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10 2014

Die Anwendung des Gesetzes

Félix Guattari

Übersetzt von Birgit Mennel

Beim vorliegenden Text handelt es sich um Auszüge aus einem Vorwort zu dem von Christoph Hennion, einem Justizberichterstatter der Zeitung Libération verfassten Buch Chronique des flagrant délits, das 1976 in der Reihe Témoigner beim Verlag Stock veröffentlicht worden war. Das Buch beinhaltet stenografierte Zusammenfassungen von rund 80 Gerichtsverfahren zu „In-Flagranti-Delikten“, die in einer der Strafkammern in Paris durchgeführt wurden. Im Falle von In-Flagranti-Delikten, das heißt unter anderem, wenn Personen auf frischer Tat ertappt werden oder ihre Schuld offensichtlich scheint, sieht das französische Strafrecht ein beschleunigtes Gerichtsverfahren, aber auch erweiterte Untersuchungsmöglichkeiten für die Polizei vor.

[…] Im Allgemeinen möchte man nicht allzu viel darüber wissen, was hinter den Kulissen der Justiz, in den Polizeikommissariaten, in der Untersuchungshaft, in den Gefängnissen oder auch in den Irrenhäusern, den Altersheimen etc. so vor sich geht. Um sich erhobenen Hauptes und mit ruhigem Gewissen bewegen zu können, zieht es die zivilisierte, weiße, konformistische Bürger_in im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte vor, dem Straßenrand, den mikrosozialen Vergeltungsmaßnahmen sowie der Vielzahl von Ungesetzlichkeiten, die im Namen des Gesetzes, der Erziehung und Wiedereingliederung, im Namen von Fürsorge und Gesundheit etc. fortbestehen, nicht allzu viel Beachtung zu schenken. Soll eine Intervention in diesen Bereich Wirksamkeit entfalten können, muss sie also mehr sein als nur eine journalistische Information! […]

Dass die in den Gerichtsverhandlungen zu „In-flagranti-Delikten“ aufgeworfenen Probleme nur einen kleinen Teil der Bevölkerung betreffen, darf nicht dazu führen, dass wir die Bedeutung der sozialen Herausforderungen und der Veränderungen in der Empfindsamkeit aus dem Blick verlieren, für die diese eine Art lichtempfindliche Platte bilden. Das Buch von Hennion gibt einer neuen Minorität, der bislang jede Möglichkeit verweigert wurde, das Wort öffentlich zu ergreifen,  ein erstes Mittel in die Hand, um so Anschluss an all die anderen minoritären Kämpfe zu finden, die gerade dabei sind, sich in Orte der Wiederherstellung einer wirklich revolutionären Bewegung zu verwandeln.

Das Verfahren eines „In-flagranti-Delikts“ wird bevorzugt mittels einer Notfalljustiz abgehandelt, deren Rolle sich auf die Abwicklung von Rechtssachen zweiter Ordnung reduziert. Es ist wohlbekannt, dass sich die Beweisaufnahme auf ein Minimum beschränkt: Sie wird von der Polizei durchgezogen, die in der Praxis vor allem darum bemüht ist, den Grad der „Offensichtlichkeit“ der beanstandeten Vorfälle zu ermessen. Unter diesen Bedingungen bleibt den Richter_innen nichts anderes mehr zu tun, als bei der Anwendung des Gesetzes ihren gesunden Menschenverstand zum Einsatz zu bringen und den Verurteilten einige väterliche Ratschläge zu geben. Die hier versammelten Berichte […] laden uns ein, diesen angeblich gesunden Menschenverstand, der voll der reaktionärsten Vorurteile ist, einer Autopsie zu unterziehen. Das Gefühl der Revolte in Anbetracht der unerträglichen Gewöhnlichkeit und der ekelhaften Selbstgefälligkeit von Richter_innen, die sich das Recht herausnehmen, in einigen Minuten monate- und jahrelange Gefängnisstrafen zu verhängen, wird, wie wir glauben, bei den Leser_innen von einer Faszination begleitet sein, die als pornographisch charakterisiert werden kann. „Da schau her, das spielt sich also im Kopf dieser Leute ab!“ Fernab vom großen Gerichtsapparat, in der Hinterküche, die diese Armenjustiz ausmacht, wird durch unseren gewaltsame Einbruch die gerichtliche Libido auf unzüchtige Weise zur Schau gestellt. Unser eigener Blick gerät in Versuchung, sich dem Voyeurismus hinzugeben, der diesem Spektakel innewohnt. Ähnlich wie in den kurzen Szenen eines sich wiederholenden Albtraums ahnen wir auch hier, dass nichts dem Zufall überlassen blieb. Die rituellen Höflichkeitsbekundungen, die sich Richter_innen, Polizist_innen, Staatsanwaltschaft und Anwält_innen gegenseitig erweisen, sind intrinsischer Teil der sich hier darbietenden Szenarien, die im Wesentlichen das Ziel haben, eine gewisse Form der sozialen Distanz zu reproduzieren.

