05 2003
Vor der Repräsentation. Videobilder als Agenten in "Passing Drama" und TIMESCAPES
1.
Die Rolle im Traum eines Anderen zu spielen oder im Leerlauf der Gewohnheiten zu verharren ist das berechtigte Angstbild eines postmodernen sozialen Todes. So gesehen ist die Entstehung der Medienkunst nicht nur ein Kunstgenre, sondern auch auf kollektive Wunschkräfte gegen diesen postmodernen Tod begründet. Wenn die Potenziale der individuellen Handlungsmöglichkeiten zwischen technischen und sozialen Entwicklungen oszillieren, so ist das, was unter der Kategorie Medienkunst subsumiert wurde, auch Ausdruck eines Widerstands gegen diesen postmodernen Tod der Desubjektivierung.
Seit den 80er Jahren,
mit der Invasion audiovisueller Apparate und Computer
in den privaten Wohnbereich, besetzt der Computer heute
neben dem Bett den wichtigsten Platz zu Hause. Eine
"audiovisuelle Produktion des Selbst" mit
PC's, Kameras, Soundmaschinen etc. formt seitdem die
Vorstellungs- und Handlungsräume einer ersten, zweiten
und mittlerweile vierten oder fünften Generation von
MedienkonsumentInnen/‑produzentInnen und determiniert
neue soziale Kategorien.
Stephan Geene beschreibt diese
"Produktion des Selbst" als ein "Second
Self mit Medien", eine Bezeichnung, die er aus
der Untersuchung der Psychologin Sherry Turkle über
die Beziehung von Subjekt und Technologie entlehnt.
Nach Turkle hat der Computer "eine zweite Natur
als evokatorisches Objekt, als ein Objekt, das fasziniert,
unseren Gleichmut stört und unser Denken neuen Horizonten
entgegentreibt. Der Computer ist eine metaphysische
Maschine, eine psychologische Maschine, nicht deshalb
weil man vom psychisch Unbewußten der Maschine sprechen
könnte, sondern weil er Einfluss darauf hat, wie wir
über uns selbst denken.... ". Das "Second
Self mit Medien" ist "kein artifizielles Subjekt,
sondern das Produkt einer reflektiven Ich-Beobachtung,
die auf eine Disposition im sozialen Netz angewiesen
ist", so Geene.[1]
Die individuelle Aktualisierung von Informationsflüssen
intensiviert und beschleunigt das Wechselspiel und den
Austausch zwischen Konsumption und Produktion, zwischen
der Rezeption stereotypisierter Sprach- und Bildaffekte
(z.B. durch das Fernsehen) und der Produktion einer
Unterbrechung der Zeitströme, der Kreation eines Intervalls,
denn die Beeinflussung der Bild-, Ton-, und Informationsströme
ist immer eine prozessive Gedächtnisarbeit, in der kollektive
Referenzen und persönliche Erfahrungen übereinander
gelegt werden.
Diese "audiovisuelle Produktion
des Selbst" wird zum Botenstoff im Informationsfluss
der Massenmedien, dem kollektiven "Körper"
der MedienrezipientInnen. Er aktiviert neue Abläufe
und Kanäle in beiden Richtungen, er bestimmt die Zirkulation
der Information mit, er ist das Rauschmittel postmoderner
Rituale. Er wird in homöopathischer Dosis in den kollektiven
Echoraum, den körperhaften und immateriellen Gedächtnisraum,
eingeführt. Er schreibt sich als schmerzhafter Prozess
in das kollektive Gedächtnis ein, schmerzhaft, weil
er zunächst abgestoßen und sodann benutzt wird, wenn
er durch ununterbrochene Wiederholung Teil der sozialen
Maschine wird.
Aus dem molekularen Produktionsraum
privater MedienproduzentInnen strömen Impulse für die
Kreation neuer Gedächtnisrelationen aus der Sicht neuer
Wahrnehmungszusammenhänge. Umgekehrt ist jede Generation
von ProduzentInnen an "ihre" Massenmedien
gebunden. Félix Guattari beteuerte in einem Interview,
das wir während des ersten Golfkrieges in Paris führten[2],
dass "jede Generation die Medien hat, die sie verdient".
