualität Licht/Dunkelheit zur Ambivalenz unserer Verletzlichkeit. Doch in welchem Sinn ist die Verletzlichkeit ambivalent?
Einerseits kennzeichnet die Verletzlichkeit die Risse unserer emotionalen Unzulänglichkeit oder Unfähigkeit.[4] Das ist es, was eine neue Form der Macht, die wir „therapeutische Macht“ nennen könnten, in uns und in unserem Bedürfnis nach professioneller und institutioneller Mediation in allen Dimensionen unseres Daseins und in der Bewältigung unseres prekären und privatisierten Lebens kultiviert.[5] So verstanden, ist die Verletzlichkeit auch die Grundlage für die umfassende Ausbeutung unserer Leben durch die Prekarität.
Andererseits jedoch ist die Verletzlichkeit auch unsere grundlegende Bindung an die anderen, eine Bindung, die unser Dasein mit dem Dasein der anderen verbindet. Judith Butler analysiert in ihrem Buch Gefährdetes Leben[6] diesen zweiten Aspekt der Verletzlichkeit. Der Ausgangspunkt ihrer Analyse ist die Erfahrung von Gewalt und Trauer, die auch in ihrem Fall mit dem nahen Erleben eines terroristischen Attentats verknüpft ist, nämlich mit dem 11. September. Butler sieht in der Gewalt und in der Trauer die Möglichkeit, jene Dimension unseres Daseins in uns wahrzunehmen, die uns zu mehr macht als Individuen: eine Bindung, die uns nicht nur fesselt, sondern auch unser Dasein konstituiert und darin die Frage nach dem „Wir“, nach dem Gemeinsamen, eröffnet.
Der 11. März und der 11. September bieten uns eine neue Sprache, vielleicht sogar einen neuen Ausgangspunkt für die Politik, doch wäre es meiner Meinung nach verfehlt, diese neue Semantik auf den Kontext von Katastrophe, Verhängnis und Todesdrohung zu beschränken. Ich halte es für äußerst wichtig darzulegen, dass die Verletzlichkeit nicht nur eine passive Bestimmung des menschlichen Daseins ausmacht und nicht nur mit Leiden und Trauer verbunden ist. Die Verletzlichkeit ist nicht nur empfänglich. Sie ist auch unser Vermögen, uns auszusetzen, denn verletzlich sein heißt fähig sein, sich auszusetzen, in anderen Worten, betroffen zu sein. In diesem Sinn wäre die Verletzlichkeit keine individuelle Unfähigkeit und kein individuelles Unvermögen, sondern eine zwingend kollektive Macht.
In diesem zweiten Sinn von Verletzlichkeit ist es möglich, Butler folgend, doch über das Feld des Leidens und des Schmerzes hinausgehend, sich einer Verletzlichkeit zu nähern, die kein Synonym der Ohnmacht, sondern im Gegenteil, die Offenbarung unserer Unmöglichkeit ist, ausschließlich Individuen zu sein. Sie ist die Entdeckung unserer gegenseitigen Abhängigkeit. Die Erfahrung unserer gegenseitigen Abhängigkeit, die Erfahrung des „Wir“ als einer Dimension unseres eigenen Daseins ist eine Möglichkeit, die Welt zurückzuerobern. In einer vom globalen Kapitalismus in Geiselhaft genommenen Welt entfaltet sich die Wahrnehmung unserer gegenseitigen Abhängigkeit ausschließlich im Schatten einer Bedrohung: der Drohung der Zerstörung des Planeten durch menschliches Handeln. Dieser heteronome Sinn der gegenseitigen Abhängigkeit sagt uns allen, dass selbst unser Überleben in den Händen anderer liegt. Wir haben jedoch bereits gesehen, dass es noch einen weiteren Sinn der gegenseitigen Abhängigkeit gibt, den wir „autonom“ nennen könnten: die Entdeckung der Welt als gemeinsamer Dimension unseres vereinzelten Daseins. Daher ist die gegenseitige Abhängigkeit die tatsächliche Bedeutung der Autonomie: Autonomie nicht im Sinne eines vor der Welt und den anderen zu beschützendes und zu verteidigendes Privateigentum, sondern im Sinne der kollektiven Fähigkeit zur Gestaltung der Welt.
