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07 2001

Im Sommer des Protests. Fortschritt zwischen Gipfel und Grenzcamp

Gerald Raunig

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journal
protest

"... wiederholen wir es noch einmal, die Welt und ihre Staaten sind ebensowenig Herren ihres Plans wie die Revolutionäre auf immer verurteilt, den ihren stets zu deformieren. Alle diese Partien sind durchaus noch unentschieden. [...] Die Frage nach der Zukunft der Revolution ist eine schlechte Frage, weil, solange sie gestellt wird, es immer noch Leute geben wird, die nicht revolutionär werden, und weil sie dazu dient, die Frage nach dem Revolutionär-Werden der Menschen, auf jeder Ebene und an jedem Ort, zu unterbinden." (Gilles Deleuze)

Dieser Sommer ist ein europäischer Sommer des Protests: Grenzcamps, die die Rigidität der Schengen-Grenzen zu unterwandern suchen, (Kultur-)Karawanen, die wie etwa die in Wien gestartete NoBorder-Tour der VolxTheaterKarawane mit theatralischen Mitteln einen produktiven Zwitter von kulturellem und politischem Widerstand weiterentwickeln [1], Demonstrationen gegen die Effekte der ökonomischen Globalisierung, allen voran beim G8-Gipfel in Genua.
Gegen diese Protest-Aktionen erregt sich - in Österreich seit dem Regierungswechsel ebenso reflexartig, voraussehbar wie fad - der rechte Mainstream mit pauschaler Diffamierung und den Bezeichnungen "Randalierer", "Chaoten", "Krawalltouristen". Aber auch die liberalen Zeigefinger erheben sich allenthalben. Im Umfeld der Salzburger WEF-Konferenz verschärften so der grüne MEP Daniel Cohn-Bendit im Falter, Redakteur Michael Fleischhacker im Standard und Bank-Austria-Chef Gerhard Randa in der Presse aus verschiedenen liberal(istisch)en Positionen die diskursiven Attacken auf die Demonstrierenden.

Der durch die Institutionen marschierende Ex-Revoluzzer Cohn-Bendit beschreibt die Gipfel- und Grenzhopper als kopflose Idioten und Abenteurer, die ihrem "Machogehabe" und ihren "Potenzphantasien" nach dem Schema "Pawlowscher Hunde" freien Lauf liessen, "kaum sitzen fünf Regierungschefs zusammen". [2] Standard-Chef vom Dienst Fleischhacker spannt - in der Nachfolge von "Schüssels Tafelrunde" (Burger, Liessmann, etc.) - den Bogen von den diesmal zu "Anständigen" umgetauften "Gutmenschen" bis zur Klage "über die Ärmlichkeit der Inhalte von Anti-Globalisierungs-Kundgebungen" und deren "Uraltparolen". [3] Generaldirektor Randa schließlich versucht schon im Titel seines Kommentars "Naiver Protest gegen den Fortschritt", die Positionen von Macht und Widerstand umzukehren. [4] Die Kommentare der sich selbst einst vielleicht als linksliberal verstehenden Apologeten einer sich radikalisierenden ökonomischen Globalisierung eint vor allem eines: die aggressive Positionierung im plötzlich vom Zaum gebrochenen Definitionskampf um den Begriff von Progressivität.

Der lockere Umgang der "grünen Mitte" mit der eigenen Geschichte, die Forderung der liberalen Redaktion nach Inhalten statt Gewalt, während zugleich vor dem Hintergrund des abstrakten Gewaltmonopols des Staats darauf vergessen wird, über Polizeigewalt Bericht zu erstatten, und ganz besonders die gar nicht so neue Synonymsetzung von Kapitalismus und Fortschritt, alle Argumentationsmuster bauen sich auf vor der Folie der angeblichen Visionslosigkeit, ja Rückständigkeit der Protestierenden. Vor allem Randa spricht es aus: Radikale Ökonomisierung hieße "Öffnung und Fortschritt", hieße "Freiheit und Frieden in Europa bis zum Ural", dagegen sei das "diffuse Feindbild der Protestierer" "einfach nur ängstlich und reaktionär".