Die Fernseh-ZuschauerInnen, die von Félix Guattari schon
lange vor der Computerrevolution als AgentInnen und
nicht als KonsumentInnen bezeichnet wurden, nehmen von
ihrer Opferrolle als RezipientInnen manipulierender
Massenmedien Abschied. Sie sind heute ProduzentInnen,
die die Brechung öffentlicher, stereotypisierter Affektströme
als Element der Selbstproduktion nutzen (auch wenn sie
keine audiovisuellen Produktionen realisieren). Sie
sind von den Bewegungen im medialen Echoraum abhängig,
nicht unabhängige AutorInnen und KritikerInnen.
Aus der Notwendigkeit, die eigenen Wahrnehmungs- und Subjektivierungsprozesse überprüfbar und vermittelbar zu machen, wurde ein Nachdenken mit Maschinen geboren, das mit der elektronischen Kunstproduktion seit den 60er Jahren populär geworden ist. Dieses Denken mit Maschinen innerhalb »sozialer Maschinen«, das von der Wirkung eines »maschinellen Unbewussten« (Deleuze/Guattari) gedopt ist, oszilliert zwischen Wiederholung und Differenz, zwischen einem automatisierten und einem kreativen Gedächtnis, zwischen Gewohnheit und Erfindung. Es wäre zu einfach, diese "Produktion des Selbst" als elitäres Phänomen der ersten Welt abzutun. Computer und Kameras sind heute fast billiger als Maschinengewehre und meiner Meinung dort politisch effektiver, wo es darum geht, sich Eintritt in die kollektive, öffentliche Sphäre technisierter Gesellschaften zu verschaffen. Beispiele dafür gibt es aus allen Teilen der Welt, in denen politische Auseinandersetzungen geführt werden.
Im Kunstbetrieb,
in dem die Spuren dieser "Selbstproduktion"
zuerst eine Öffentlichkeit fanden, wurde ihr inflationäres
Auftauchen jedoch zum Problem. Die einer kleinen Gruppe
vorbehaltene "Produktion des Selbst" hebt
den Kunstbetrieb aus seiner traditionell exklusiven
und elitären Sphäre. Der Starkult wird zum sicheren
Erkennungszeichen einer Massenkommerzialität, in dem
nur ein geringer Anteil neuer Subjektivierungsprozesse
enthalten sein kann, denn wenn die Frage der Subjektivierung
an die Disposition im sozialen Netz gebunden ist, kann
sie nicht aus einer einseitigen Beziehung zwischen Konsumption
und Produktion entstehen. Die Repräsentationen der "Produktion
des Selbst" sind nicht von Dauer und zeitlicher
Ausdruck eines Prozesses, doch die Instanz, die diesen
Prozess hervorbringt, ist lebendig. Deshalb wurden aus
Ausstellungsräumen Plattformen der Begegnung, die längst
die soziale Funktion der Kunst in der Gesellschaft neu
definiert haben.
Auch die Kinowelt, die seit dem
ersten Weltkrieg von den Propagandaministerien und nach
dem 2. Weltkrieg von nationalstaatlichen Medieninstitutionen
kontrolliert und bestimmt wurde, ignorierte bis vor
kurzem die mikroskopischen ökonomischen Strategien
immer differenzierterer Produktionsmöglichkeiten. Doch
dies vielleicht mehr auf Grund der Machtinteressen der
großen Medien, die ähnlich wie militärische Institutionen
temporär über jegliche ökonomische Argumentation hinweg
agieren können.
