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04 2008

Die Antwort liegt in der Übersetzung

Tomislav Longinović / Boris Buden

Übersetzt von Birgit Mennel und Tom Waibel

Boris Buden: Die interessanteste Frage, die in deinem „Manifesto of Cultural Translation“[1] aufgeworfen wird, ist die nach seiner eigenen literarischen Form, der typisch modernistischen Form des Manifests. Ob kommunistisch oder futuristisch, surrealistisch oder dadaistisch – Manifeste sind mit Blick auf etwas historisch Neues konstruiert. Sie richten sich an eine breite Öffentlichkeit, aber nicht um zu informieren oder zu erklären, sondern um zu handeln. Diese performative Qualität ist charakteristisch für jedes Manifest. Daher wird man im „Manifesto of Cultural Translation“ vergeblich nach einer scharf umrissenen Definition dieses Phänomens suchen. Kulturelle Übersetzung ist für dich vielmehr eine Aktivität, eine Praxis, „die Praxis des Alltagslebens“. Du unterstreichst deutlich ihren performativen Charakter, wodurch sie auch zu einer Art von Subjektivierung wird. In ihrem ersten Manifest betonten die russischen Futuristen das Recht, „[a]uf der Scholle des Wortes Wir […] zu stehen“[2]. Es gibt ein ähnliches „Wir“ in deinem eigenen Manifest, das „Wir“ der „kulturellen ÜbersetzerInnen“. Meine Fragen werden sehr einfach sein: Zunächst, wer sind diese kulturellen ÜbersetzerInnen?

 
Tomislav Longinović: Es stimmt, dass die der Form des Manifests innewohnende performative Wiederholung neue Subjekte und ein neues Werden einfordert, die der Aufgabe der kulturellen Übersetzung inhärent sind. Die Frage nach der Identität des/der ÜbersetzerIn bleibt immer innerhalb des Horizonts einer Überschreitung von Grenzen zwischen Gemeinschaften und ihren besonderen Idiomen, in Verschiebungen, die ihre besonderen Wege des kulturellen Austauschs unterrichten. In dieser Perspektive einer möglichen Zukunft wird auch die Wahrscheinlichkeit von neuen, auf der Erfahrung einer Identität-in-Übersetzung gegründeten Gemeinschaften durch das Manifest theoretisch erfasst, die Konvergenz von kulturellen ÜbersetzerInnen außerhalb der Ausbreitung besonderer ethnischer Gemeinschaften, die für die heutzutage vorherrschende Erfahrung unter ImmigrantInnen charakteristisch ist. Es ist von besonderer Bedeutung, diese Bewegung abseits der ethnisch begründeten Diaspora theoretisch zu erfassen, da diese häufig für die Entwicklung von ethnisch harten Kernen der Identitätspolitik verantwortlich ist.

 
Boris Buden: Was ist das Ziel der kulturellen ÜbersetzerInnen?

 
Tomislav Longinović: Migrantische ArbeiterInnen, umherziehende Intellektuelle oder Kriegsopfer, diese Subjekte erfahren die scharfen Grenzen der kulturellen Trennung, indem sie ihren Kampf um Identität im Spiel ums kulturelle und sprachliche Überleben führen. Ihr Ziel ist daher von der Heteronomie bestimmt, das Leben weiterzuführen, und folglich nicht auf eine einzige Teleologie reduzierbar. Die Bekundung von Differenz ist Teil dieser Werdensabfolge quer durch die Kulturen, da die neuen Subjekte durch Reise und Übersetzung hervorgebracht werden. Da das Denken selbst unter den Bedingungen einer postmodernen kulturellen Ordnung eine tiefgreifende Krise durchlaufen hat, beruft sich das Manifest auf den Horizont möglicher Solidarität auf der Grundlage einer gemeinsamen Erfahrung kultureller Differenz; darum die Verwendung des „Wir“, jenes verdächtigen Pronomens, das von den Massenideologien des vergangenen Jahrhunderts derart in Verruf gebracht wurde. Die imaginierten Formen möglichen Denkens sind daher das Gegengewicht zum Pessimismus, der die postmodernen Intellektuellen heimsucht, die häufig im Glashaus akademischer Forschung und Sachkenntnis eingesperrt sind.