Die Beziehung zwischen gegenseitiger Abhängigkeit und Autonomie ist überhaupt nicht offensichtlich. Tatsächlich bricht sie mit der Offensichtlichkeit der von uns bewohnten Wirklichkeit. Gegenseitige Abhängigkeit bedeutet nicht, dass mein Leben vom Handeln anderer bedroht wäre, sondern dass die Dimension des „Wir“ meinem Dasein immer schon innewohnt, obwohl sie stets von der Evidenz infrage gestellt wird. Wie aber lässt sich diese Dimension entdecken? Wie lässt sie sich erfahren? Genau darin besteht die Arbeit der Kritik als Verfahren der Veränderung – als Vorgang der radikalen Veränderung dessen, was wir erkennen, sein und tun können. Foucault bestimmt Kritik, neben vielen anderen Formulierungen, als Schöpfung sowie als Selbstkritik in unserer Autonomie. Das scheint mir heute gleichbedeutend mit dem bisher Skizzierten: Kritik nicht länger als Reife eines urteilsfähigen Subjekts, sondern, weit wichtiger, als Mut zu einem Dasein, welches das Wagnis eingeht, betroffen zu sein und sich selbst auszusetzen. Demnach bedeutet Kritik nicht länger die Eroberung der Freiheit im Sinne der Bewegung eines Subjekts, das sich der Welt und den anderen gegenüber unabhängig macht, sondern vielmehr die Eroberung der Freiheit in unserer Verflechtung. Die Erforschung dieser Bindungen ausgehend von der Konstruktion der Autonomie als kollektiver Fähigkeit ist für mich der Horizont des kritischen Denkens heute.
Was können wir tun?
Das bisher Ausgeführte hat entscheidende Auswirkungen auf die Konstruktion des kritischen Diskurses heute. Wenn wir darauf abzielen, dass der kritische Diskurs befreiende Wirkungen der bisher beschriebenen Art entfalten soll, müssen wir, das „Wir“ als Dimension unseres Daseins hervorrufen, aufwecken oder aufrichten. In diesem Sinn bleibt die Kritik ein irgendwie praktischer Diskurs, der uns etwas zu zeigen versucht, was wir nicht erkennen. Doch diese Vision ist nicht länger eine Vision des Bewusstseins, und ebenso wenig lässt sie sich in einfacher Weise ausdrücken oder verkünden. Sie muss gemacht und verkörpert werden; doch wie?
Wir können immer behaupten, dass Worte Handlungen sind, uns weiterhin bequem in unserer Rolle der kritischen DenkerInnen zurücklehnen und uns selbst zuhören. Aber das reicht nicht aus. Wie ich meine, haben wir alle schon erlebt, dass das Feld der Kritik oftmals ein Ghetto hervorbringt, ein weiteres Ghetto unter so vielen anderen Ghettos, das es verunmöglicht, die Ketten der Ohnmacht und Gleichgültigkeit zu sprengen. Offensichtlich liegt es nicht in unseren Händen, über die Revolution zu entscheiden oder sie zu programmieren. Gleichwohl besteht eine Dringlichkeit, die Bedingungen zur Schaffung von kritischem Denken heute zu hinterfragen und zu verändern. Dies impliziert meiner Ansicht nach zumindest zwei Verschiebungen:
1. Die Verschiebung der Zentralität des – uns entgegen gesetzten – stets in seiner Distanz beschnittenen und isolierten Gegenstandes der Kritik in Richtung auf die Frage, wer von den gestellten und analysierten Problemen betroffen ist. Das ist mit der Verkörperung von Kritik gemeint. Damit verkehrt sich der normalerweise um ein „Sie“ errichtete und der Rhetorik der AnalytikerInnen oder SpezialistInnen gehorchende Diskurs zur Frage nach dem „Wir“: eine Frage, für die es nicht länger einen Gegenstand der Analyse gibt, sondern vielmehr ein gemeinsames Erfahrungsfeld, das die Kritik zu öffnen und zu artikulieren imstande sein muss.
2. Die Verschiebung der Legitimität qualifizierter Stimmen (von Intellektuellen, ProletarierInnen, StudentInnen, Prekarisierten, MigrantInnen etc.) hin zur Wucherung einer anonymen Stimme, deren Grenzen ebenso schwer auszumachen sind wie die Beantwortung der Frage: „Wer sind die Betroffenen?“ Diese anonymen Stimmen reißen die legitimierte Aussage aus ihrem Sessel, nicht um sie zum Verstummen zu bringen, sondern um sie auf ihre Unabschließbarkeit hin zu öffnen und sie zur Begegnung mit dem „Wir“ als einer selbständigen Dimension zu zwingen. Damit wandelt sich die Kritik vom uns vorgestellten Diskurs zu einem Gewebe, das andere einschließt.
Wenn wir befreiende Wirkungen in dem hervorrufen wollen, was wir in einer Welt des privatisierten Daseins erkennen, sein und tun können, wenn wir nach der Möglichkeit einer autonomen Erfahrung in unserer gegenseitigen Abhängigkeit suchen, sind diese beiden Verschiebungen des kritischen Diskurses, die Bedingungen zur Schaffung eines kritischen Diskurses heute unhintergehbar.