Das Ende der großen Geschichte
(des Fortschritts, der Revolution, des neuen, modernen
Menschen und der Maschine) in Literatur und Kino war
jedoch, so Maurizio Lazzarato, längst besiegelt. "Die
Krise der Repräsentation zeigte sich schon vor den Weltkriegen
gleichzeitig in Kunst und Politik. Die wichtigen Forschungen
über Gedächtnis, Gehirn und den mentalen Raum wurden
bereits vor dem ersten Weltkrieg geführt. Sie antizipieren
eine gesellschaftliche Erfahrung, die das zwanzigste
Jahrhundert prägen sollte: die Kooperation zwischen
den Gehirnen. Die Welt wird Gedächtnis. In einer Welt,
die zu einem kollektiven Gehirn wird, ist das Leben
der Menschen so unsicher und wahrscheinlich, wie die
Beziehung zwischen den Synapsen. Das Leben hat im wörtlichen
Sinne keine Geschichte. Es verläuft nicht auf ein Ziel
gerichtet, sondern verkettet Situationen und kann in
alle Richtungen verlaufen. Es kann erst dann als dramatische
Folge beschrieben werden, wenn es beendet ist. Erst
dann ordnen sich alle Ereignisse in eine Geschichte
ein und werden als notwendige Aktionen in Folge sichtbar.
Von diesem Standpunkt aus gesehen, kann das Leben nicht
repräsentiert werden."[3]
2.
Nach Henri Bergson ist das Gedächtnis eine Akkumulationsform von Zeit, um die Möglichkeit einer willentlichen Auswahl einzuführen. Wir können einen kurzen Moment aus unserer Kindheit ein ganzes Leben lang widerkäuen. Das bedeutet, wir können bestimmte Bruchstücke von Input-Time nach eigenem Willen dehnen oder komprimieren. Das Gedächtnis führt durch Intervallbildung die Vergangenheit in die Gegenwart ein, es lässt das "Tote im Lebendigen" auftauchen.
Die Videotechnologie operiert als Zeittechnologie. Elektronische Bildtechnologien doppeln die Realität nicht, sondern imitieren vielmehr eine Funktion der Wahrnehmung durch Intervallbildung: ein neues System, das Dauer und Intensitäten synthetisiert. Die Kamera als technisches System funktioniert als sensorisch-motorisches (körperliches) Gedächtnis: sie nimmt (Licht-)Bewegungen auf und moduliert sie durch Kontraktion und Dehnung zu elektromagnetischen Strömen oder Frequenzen, die Zeit sind. Das Videobild wird in seiner Bewegung direkt von der Wellenbewegung der Materie bestimmt. Die Kamera agiert als ein System von Input- und Outputzeit innerhalb der Lichtwellen. Es ist jedoch ein technisches System, indem es keine "willentlichen Beeinflussungsmöglichkeiten" gibt, d.h. indem sich Kontraktion und Dehnung automatisch wiederholen. Die Montage fungiert als System der Kontraktion und Dehnung dieser Zeitströme, auf die willentlich Einfluss genommen werden kann, denn in der Montage können Zeitrelationen und Zeitdauer manipuliert werden (aus einer Sekunde Material können zehn Sekunden Material generiert werden). So hat man mit der Kamera und der Montage die zwei Wesensarten des Gedächtnisses, die Henri Bergson in "Matière et Mémoire" definierte, und kann Video (Kamera und Montage) als ein technisches System beschreiben, das die neurologische Funktion des Gedächtnisses simuliert.
Videobilder haben ein vor-repräsentatives Leben: ein molekulares Leben aus (Band-)Geschwindigkeiten, (Licht-)Intensitäten, (Kamera-)Bewegungen und (Video-)Lichtströmen, die von kleinsten Wunschkräften und Affekten bestimmt werden. Elektronische Bilder, Töne und deren kleinste Pixel werden hier als Körper verstanden, die auf andere Körper einwirken, denn jedes Bild ist ein Körper und jeder Körper ein Bild. Jede Kameraaufnahme hat eine Art Geburtsstätte, einen Schnitt im Zeit/Raum-Kontinuum, dessen Vergangenheit und Gegenwart unsichtbar bleiben. Dem Ausschnitt fügt sich unmittelbar eine virtuelle Zeit hinzu, zukünftige Umgebungen möglicher Ereignisse in der Montage. Dieser Anteil des Fiktiven ist Teil jedes aktualisierten Kamerabildes. Das Videobild ist ein "Schaltzentrum", ein visuelles Gedächtnis, das als Agent und nicht als Abbild funktioniert. Es gibt kein objektiv/dokumentarisches Bild. Kameraorte sind offene Ereignisorte einer Vielzahl von (Bewusstseins-)Strömen. Sie beinhalten virtuelle Aktualisierungspotenziale, die später in der Montage entfaltet werden können.