 
Boris Buden: Wie wollen die kulturellen ÜbersetzerInnen dieses Ziel erreichen?

 
Tomislav Longinović: Die Praxis der kulturellen Übersetzung ist eine Erfahrung, die im Austausch zwischen den Subjekten entstand, welche im Fluss globaler Identifikationen gefangen sind. Das Ziel mag a posteriori als ein Versuch der Aneignung sozialer Macht durch die Praxis kultureller Übersetzung theoretisch erfasst werden, als die Position, die sie in der Wahlkultur suchen und die ihnen von den monokulturellen Voreingenommenheiten des Heimatlandes, das sie zu ihrem eigenen zu machen versuchen, verweigert wird. Die im Begriff „Wahlheimat“ beinhaltete, in sich widersprüchliche Wendung der Formulierung ist symptomatisch für dieses Dilemma der im andauernden Dazwischen gefangenen kulturellen ÜbersetzerInnen. Die Auflösung der Binarität von Assimilierung und Resistenz innerhalb der aufnehmenden Kultur bestimmt über den Erfolg oder das Scheitern einer im Übersetzungsprozess hervorgebrachten Identität; der Übersetzungsprozess bildet dabei jene philosophische Kategorie, die im sich globalisierenden Universum, mit dem wir in zunehmendem Maß konfrontiert sind, vorherrschend sein wird.

 
Boris Buden: Du sagst, dass wir kulturelle Übersetzung im Sinne einer spezifischen kulturellen Erfahrung denken können und dass diese kulturelle Erfahrung ein soziales Substrat aufweist – ExilantInnen, ImmigrantInnen, Flüchtlinge, kurz, Leute, die sich die Erfahrung von Übersetzung als „Praxis des Alltagslebens“ teilen. Diese bilden jedoch kein gemeinsames politisches Subjekt, zumindest noch nicht. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass sie keine bestimmte politische Erfahrung gemeinsam hätten, etwa die Erfahrung der, wie du schreibst, „globalen Ungleichheit“ oder der „angstvollen Asymmetrie von Anteil und Wert in der Repräsentation minoritärer Kulturen“. Was meinst du damit genau? Können wir hier Mutmaßungen über eine bestimmte „Passage zur Politik“ als ein der kulturellen Übersetzung innewohnendes Potenzial anstellen?