Zu Beginn erwähnte ich das Projekt Espai en Blanc. Es handelt sich um ein Projekt kollektiven Denkens und Handelns, das vor fünf Jahren an der Schnittstelle von Philosophie und Aktivismus entstand. Damals sprachen wir vom Wunsch, das Denken von neuem leidenschaftlich zu machen. Leidenschaftlich bedeutete für uns, etwas von unserem eigenen Dasein hineinzulegen, das heißt, sich den eigenen Ideen auszusetzen und von ihnen betroffen zu sein. Das in diesem Text Dargelegte ist in der einen oder anderen Weise Ergebnis dieser kollektiven Erfahrung. Während dieser fünf Jahre machten wir verschiedene Arten von Interventionen, veröffentlichten Texte usw.; doch das, was zu einer tatsächlich kritischen Intervention in Barcelona geworden war, die viele Menschen aufrüttelte, bestand nicht so sehr im Inhalt des von uns Gesagten oder Geschriebenen, entblößt von seinem Kontext, sondern in der Form, wie wir es sagten. Seit zwei Jahren organisieren wir monatliche Treffen in einer Bar im Stadtzentrum, zu denen jede/r eingeladen ist, um mit anderen über ein konkretes Problem, das wir mittels Blogs, Plakaten und einem Informationsverteiler vorschlagen, zu diskutieren. Es gibt weder geladene noch vorgesehene Vortragende, keinerlei Namen – und folglich gibt es weder Publikum noch Zusehende. Wer an diesen Treffen teilnimmt, tut dies, um mit uns nachzudenken. Es ist so einfach und dennoch wurde es zu einer regelrechten Revolution der Empfindung von Betroffenheit durch unser Denken, zu einer Revolution der Art und Weise, wie wir neue Fragen und Probleme verkörpern. Dieses Jahr haben bereits mehr als hundert Personen an jedem Treffen teilgenommen. Wir versuchten ein Internetforum zu etablieren, um weiteren Stimmen Platz zu verschaffen und die zeitliche Dauer der Diskussionen zu verlängern, doch es hat nicht funktioniert. Warum? Das Entscheidende an diesen Treffen ist die Anwesenheit, die Betroffenheit über das Schweigen, über die Worte, nach denen wir gemeinsam suchen und denen wir manchmal erfolgreich begegnen. Es gibt keine Ideen oder Erkenntnisse für den individuellen Konsum, sondern die Einladung, Blick und Stimme gemeinsam mit anderen zu forcieren.
Ich möchte mit diesem sehr bescheidenen Beispiel schließen, denn in unserer Welt vernehmen wir jeden Tag große Worte, die nur selten Wirkung zeitigen. Allzu häufig sind sie gar das Schutzschild, das uns verbirgt und es ermöglicht, die Distanz zwischen uns und der Welt aufrecht zu erhalten. Die Kritik muss diese Distanz zerstören und uns dabei unterstützen, nicht Schutz vor, sondern Mut zu unserer gegenseitig abhängigen Autonomie zu finden. Canetti drückt dies in wundervollen Worten aus: „Nur gemeinsam können die Menschen sich vom Ballast ihrer Distanziertheit befreien.“[7]
[1] Alle Informationen über Espai en Blanc (katalan.: leerer Raum) finden sich auf: http://www.espaienblanc.net.
[2] Vgl.: Marina Garcés, En las prisiones de lo posible, Barcelona: Bellaterra 2002.
[3] In dieser Hinsicht ist die von Margarita Padilla und Amador Fernández-Savater entwickelte Arbeit bedeutsam; vgl. etwa den Artikel „Las luchas del vacío“ (Die Kämpfe der Leere), in Espai en Blanc Nr. 3–4 oder das kollektive Buch: Colectivo Desdedentro (Hg.), Red Ciudadana tras el 11-M. Cuando el sufrimiento no impide pensar ni actuar (BürgerInnennetzwerk nach 11-M. Wenn das Leiden Denken und Handeln nicht verhindert), Madrid: Acuarela u. Machado 2008.
[4] Ich entnehme diesen Ausdruck dem interessanten Buch von Frank Furedi, Therapy Culture. Cultivating Vulnerability in an Uncertain Age, London: Routledge 2004.
[5] Im Hinblick darauf vgl.: Espai en Blanc Nr. 3–4, „La sociedad terapéutica“, Barcelona: Bellaterra 2007.
[6] Judith Butler, Gefährdetes Leben. Politische Essays, übers. von Karin Wördemann, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005.
[7] Elias Canetti, Masse und Macht, Frankfurt/M.: Fischer 2006.