Das Video "Passing Drama" reflektiert das Hörbild meiner Familiengeschichte. Es erzählt von der Flüchtlingsgeschichte meiner griechischen Familie, die mich über drei Generationen hinweg als fragmentarisches und märchenhaftes Bild erreichte. Die Flucht als grundlegendes Motiv der Erzählung wurde zum videografischen Thema über Erzählung, Geschichte und Gedächtnis.
"Drama" ist der Name einer kleinen Stadt in Nordgriechenland, in der sich viele Flüchtlinge (darunter meine Großeltern) aus Kleinasien ansiedelten, die das Trauma der so genannten "Kleinasiatischen Katastrophe" überlebten. Zwischen 1922 und 1925 wurden aus verschiedenen Gebieten Kleinasiens, der heutigen Türkei, die dort lebende griechische Minderheit (ca. 1,5 Millionen Menschen) deportiert und ausgesiedelt. Viele Kinder dieser Flüchtlinge (darunter mein Vater), die in Nordgriechenland in ehemals türkischen Dörfern zur Welt kamen (die moslemische Bevölkerung, circa 500 000 Menschen, wurde nach dem Vertrag von Lausanne 1923 aus Griechenland ausgesiedelt) oder den Exodus aus der Türkei als Kind noch erlebt hatten, kamen 1942 als ZwangsarbeiterInnen nach Österreich und Deutschland. Dieser Teil Nordgriechenlands war von der bulgarischen Armee besetzt worden, die mit Hitler alliiert war. Armut, Rassismus, die Verdeckung historischer Fakten, vor allem aber die innere Notwendigkeit, die traumatischen Erlebnisse der Deportationen aus der Türkei und die Zwangsarbeit im Zweiten Weltkrieg zu vergessen, prägten dieses Hörbild einer Flucht, das von Generation zu Generation und von Ort zu Ort immer wieder neu erzählt wurde.
Die Assoziation des Titels "Passing Drama" mit Bühne und Film will auf den performativen Charakter der Erzählung hinweisen. Die "Jetzt-Zeit" war für die ErzählerInnen im Video eine definierende Kraft. Der performative Akt des Berichtens bestimmte die inhaltliche Vermittlung. Die Flüchtlinge erzählten mir ihre Geschichte im hohen Alter, sie hatten ihr Leben gelebt, aber es schien das erste Mal zu sein, dass sie nach ihrer Geschichte befragt wurden. Ihre Erzählungen verwiesen auf eine Struktur der mündlichen Überlieferung, die durch das Überleben gezeichnet war: auf den Echoraum eines mentalen Überlebenskampfes, der auch noch in der Gegenwart bestimmend war. Die Textebene des Videos besteht aus Interviews dieser 2. Generation, die die Erzählung ihrer Eltern als Kind gehört hatten. Es waren Sätze wie Steine. Sätze, deren Stimmmelodien sich über drei Generationen hinweg in das kollektive und individuelle Gedächtnis eingeschrieben hatten. Das Vergessen von Gestern hatte sich mit dem Vergessen von Vorgestern verwoben und vermischte sich mit dem Vergessen von Heute. Über Generationen hinweg profitierte diese Erzählung vom schauspielerischen Talent ihrer ErzählerInnen, die einzelne Momente dehnten oder verkürzten und unauslöschbare Bruchstücke, die durch Wiederholung und Übertragung wie zu einem Lied über die Flucht wurden, selbst wiederholten.