Die drei punktuellen Beispiele aus Presse, Standard und Falter sollen nun nicht nur dazu dienen, die offensichtlich aus einer gewissen Bedrohung ihrer Ziele entstandene Vehemenz der Globalisierungsapologien zu verdeutlichen und die österreichische Zeitschriftenlandschaft zwischen offen-autoritären und pseudo-liberalen Standpunkten zu verorten, sie sind auch als Abbilder der gesellschaftlichen Verhältnisse im Postfordismus zu verstehen, vor allem der Entwicklungen der Funktionen von Ökonomie, Medien und Politik, wie sie etwa Marco Revelli beschreibt. [5] Während Randa fast idealtypisch für einen klassischen Vertreter der Deregulierungsideologie transnationaler Konzerne steht, entsprechen Standard-Redakteure wie Hans Rauscher oder Michael Fleischhacker der medialen Position, die den Staat in die Rolle des Managers seiner eigenen Unterordnung unter den globalen ökonomischen Rahmen drängt, was nicht nur von postthatcheristischen Regierungen wie der derzeitigen österreichischen, sondern auch durch die neue "grüne Mitte" im Verein mit der nach rechts gerückten Sozialdemokratie diensteifrig exekutiert wird.
Wenn die Entwicklung des souveränen Nationalstaats auf einer Autonomisierung des Politischen von Religion und Ökonomie basierte, kann der diffuse und ebenso diffus benannte Prozess der Globalisierung zwischen Dekonstruktion und Destruktion der politischen Demokratie mit Revelli als eine Art Refeudalisierung verstanden werden, als im Rückwärtsgang vollzogene Wiederaufgabe der Souveränität zugunsten der transnationalen ökonomischen Flüsse und der Medien- und Unterhaltungsindustrien, die gewissermassen die prämoderne transmissive Rolle der Religion übernommen haben.
Der Verlust der Nationalstaaten an Territorialität und Souveränität wird uns nun im Namen des Fortschritts als Deterritorialisierungsstrom vermittelt, als ein Zuwachs an Beweglichkeit und Offenheit, eine progressive Entwicklung, bestens veranschaulicht durch die Metapher des Fließens: Datenflüsse, Geldflüsse, Informationsflüsse, Flüsse organisatorischer Ressourcen wollen sich nicht mehr an die Grenzen eines nationalstaatlichen Flussbettes halten, sie brechen über die Ufermauern, überschreiten die Grenzen von Territorium und Regulierung, werden zum den ganzen Planeten umfassenden Meer.
Gleichzeitig mit dieser Zurückdrängung des nationalstaatlichen Territoriums ereignet sich aber in einer anderen Dimension eine weit effektivere Reterritorialisierung: Die vielgepriesene Fluidität, Pluralität, Heterogenität der neuen globalen Flüsse ermöglicht unter Zurückdrängung der staatlichen Souveränität auf ihre rein verwaltenden Funktionen, unter Umgehung nahezu jeder verortbaren Gerichtsbarkeit, eine Festschreibung der verunsicherten (gar nicht flexiblen) Individuen und eine Einflussnahme auf kleinere, nicht mehr nationale Territorien (z.B. Regionen, Städte und Stadtteile, die um Standortvorteile buhlen) durch transnationale Autoritäten [6], die hauptsächlich durch Diversifizierung und Unfassbarkeit, durch große, mindestens aber uneinschätzbare Entfernung, kurz: durch eine radikale und antidemokratische Form der Abstraktion gekennzeichnet sind. Zugleich bringt das integrierte ökonomisch globalisierte System, das ja die meisten Migrationsbewegungen erst erzeugt oder verstärkt, mit Hilfe hochentwickelter kontrollgesellschaftlicher Technologien eine dramatische Verschärfung der Ausschlüsse, auch und besonders territorialer Ausschlüsse, die in einer neuen, vertikalen Ordnung der Migrations(un)möglichkeiten Niederschlag finden.

Um diese Form der Krypto-Reterritorialisierung als Fortschritt zu verkaufen, braucht es jede Menge verbaler Tricks. Zu derlei rhetorischer Verwirrungstaktik gehört auch das von Randa aufgerufene, von Cohn-Bendit prompt bediente Klischee der "guten", weil geläuterten 68er, die noch für eine bessere Welt revoltiert, sich später eben eingeordnet hätten, als Gegenbild zu denen, die "unsere" Zukunft nun mit "Defaitismus und anachronistischer Systemkritik" verbauten, "negativ", letztlich "fortschrittsfeindlich" [7].

Was die radikale Negation angeht, trifft der Banker den Nagel allerdings auf den Kopf: Angesichts der ideologischen Alternativlosigkeit bleibt in Theorie wie auch in Praxis auf Makro-Ebene nur die Kritik der Verhältnisse. "Fortschritt" will dementsprechend entweder in Abwandlung eines Adorno-Wortes als Massenbetrug bekämpft oder grundsätzlich neu belegt werden: letzteres vor allem auf einer mikropolitischen Ebene, die - die makropolitische Negation miteinbeziehend - auch über utopische Konzepte hinaus zielt, sofern Utopie die verräterische Hoffnung auf ein Majoritär-Werden, eine Macht-Übernahme in sich trägt. In der derzeitigen Lage und als Basis für die Aktionen zwischen Genua und den Grenzcamps bietet sich daher ein sehr beschränkter, kleiner Fortschrittsbegriff an, einer, der die Aktion statt der Repräsentation, die Taktik statt der Strategie, die kleinen zeitlichen Vorsprünge statt der Behäbigkeit der starren Orte in den Vordergrund stellt; einer, mit dem der "Punkt der Gegenwart" unendlich gedacht wird, wo sich Progression als Weiterschreiten im Gegenwärtigen ereignet; einer, in dem die Gegenwart nicht mehr eingespannt vorgestellt werden kann zwischen Zukunft und Vergangenheit, als das, was einst zukünftig war und sich damals schon abzeichnete, vorschien. Kurz: ein Begriff des Fortschritts, der auf dem gegenwärtigen (Revolutionär-)Werden eines - keineswegs theoriefeindlichen - Aktivismus beruht.