 
Tomislav Longinović: Die Wahl der Manifestform war definitiv von dem Wunsch geleitet, inmitten der Auswirkungen der ökonomischen Globalisierung, ihrer zumeist verheerenden Effekte einer bestimmten Art von neu entstehender Praxis Ausdruck zu geben. Ebenso ist es unvermeidlich, eine bestimmte Position einzunehmen, da der naive Glaube an einen Standpunkt außerhalb des Politischen heutzutage nur von jenen konstruiert werden kann, die an der Macht sind und daher deren Wirkmechanismen verhüllen müssen. Der Prozess der kulturellen Übersetzung „legt“ diese Mechanismen, die bestehende Asymmetrien und Ungleichheiten naturalisieren, „bloß“, da die meisten AgentInnen der kulturellen Übersetzung die Mängel der einsprachigen Fantasien aufgrund ihrer Zwischenposition an der Grenze zwischen unterschiedlichen nationalen Diskursen wahrnehmen. Es ist wahr, dass ich mich selbst „im Namen jener“ sprechend wiederfinde, denen die Wahl, für sich selbst zu sprechen, nicht offensteht, in der Hoffnung, die schiere Möglichkeit einer neuen Art des transnationalen/translationalen politischen Horizonts jenseits der Binaritäten global/lokal, kapitalistisch/kommunistisch, kosmopolitisch/provinziell etc. zu bekunden. Diese Art von politischer Motivation ist auch der Ausgangspunkt meines Forschungsprojekts Das Geheimnis der Übersetzung: Ein Manifest der Grenzkulturen, das den Großteil meiner Überlegungen im vergangenen Jahrzehnt beanspruchte. Durch den Gebrauch der Werkzeuge der Übersetzungstheorie versuche ich, ihre Tragweite in den Bereich der Repräsentationspolitik auszudehnen sowie die Hierarchien zu denaturalisieren, die den zeitgenössischen KonsumentInnen durch Nachrichten, Bilder und Töne dargeboten werden. Hoffentlich verwandelt sich mein Schreiben „im Namen von“ so weder in die Heuchelei der Kommissare des jüngsten Tags noch in die Gleichgültigkeit der Yogis des jüngsten Tags, um Arthur Koestlers Metapher zu gebrauchen. Die Passage zur Politik auf der Grundlage einer gemeinsamen ökologischen Plattform wäre demnach ein äußerst wünschenswertes Ergebnis kultureller Übersetzung, da ein auf dem Humanismus basierendes Denken sich den Beschränkungen des planetarischen Überlebens stellen muss, und zwar abseits der Mythen, die sowohl NationalistInnen als auch GlobalistInnen in der derzeitigen Simulation einer im Grunde gegenstandslosen Politik verbreiten.

 
Boris Buden: Kannst du mehr über dieses Forschungsprojekt Das Geheimnis der Übersetzung: Ein Manifest der Grenzkulturen sagen? Worin genau besteht sein Forschungsfeld, sowohl theoretisch als auch, im weiteren Sinn, kulturell? Welche Rolle spielt die Literatur – einschließlich der Erfahrung mit literarischen Übersetzungen – und die Literaturtheorie in diesem Projekt?

 
Tomislav Longinović: Mein Interesse und meine Motivation dazu, ein Buch zu schreiben, das sich der im weiten Sinn verstandenen Übersetzung widmet, entwickelte sich aus dem Cultural Translation Project (CTP), einer Forschungsinitiative, die vom internationalen Institut der Universität Wisconsin-Madison von 1999 bis 2001 drei Jahre lang gefördert wurde. Als Leiter dieser Initiative für höhere Bildung habe ich alles mir Mögliche getan, um die Translationswissenschaften in das traditionelle, auf dem „nationalen“ Paradigma fußende Curriculum der Humanwissenschaften einzuführen. Das Projekt war als Zusammentreffen einer vielfältigen Gruppe von Fakultäten und Studierenden aus verschiedenen humanwissenschaftlichen Disziplinen gedacht. Ihre unterschiedlichen Zugänge zu den Begriffen „Kultur“ und „Übersetzung“ eröffneten eine neue Perspektive auf die Art und Weise, wie sowohl individuelle als auch Gruppenidentitäten verstanden werden, nämlich als Bewegung und Austausch über die Grenzen einer besonderen Idee von Kultur hinweg, und nicht als monumentale, durch die Bösartigkeiten des nationalistischen Imaginären versteinerte Kategorien. Die Workshops, Vortragsreihen und Seminare waren der Durchquerung kultureller Schnittstellen gewidmet, um den performativen Charakter neuer transnationaler Identitäten sowie hybrider künstlerischer und intellektueller Praxen zu bezeugen.