"In der Übertragung des Gedächtnisses, des Wissens, der Denk- und Lebensgewohnheiten klafften Brüche und Diskontinuitäten. Die Blockierungen und Aphasien im Gedächtnis dieser zu Migranten gewordenen Ansässigen beinhaltet jedoch eine Wahrheit, die nicht nur sie betrifft. Denn was ihnen widerfuhr, ist auch uns passiert: eine radikale Veränderung, sein Gedächtnis und seine Zeit zu leben."[4]
Das Vergessen oder
die Notierung des Vergessens drückt sich in "Passing
Drama" durch die Montage verschiedener Vergangenheitsebenen
aus. Jeder Ort repräsentiert eine andere Zeitebene in
der Erzählung: Je weiter der Ort der Erzählung zurücklag,
also je weiter die Ereignisse, die an diesem Ort statt
gefunden hatten, in der Vergangenheit lagen, desto mehr
wurde die Bildbearbeitung und Montage an dieser Stelle
vorangetrieben. Von Bildgeneration zu Bildgeneration
konstruierte ich mittels der Bildbearbeitung verschiedene
Ebenen und Abstraktionsgrade, die der "Generation"
der Erzählung entsprechend zugeordnet waren.
"Realtime" stellt den
Maschinenort dar (Hier und Jetzt - Deutschland). Dieses
Bildmaterial wurde in der Postproduktion nicht beeinflusst.
Es sind Bilder industrieller Webmaschinen, die immer
wieder zwischen den Sequenzen auftauchen. Sie sind nicht
nur soziologische Beschreibungen (viele Flüchtlinge
arbeiteten in der Textilindustrie), sondern fungieren
auch als Paradigma der Erzählkonstruktion. Historie
erscheint in "Passing Drama" als industrielle
Maschinerie, die zu Gunsten einer unsichtbaren Mehrheit
Minderheiten verschlingt.
"Halfspeed" beschreibt
einen Ort des Dokumentarischen, den Ort der Erzählung
(2. Generation: Griechenland/Deutschland). Eine einzige
generative Übertragungsebene beeinflusst den Ablauf
der Erzählung. Verzerrung wird spürbar, aber der Grad
der Fragmentierung zerstört gewöhnliche Bildabläufe
noch nicht. Das Material wurde in der elektronischen
Postproduktion durch Verlangsamung oder Dehnung einmal
bearbeitet, so dass sich mein Leseprozess einmal in
die nächste Bildgeneration hinzu- und hineinaddierte.
Meine Betrachtungszeit floss in die nächste Bildgeneration
hinein, ähnlich wie in der mündlichen Überlieferung
Erinnerungen aktualisiert werden und aus kurzen Momenten
längere Zeitdauer entstanden. Die noch dynamischeren
Bildabläufe (2 Übertragungsebenen) repräsentieren das
"generierte" Vorstellungsbild eines Ortes,
das den ErzählerInnen überliefert wurde (Kleinasien),
das sie aber selbst nicht gesehen haben. Zeitdehnung
und Komprimierung im Material wurden am extremsten vorangetrieben.
Die Informationsebenen brechen ein, der Text bleibt
fragmentarisch, die Intensität der Materialsichtung
schreibt sich am massivsten in das ursprüngliche Material
ein. Meine eigene Vorstellungskraft hat am stärksten
das Material verzerrt.