Deterritorialisierten Kapitalflüssen entgegen stellt sich ein Protest, der deren Reterritorialisierungseffekte thematisiert und bekämpft und selbst mehrfach über Territorien und deren Grenzen hinauswirkt; gerade angesichts der Tatsache, dass kein Weg zurückzuführen scheint zum Paradigma des Nationalstaats. Die Karawanen des heurigen Sommers verwenden die theoretischen Konzepte der 70er Jahre, von Deleuze, Guattari, Foucault und anderen entwickelt, in deren Sinn als Selbstbedienungsläden. Daneben werden die Werkzeugkisten der Kunstgeschichte, der Geschichte des politischen Aktivismus, aber auch der eigenen Erfahrung in früheren Protestbewegungen geplündert. Aber nicht nur die Vielschichtigkeit der Traditionsstränge, sondern auch die nomadische Qualität und die Heterogenität der Gruppenzusammensetzung bedingen die Praxis eines unspektakulär-gegenwärtigen Konzepts des Fortschreitens: Die VolxTheaterKarawane experimentiert etwa mit Kollektivität in Bewegung, und das heißt auch mit der Unplanbarkeit des gegenwärtigen (Revolutionär-)Werdens auf zwei Ebenen. Einerseits ist die kollektive Praxis des politischen Straßentheaters per se eine offene, andererseits sind die vorgefundenen Orte und Kontexte der Aktionen während der Salzburger WEF-Konferenz, beim Grenzcamp in Lendava, bei der Demonstration gegen die slowenische Schubhaftpraxis in Ljubljana oder während des G8-Gipfels in Genua jeweils neue, differente, unbekannte.

"Nicht das, was wir sind, vielmehr das, was wir werden, was wir dabei sind zu werden, das heißt das Andere, unser Anders-Werden ist das Aktuelle", meint Michel Foucault, und dieser Aktualitätsbegriff ist - mehr noch als in den kaderförmig organisierten und identitätspolitisch abgeschotteten Praxen der Siebziger - der Progressivitätsbegriff derer, die nun ihren Protest gegen die ökonomische Globalisierung, aber auch gegen das europäische Projekt der Exklusion aktivistisch realisieren und zusehends vernetzen.

Vernetzung wird hier als Transversalität betrieben, und zwar nicht nur als transnationale, grenzüberschreitende, damit auch Grenzen in Frage stellende Kooperation, sondern auch als eine Zusammenarbeit über Feldgrenzen hinaus: MigrantInnen, antirassistische Organisationen, politische Gruppen aus allen sozialen Feldern, Intellektuelle und KünstlerInnen wollen ihre spezifischen Kompetenzen einbringen, um temporäre Aktionen gegen diejenigen zu setzen, die jede andere, demokratische Einmischung in ökonomische Entscheidungen be- oder verhindern. Konkret wird diese Transversalität z.B. in Genua im Rahmen einer Verknüpfung und Überlagerung von zwei - ansonsten meist getrennt agierenden - oppositionellen Strängen: Organisationen der "anderen" Globalisierung und antirassistisch/migrantische Gruppen rufen für 19. Juli zum "Migrants' International March" auf. Auch eine Version des Fortschritts: transversale Kämpfe, in denen weder die große Revolution noch der große Begriff von Fortschritt, dafür ein über Partikularinteressen hinausgehender vernetzter Aktivismus entwickelt wird.

[1] vgl. http://www.no-racism.net/nobordertour/

[2] vgl. "Schüssel hat Recht". Interview mit Daniel Cohn-Bendit, in: Falter 26/01, S.8f.: "Früher sind sie kopflos in den Krieg gezogen, heute ziehen sie kopflos in Demonstrationen."

[3] Michael Fleischhacker, "Die Folklore der Anständigen", in: Der Standard, 2.Juli 2001, S.24

[4] Gerhard Randa, "Naiver Protest gegen den Fortschritt", in: Die Presse, 2.Juli 2001, S.2

[5] vgl. Marco Revelli, "Die gesellschaftliche Linke. Jenseits der Zivilisation des Marktes", Münster: Westfälisches Dampfboot 1999

[6] Marco Revelli zieht hier eine Analogie zwischen prä- und postmodernen Herrschaftsmodellen; vgl. Revelli, a.a.O., S.107: "... die tendenzielle Rückkehr von bisher überwunden geglaubten Formen des Patrimonialismus: d.h. die Ausübung der Macht über die Menschen, ausgehend vom direkten Besitz der Verwaltungsmittel und der ökonomischen Disponibilitäten des Territoriums"

[7] Randa, a.a.O.

 

[Langversion des als "Kommentar der anderen" im Standard vom 19.7.2001 gekürzt veröffentlichten Textes]