Die Gründung des CTP erfolgte zum Teil aufgrund einer Ausschreibung der Universität von Wisconsin, die dazu aufrief, die Humanwissenschaften im Kontext eines globalen, postnationalen und postdisziplinären intellektuellen Umfelds neu zu entwerfen. Teilweise basierte das Bedürfnis nach Schaffung dieser erweiterten Lehr- und Lerneinheit auf Untersuchungen, die sich über die traditionellen Verständnismodelle bezüglich transnationaler kultureller Austauschprozesse hinaus bewegten (Derrida, Spivak, Bhabha, Appadurai etc.). Die restriktiven Modelle oder höchst idiosynkratischen Verstehensweisen hinsichtlich der zwischen Kulturen „ausgetauschten“ Dinge, der Kulturen selbst sowie der sowohl materiellen als auch intellektuellen Mittel, die in diesem Austausch zum Einsatz kommen, wurden durch das Abdanken der Idee der Nation gesprengt. Da sich eine globale Subjektivität zusehends durch die Kommunikation über Sprachen und Kulturen hinweg bestimmte, fügte sich das aus interagierenden Ökonomien hervorgegangene Universum in die Prozesse einer Übersetzung jenseits der sprachlichen Übersetzung ein, während am Ende der ausklingenden Epoche der Nationen und ihrer vereinfachten imaginären Totalitäten ein kultureller Austausch in sehr viel größerem Umfang und Ausmaß entstand.

Dies bedeutete, dass die große Sachkenntnis „fremder“ Sprachen nicht nur für die gegenseitige Verständlichkeit von verschiedenen „nationalen“ Kulturen wesentlich ist, sondern auch für den weiterreichenden Prozess einer die Kulturen durchquerenden Hybridisierung, die neue und unterschiedliche Formen von Identität hervorbringt, welche für das Verständnis der Richtungen von kultureller Entwicklung im posthumanistischen Universum essenziell sind. Die Übersetzung erhöhte auch die Aufmerksamkeit und das Erfordernis einer Nichtübersetzung, das tiefgreifende Studium von Sprachen, welche die besondere Vision der Kultur zum Ausdruck bringen, indem sie sich dem Wechsel auf die andere Seite durch verschiedene Strategien der Unübersetzbarkeit widersetzen. CTP förderte das Verständnis dafür, dass „Übersetzung“ nicht nur die Kunst und das Handwerk der „literarischen“ oder „technischen“ ÜbersetzerInnen bezeichnet, sondern auch eine größere kulturelle Formation, die aus dem globalen Strom von Exil, ImmigrantInnen und Flüchtlingen, den ich vorher erwähnte, hervorgeht. Daher umfasste der Begriff der kulturellen Übersetzung ein neu entstehendes Feld humanistischer Studien und entwarf zugleich ein Modell des Alltagslebens für die globale Gemeinschaft.

 
Boris Buden: Um ihre Aufgabe zu erfüllen, schreibst du, sollten sich die heutigen kulturellen ÜbersetzerInnen mit der Rolle der mittelalterlichen Alchimisten identifizieren. Worum geht es in diesem Vergleich?

 
Tomislav Longinović: Von der Metapher des Alchimisten machte ich Gebrauch, um sowohl die politische Position der in den Prozess kultureller Übersetzung involvierten Person in Erinnerung zu rufen als auch um eine Bezugsfigur zu schaffen, die auf das Feld selbst verweist. Einerseits steht der Alchimist auf dem äußersten Scheitelpunkt des Wandels vom mittelalterlichen zum modernen Verständnis des Universums und seiner Realitäten, da er das Spirituelle und das Materielle, den Glauben und die Wissenschaft durch die Arbeit der transformatio zusammenbringt. Ich glaube, dass auch wir auf dem Scheitelpunkt eines Wandels auf der historischen Bühne stehen: Das postmoderne Verhältnis besteht trotz der sichtlichen Erschöpfung der von ihm wiederverwerteten Formen und Modelle fort, während der Horizont des Wandels, den wir auf dem politischen Schauplatz bereits wahrnehmen, die lateinamerikanische Wende nach links etwa, eine bestimmte Antwort anzeigt, die über die Erwartungen im neoliberalen Universum des ökonomischen Determinismus hinausgeht. Ein interessantes Projekt kultureller Übersetzung bestünde darin, die Verschiebungen der „Marx’schen Gespenster“ von Osteuropa nach Lateinamerika nachzuzeichnen und zu verfolgen, wie die Bewegung der auf den Kommunismus gegründeten Ideologie von einem Kontinent zum anderen wandert, sowie die Transformation der in diesem Prozess angenommenen kulturellen Formen zu untersuchen. Das steht mit dem zweiten Grund einer Berufung auf die Alchemie in Zusammenhang, nämlich der merkurischen Natur der Kultur selbst, deren unvorhersagbare Ströme das Geheimnis einer jeden kollektiven Identität hinter ihrem eigenen Schleier von Unübersetzbarkeit zu verbergen scheinen. Dieses Geheimnis gründet vielfach auf einem gewaltsamen und traumatischen kulturellen Artefakt, um dessen Offenlegung und Lesbarmachung die kulturelle Übersetzungsarbeit bemüht ist, um derart die Auswirkungen des Schweigens und der Geheimhaltung zu mildern, auf die autoritäre Politiken zumeist ihre Macht gründen.