Die Kameraaufnahmen und so prozessierten Bilder und Töne wurden digitalisiert und konstituierten im Computer eine Zeit-Kartographie, ein Gedächtnis aus Bildern, Intensitäten, Geschwindigkeiten und Bewegungen aus den verschiedenen Orten der Fluchtgeschichte, die zu unterschiedlichen Zeit- und Vergangenheitsebenen wurden. Diese Datenbank wurde im nicht-linearen Schnitt mit einem linearen Ablaufsystem gekoppelt. Die Spannungsmomente entstanden aus dem ständigen Hin-und Her zwischen den Archivordnungen und dem resultierenden linearen Ablauf. Die "Montage" definierte sich aus der Fähigkeit, innerhalb des Archiv-Gedächtnisses zu navigieren, um neue Verknüpfungen und Montagen aufzufalten. Durch die Möglichkeit, Material im linearen Ablauf vertikal zu schichten, ergaben sich für Bild und Ton unterschiedliche Text-/Bild-/Tonfelder, die das Hervorheben oder das Löschen von Information bestimmten. Die Bild- und Tonströme wurden immer wieder nach Motiven neu verwoben, um einen anderen mentalen und stofflichen Raum zu definieren, der Möglichkeiten einer nicht-linearen Erzählung zulässt, in der unterschiedliche Wahrnehmungsmodi miteinander verschränkt werden können.
In der Narrationsstruktur von "Passing Drama" handelt es sich weder um Dokumentation noch um Fiktion, sondern um die Wahl zwischen Vielstimmigkeit und Einstimmigkeit, zwischen kürzeren oder längeren Stimmphrasen, zwischen offenen und geschlossenen Logiken einer Erzählung, die Flüchtlingsgeschichte im Allgemeinen charakterisiert. Trauma, abenteuerliche Fluchten und Überlebensstrategien bestimmten als konstitutive Psychologien die Wahrnehmungsebenen der Geschichten.
"Der Zuschauer wird in 'Passing Drama' in andere Dimensionen gedrängt. (Dies berührt und stört ihn zugleich, denn er erkennt durch seine Sensibilität intuitiv das vor-individuelle, vor-repräsentative Leben seiner Subjektivität.) Wir werden in eine andere Dimension transportiert, welche die Psychologen mit dem schönen Ausdruck "a-modale Wahrnehmung" bezeichnen: Wie im vorsprachlichen Leben des Neugeborenen haben wir hier noch die Freiheit, das, was uns berührt, nicht durch Kategorien des Bildes, Tones oder durch die Bezeichnung der Objekte zu fixieren, sondern von einem Affekt in den anderen zu gleiten. Es geht nicht darum, dem repräsentativen Bild seine infinitesimalen Elemente entgegen zu stellen, sondern von einem ins andere überzugehen, z.B. von der molekularen in die molare Dimension, wie wir das eben ständig im Leben praktizieren. Die Entdeckung dieser Dynamik in beiden Richtungen führt uns zur Quelle eigener Kreativität. Mit der Verdichtung und Dehnung der Bewegung, mit dem Weben und Verweben der Bild- und Tonströme tauchen neue Wahrnehmungserfahrungen und Logiken auf, die für den Betrachter gleichzeitig Vektoren entmenschlichter Subjektivität sind. In "Passing Drama" verweisen die unendlich kleinen Fluchtlinien (das molekulare Werden) auf die Minderheiten (Migranten). Das Videobild wird zum Echo der Bewegung des migrantischen Proletariats (der Groß-Deterritorialisierten). In dieser Arbeit funktionieren die Bilder der Webstühle paradigmatisch. Man sollte hier vielleicht daran erinnern, daß Platons' Metapher für die Politik das Weben war. Bildströme können aber nicht repräsentiert werden. Man kann sie lediglich miteinander verbinden und komponieren. Man kann sie zerlegen, um sie neu zu arrangieren (Hybridation). Die Unmöglichkeit der politischen Repräsentation von Minderheiten und die Unmöglichkeit ihrer ästhetischen Repräsentation haben gleichermaßen ihre Ursache in der Deterritorialisierung der Ströme."[5]