Diese hochspezialisierte Arbeit sozialer Segregation hat etwas Religiöses oder Aufopferndes, ja sogar Ethologisches. Es wurde oft angemerkt, dass die Antriebsfedern unserer geheimsten Intimität, die ganz begierig ist auf Schuldgefühle erzeugende Verlockungen, durch das Spektakel jener armen, in die Fallen der Repressionsmaschinen tappenden Typen angeregt werden. Sie haben die Fähigkeit, in uns die mikrofaschistischen Ritornelle unserer Kindheit zu erwecken: „Es gibt Schlimmeres … Sie hätten sich nicht erwischen lassen dürfen … Das geschieht ihnen recht. … Weggegangen, Platz vergangen …“. Aber während es bei großen Verbrechen, nach Art einer „Menschenjagd“, gelingt, die neurotische Ökonomie unserer rachsüchtigen Triebe durch eine Mobilisierung der großen Polizei- und Justizinstanzen auszugleichen, stößt man bei den jämmerlichen Geschichten, die das tägliche Brot der In-Flagranti-Delikte[1] sind, auf die brutalen Mechanismen einer pervertierten Justiz, die dort ihren wahren Höhepunkt erreichen. Wie schaffen es Richter_innen, sich in solchen Situationen wohlzufühlen und zu scherzen? Mit welcher Art von mentaler Verirrung haben wir es hier zu tun? […] Die Leute, die dieser Art von Arbeit nachgehen, finden darin eine verborgene Lust. Aber welche Art von „Lustübertragung“ haben wir ihnen stillschweigend ermöglicht, dass sie so sein können?

Für den Fall, dass wir es vergessen haben: „In-Flagranti-Delikte“ dienen dazu, uns in Erinnerung zu rufen, dass die Schuld, noch bevor sie Teil von Gesetzesverfahren wird, mit der unbewussten Libido kapitalistischer Gesellschaften verkoppelt ist. Die Justiz, so wird uns erzählt, habe einen großen Schritt in Richtung „Aufklärung“ getan, seit für die Beschuldigten die Unschuldsvermutung gilt. Doch das stimmt nur – und nur sehr bedingt – in schwerwiegenden Fällen, das heißt, bei den Verhandlungen von Reichen oder bei Verbrechen im großen Stil. Bei „In-Flagranti-Delikten“ hingegen soll man keine Zeit verlieren. Der Überraschungseffekt, die Schnelligkeit der Verfahren – alles eine Technik der Ablenkung, die sich übrigens mit einem gutmütigen Stil begnügt – haben die Funktion, eine durchschnittliche soziale Norm abzugrenzen, und zwar durch die Bestrafung der diversen „Randgänge“. Die Beurteilung der Tat und die Rolle des Gesetzes bei der Strafermittlung sind auf eine zweite Ebene übergegangen. Flagrant ist, dass die Leute, die dieser Art von Gericht vorgeführt werden, „nicht von hier sind“. Wichtig ist, alles Marginale zu registrieren, zu überwachen und zu kontrollieren. Es scheint, dass der Rassismus an diesen Orten dermaßen selbstverständlich ist und sich für dermaßen rechtens hält, dass er sich selbst den Luxus einer Art Gutmütigkeit leisten kann: „Einige Monate Gefängnis schaden diesen jungen Leuten nicht … Diesen Clochards wird es im Gefängnis nicht schlechter ergehen als auf der Straße …“. Die Beschuldigten haben kaum auf der Anklagebank Platz genommen und gelten schon als schuldig. Die Offensichtlichkeit ihrer Schuld ist weniger auf die Taten zurückzuführen, derer sie beschuldigt werden, als auf ihr Sein als solches. Keinen festen Aufenthalt zu haben, immigriert zu sein, sich nicht klar und deutlich in der Sprache der Richter_innen artikulieren zu können ist für sich genommen schon eine Veranlagung zur Schuld.

Die mikrofaschistische Lust, jemanden in seiner Gewalt zu haben, kann sich in unmittelbarer Gewalt äußern– einer Fliege die Flügel ausreißen, eine Frau vergewaltigen –,in Rechtsgewalt – souveränes Argumentieren in einem unwiderruflich asymmetrischen Kräfteverhältnis –, oder in unbewusster Gewalt – das Individuum mit einem Bild und einer Drohung überwältigt, deren Ausmaße es nicht auszuloten vermag. Der Akt, jemanden für ein Delikt zur Verantwortung zu ziehen – wobei wir es in Wirklichkeit immer mit einem komplexen Netz von sozialen und ökonomischen Interaktionen zu tun haben –, besteht eigentlich darin, für das „Vergnügen“ der beteiligten Parteien eine Art animalischer Gegenüberstellung zu rekonstruieren, die in der Sprache der Etholog_innen ein Unterwerfungsritual darstellt. Eine Justiz, die nur die Individuen in Szene setzt, das heißt, der es nicht gelingt, die mikrosozialen Netzwerke zusammenzufügen, bringt die Waage aus dem Gleichgewicht und lässt sie unerbittlich auf die Seite einer sadomasochistischen Gewalt absinken. Verrückt vor Einsamkeit, zerrissen von ihrem gegenstandslosen Trieb rekonstruieren die Individuen blindlings mehr oder weniger wilde „Milieus“, in denen sie es so einigermaßen schaffen, sich eine Identität zu geben. Doch vom Gesichtspunkt der kollektiven Begehrensökonomie aus gesehen, besteht keinerlei Zweifel: Es gibt keine Möglichkeit der Kontinuität zwischen Polizeimilieus, Justizmilieus, Strafmilieus, anrüchige Milieus und Banden im Quartier. Man bleibt also einer Logik verhaftet, die die Individuen an die Schuld und das Gesetz an die latente oder manifeste Delinquenz koppelt.