 
Boris Buden: Du hast Arthur Koestler erwähnt, eines der besten Beispiele für „vielsprachige“ Intellektuelle des 20. Jahrhunderts. Interessanterweise existiert seine bekannteste Erzählung, Sonnenfinsternis[3], nur in Form einer Übersetzung ohne Original. Ihr deutsches Original ging verloren, sodass Sonnenfinsternis im Deutschen eine Art „Übersetzung einer Übersetzung“ oder eine Rückübersetzung* ist. Doch das eigentliche Thema der Erzählung – die Erfahrung des Terrors, den wir heute Totalitarismus nennen – scheint die besonderen kulturellen und historischen Kontexte zu überschreiten. Kannst du deine eigenen Erfahrungen heute, selbstverständlich in einem figurativen Sinn, ebenso als eine Art „Sonnenfinsternis“ denken, und zwar in der Bedeutung des blutigen Zusammenbruchs des ehemaligen Jugoslawien im Sog der „demokratischen Revolutionen von 1989“? Ich frage nach der persönlichen Motivation hinter der Aufgabe der kulturellen Übersetzung, die du formulierst, einer Motivation, die genau in dem Sinn persönlich ist, als sie eine historischen Bedeutung hat, also auf die Erfahrung der Geschichte in ihrem äußerst persönlichen Sinn verweist.

 
Tomislav Longinović: Ich habe eine Geschichte, die der Koestlers ähnlich ist; sie betrifft meine erste Erzählung Moment of Silence[4], die zunächst auf Englisch und erst sieben Jahre später auf Serbokroatisch als Minut Ćutanja[5] veröffentlicht wurde. Die Erzählung war die Trauerarbeit, die ich um die letzte verlorene Generation jugoslawischer Jugend geleistet habe. Sie war ein Fall von Rückübersetzung* und auch ein Fall einer Hin- und Herübersetzung, in der sich das Gefühl dafür, was das Original und was eine Übersetzung ist, radikal verwirrt. Ich nehme an, dass es in Bezug auf die Frage nach meiner eigenen Identität und meiner persönlichen Verortung im Hinblick auf die Übersetzungsthematiken um dasselbe geht. Diese Frage verweist tatsächlich auf die wahre Motivation hinter dem Projekt, da mich der Zusammenbruch Jugoslawiens in meinem eigenen Schreiben und in meinem Verhältnis zu theoretischen Angelegenheiten stark berührt hat. Obwohl ich das Land 1982 verließ, um am internationalen SchriftstellerInnenprogramm der Universität von Iowa teilzunehmen, erschütterten mich die Ereignisse des darauffolgenden Jahrzehnts zutiefst in meinem Lebens- und Zugehörigkeitsgefühl. Ich kann wirklich sagen, dass ich Jugoslawien in den letzten Augenblicken seiner Existenz verließ, zumindest für eine Generation von Jugendlichen, mit der ich zu dieser Zeit verbunden war. Die Intensität des kulturellen Austauschs zwischen den damals Mittzwanzigern aus Belgrad, Ljubljana, Sarajevo und Zagreb wies in Richtung einer klaren europäischen Integration des gesamten Landes. Sicherlich, die meisten dieser kreativen Jugendlichen unterstützten den geeinten Kulturraum Jugoslawien nicht im Sinne irgendeines nebulösen Projekts der ParteiideologInnen – sie lebten einfach eine gemeinsame Zukunft auf der Grundlage einer Populärkultur (die sogenannte New Wave in der Musik fungierte dabei als einzigartiges kulturelles Austauschmedium) und waren daran interessiert, die engstirnigen Praktiken der damaligen Apparatschiks der Kommunistischen Partei zu überwinden. Paradoxerweise teilten sie alle eine gemeinsame Orientierung links von der Mitte auf der Grundlage der Hippie- und Friedensbewegungen, gemischt mit einer gewissen Post-Punk-Ironie.