Das Weben als Methode der nicht-linearen Montage ist eine Erzählung des Gedächtnisprozesses. Das Sinngefüge konstruiert sich permanent neu. Jedes neue Element integriert sich im Gewebe wie in ein Geflecht von Beziehungen. Diese Relationen verhalten sich zueinander "erinnernd" oder "vergessend" (Fiktion, Zitat, Bericht). Diese zwei Grundrichtungen beeinflussen die Verflüssigung oder Stockung von Information und erzählerischem Logos. Das Verknüpfen unterschiedlicher Logiken der Dramaturgie hebt die Momente der Übergänge besonders hervor. Transitionen werden zu den inhaltlich determinierenden Gelenken der Erzählstruktur. Dem Intensiv-Werden der Ereignisse in der Erinnerung kann durch die Intensivierung audiovisueller Transitionen entsprochen werden. Diese mentalen Transitionen und hier die Übergänge unterschiedlicher Erzähllogiken sind Momente, die unsere Aufmerksamkeit besonders beschäftigen. Im Übergang endet die Monotonie einer Logik. Seh- und Hörgewohnheiten brechen auf. Unserer Aufmerksamkeit navigiert von Knotenpunkt zu Knotenpunkt, von einer Verknüpfung zur nächsten, von einem Übergang zum nächsten. Sobald sich Logiken eines Ablaufs auf längere Dauer einstellen, vermindert sich unserer Aufmerksamkeit (Entspannung). Sie wird aktiviert, sobald sich die Dynamik eines entstehenden Ereignisses erahnen lässt. Wir beobachten den Werdegang eines Ereignisses, das Wachsen einer Geschichte oder das Auseinanderbrechen von Sinngefügen.
"Die Ethik und Politik des Bildes in Passing Drama konstituieren eine Ökologie des Geistes für Maschinen-Subjektivitäten."[6]
Das Video "Passing Drama" wurde auch als Performance gezeigt, indem während der Vorführung weitere Tonebenen live hinzugemischt werden. Dies um die Erzählung zu dem offenen Prozess zurückzuführen, aus dem sie geboren wurde: dem Prozess der Montage. Die Rückführung in den offenen Zeitraum der Bühne knüpft an die performative Situation der ProtagonistInnen an, in der das "Second Self mit Medien" miteinbezogen wurde. Es ist der Versuch, eine Spur entstehen zu lassen, die zurück in die eigene Geschichte führt, deren Wahrnehmung von der Nutzung medialer Apparate geformt wurde, die die heutige Möglichkeit der Subjektivierungsprozesse mitbestimmt.
3.
Das Konzept des Videoprojekts TIMESCAPES ist aus "Passing Drama" heraus entstanden. " TIMESCAPES erforscht Ästhetiken der nicht-linearen Filmmontage als kollaborative Prozesse zwischen VideoautorInnen aus unterschiedlichen Ländern in West- und Südosteuropa. Es ist ein kollaboratives nicht-lineares Montageprojekt (mit Hito Steyerl, VI.DEA_Medien Kollektiv Ankara, Dragana Zarevac und Freddy Viannelis) innerhalb des Forschungsprojektes "Transcultural Geographies" von und mit Ursula Biemann, Lisa Parks und Ginette Verstraete.
TIMESCAPES untersucht Repräsentation, Gedächtnis, Politik und Poetik des Videobildes im Montageprozess, um vor-individuelle und kollektive Subjektivierungsprozesse zu visualisieren und neue Formen videografischer Erzählung zu erforschen. Diese Recherche durchleuchtet unterschiedliche Geschichtsbildungen, die heute das kollektive Gedächtnis technisierter Gesellschaften prägen und geprägt haben. Dabei wird vorausgesetzt, dass elektronische Bild- und Tonproduktion und vernetzte Produktionsweise Funktionen des Gedächtnisses simulieren.
Um Gewohnheitsbilder (Klischees) zu dekonstruieren und anders zu verketten, untersucht TIMESCAPES zunächst neue Kamera- und Montagetechniken. Die digitale Postproduktion als Webinstrument ist auch hier ein mögliches Paradigma der Bildkonstruktion. Die Entfaltung von Information und Dauer in der Montage (Cut) sind die Schlüssel dieser Diskussion über Repräsentation, Gedächtnis und Minderheitenpolitik, die sich hier auf eine methodische Praxis bezieht und den Montageprozess formal und inhaltlich konstituiert. Ziel der Recherche ist es, die interne Dynamik einer an verschiedenen Orten arbeitenden Gruppe als konstituierenden Prozess verstehen zu lernen. Hier können Kraftfelder vor-repräsentativer Potenziale als offene Meinungsfelder, generative Prozesse der Notation in der Montage, konnektive und disruptive Schnittstellen zwischen Text, Bild und Ton aus unterschiedlichen Wahrnehmungsbereichen (dem Hören, dem Sehen, der Logik) und von unterschiedlichen Positionen heraus ergründet, sowie Vermischungen, Verzerrungen und Selektionen der Gedächtnisarbeit als schöpferisches Potential untersucht werden.
Ziel der Zusammenarbeit ist eine lineare Geschichte auf Video, doch dies dient nur einer Fokussierung im Arbeitsprozess, der als formale Lösung der Repräsentationsproblematik im Vordergrund steht. Dabei werden neue Repräsentationsoberflächen für den Screen recherchiert, die für die Kollaboration der AutorInnen sinnvoll sind.
TIMESCAPES behandelt durch Konzept und Produktionsweise das Thema 'private Geschichte versus Weltpolitik' oder die Verkettung zwischen den mikro- und makropolitischen Welten (lokal/global, minoritär/majoritär, männlich/weiblich) in Bezug zur Narration und zum Gedächtnis. Die Ausgangsposition ist durch die räumliche Realität gegeben, die hier als Geburtsort des Kamerabildes ein erstes Element der Geschichte ist: entlang der europäischen Achse, die vor den zwei Weltkriegen für das Deutsche Reich strategisch bestimmend war und die bis heute die Achse der Migrationsströme nach Deutschland bildet.
Schließlich ist TIMESCAPES auch ein soziales Filmnetz, denn alle AutorInnen werden zu ProduzentInnen und AgentInnen des Projektes.
Foucault interpretiert den "Eintritt des Lebendigen in die Geschichte" als positive Möglichkeit, das "politische Subjekt als ein ethisches Subjekt" zu denken, und zwar entgegen dem traditionell abendländisch geprägten Denken, welches das politisch-ethische Subjekt allein in der Form des "juristischen Subjekts" definiert. Wenn die Macht das Leben selbst zum Objekt seiner Ausübung macht, so interessiert es Foucault, das zu bestimmen, was sich dieser Macht widersetzt: die Subjektivierungs- und Lebensformen, die sich dieser Macht entziehen. TIMESCAPES interpretiert den "Eintritt des Lebendigen in die audiovisuelle Geschichte" als positive Möglichkeit, durch die Erforschung kollektiver Subjektivierungsprozesse Politiken der Repräsentation als Prozess selbst darzustellen.
Passing Drama, 1999, 66 min
TIMESCAPES www.timescapes.info
[1] Stephan Geene, money aided ich design, Berlin 1998, 45
[2] Canal Dechaine, Avez-vous vu la guerre du Golfe? Paris 1991
[3] Maurizio Lazzarato, "Digitale Montage und das Weben: Eine Ökologie des Gehirns für Maschinen Subjektivitäten" über das Video "Passing Drama" von Angela Melitopoulos, Zürich 2002
[4] Maurizio Lazzarato, "Digitale Montage und das Weben: Eine Ökologie des Gehirns für Maschinen Subjektivitäten" über das Video "Passing Drama" von Angela Melitopoulos, Zürich 2002
[5] Textbeitrag für den Katalog zu der Ausstellung 'Privat Affairs' im Kunsthaus Dresden: Maurizio Lazzarato, "Digitale Montage und das Weben: Eine Ökologie des Gehirns für Maschinen Subjektivitäten", Paris 2002
[6] Textbeitrag für den Katalog zu der Ausstellung 'Privat Affairs' im Kunsthaus Dresden: Maurizio Lazzarato, "Digitale Montage und das Weben: Eine Ökologie des Gehirns für Maschinen Subjektivitäten", Paris 2002