Es war wahrhaft tragisch, zu sehen, wie die ältere Generation damit begann, das Land in Stücke zu reißen, zunächst durch ihre rückwärts gerichtete Rhetorik und dann durch Scharfschützen und Bomben. Die Leute wurden gezwungen, in nationalistischen Auseinandersetzungen Stellung zu beziehen, während dem schweigenden Kern der traumatischen Erinnerung freie Hand in der Suche nach Ersatzopfern erteilt wurde. Die Außenwelt antwortete mit ihren eigenen kulturellen Zuschreibungen, mit denen die Region bedacht wurde, und ließ die Bilder vom Balkan als dem „Pulverfass“ Europas sowie dem Reich endemischer ethnischer Auseinandersetzungen wiederauferstehen. In der Zwischenzeit starben unschuldige ZivilistInnen, während sich die nationalistischen Eliten ihre Taschen mit den geraubten Ressourcen des ehemals gemeinsamen Staates vollstopften. Während der globale mediale Blick die Vision von „Stammeskriegen“ stark machte und sich lokale Medien an der Dämonisierung ihrer neu entdeckten ethnisch Anderen beteiligten, entschied ich mich, das Idiom, durch das möglicherweise die „dritte Stimme“ gehört werden kann, zu suchen und zu erproben. Das Medium der Übersetzung schien der beste Zugang zu diesem Minenfeld, in dem man ständig Gefahr läuft, von allen beteiligten Seiten etlicher intellektueller Verbrechen beschuldigt zu werden. Wenn ich daher meine Geburtsstadt Belgrad besuche, werde ich als „Amerikaner“ wahrgenommen, sobald ich meine Stimme gegen die nationalistischen Phantasmagorien erhebe – während es mir in den USA niemals erlaubt ist, mich zum „Jugoslawen“ zu erklären, ohne mit der unvermeidlichen zweiten und dritten Frage konfrontiert zu werden: „Wer bist du wirklich?“ Ich vermute, die Antwort liegt ausschließlich in der Übersetzung.

 

 

[1] Tomislav Longinović, „Fearful Asymmetries. A Manifesto of Cultural Translation“, in: The Journal of the Midwest Modern Language Association, Bd. 35, Nr. 2: „Translating in and across Cultures“, Herbst 2002, S. 5–12.

[2] Vgl. „Eine Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack“, übers. v. Peter Urban, in: Eine Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack. Russische Futuristen, Hamburg: Edition Nautilus 2001, S. 55–56, hier: S. 56.

[3] Arthur Koestler, Sonnenfinsternis, Hamburg, Wien: Europa Verlag 2000.

 

[4] Tomislav Longinović, Moment of Silence, San Francisco: Burning Books 1990.

[5] Tomislav Longinović, Minut Ćutanja, Belgrad: Radio B92, 1997.

* Mit Asterix gekennzeichnete Ausdrücke sind im Original auf Deutsch.