Ist es möglich, eine Alternative zu dieser Politik der Individualisierung der Verantwortung, der pathogenen Schuldzuweisung und der Schaffung asozialer und repressiver Milieus zu denken? Wird die Abschaffung dieser abscheulichen Polizei-, Gerichts- und Gefängniseinrichtungen letztlich gelingen? Zweifellos wird sich die Idee letztlich durchsetzen,  dass die Gesellschaft – anstatt spezialisierten Körperschaften eine Urteils- und Straffunktion anzuvertrauen – vielmehr Sozialarbeiter_innen die unterschiedlichsten Mittel materieller, ökonomischer, kultureller etc. Natur in die Hand geben müsste, damit diese die Personen, die in Schwierigkeiten stecken, dabei unterstützen können, sich ihrer Probleme selbst anzunehmen (und zwar nicht nur im Fall von großen Krisen oder bei Delikten). Doch wenn man sich nur daran orientiert, wird sich für zwei Arten von Problemen niemals eine Lösung finden: für den Schutz von Personen und für die Herausbildung einer invasiven und repressiven Technokratie von Sozialhilfe. Worum es hier, für uns, geht, ist eine sehr viel radikalere Verlagerung dessen, was wir das Gravitätszentrum der Betreuung nennen: Die Übertragung der Verantwortung an das Individuum und die exklusive Betreuung durch spezialisierte Körperschaften oder medizinisch-soziale Teams müsste durch eine kollektive Betreuung ersetzt werden, die einen anderen Modus der Organisation des Sozialen zur Folge hat. Das Individuum und das Team würden durch neue metabolische Einheiten des Sozius miteinander verkoppelt. Es wird keinesfalls darum gehen, sich auf die bestehenden sozialen Formierungen zu verlassen: die Familie, die lokalen Kollektive, Vereine, Unternehmenskomitees etc., mit ihrem System von Repräsentant_innen und Delegierten, die ihre repräsentative Funktion mehr oder weniger immer für eine repressive libidinöse Spannung verwenden. Eine andere „Justiz“, eine andere „Erziehung“, eine andere „mentale Gesundheit“ etc. werden erst an jenem Tag möglich werden, an dem gemeinschaftliche und selbstverwaltete Systeme das soziale und ökonomische Feld auf radikale Weise neu organisieren. Es wird dann nicht mehr darum gehen, dass jemand für ein Delikt, einen asozialen oder anormalen Akt zur Verantwortung gezogen wird, sondern vielmehr darum, die vielfältigen sozialen und politischen Bezüge zu erkunden, die dieser ins Spiel bringt, um sie zu mobilisieren, und zwar auch auf Gebieten, die angeblich nichts mit diesen Bezügen zu tun haben. Und auch der perverse Despotismus der Richter_innen, Pädagog_innen und Psychiater_innen, der Repräsentant_innen der Ordnung und der Bürokrat_innen aller Art wird sich nicht länger frei entfalten können. Das Zeitalter der Spezialist_innen und Delegierten wird durch andere Formen der Arbeitsteilung zum Verschwinden gebracht. Und diese werden nicht länger die Reproduktion sozio-ökonomischer Normen zum Inhalt haben, sondern das Begehren nach Leben, und zwar überall dort, wo es sich zu entfalten versucht.

„Eine utopische und gefährliche Perspektive!“, wird man entgegnen. Utopisch, weil sie eine kaum vorstellbare Veränderung des sozialen Feldes impliziert; und gefährlich, weil man sich alles in allem lieber professionellen Richter_innen ausliefert – was auch immer deren Schwächen sein mögen – als dem Poujadismus von Hausmeister_innen und Taxifahrer_innen! Darauf antworten wir, dass gar nicht gesagt ist, dass die überall stattfindenden ökonomischen und sozialen Umbrüche nicht eine wirkliche Revolution der Form bewirken, in der Männer, Frauen, Kinder und Alte ihr Leben organisieren. Wenn die Bevölkerung heute zumeist nur als amorphe und von repressiven Repräsentationen der Macht durchzogene Masse existiert, ist dies zu einem großen Teil auch darauf zurückzuführen, dass die revolutionären Bewegungen, die linken Bewegungen, nicht nur nichts für die Veränderung dieser Situation tun, sondern vielmehr selbst bürokratische und repressive Systeme produzieren, die jenen der Macht ähneln. Sie geben vor im Namen der Bevölkerung zu sprechen, ohne sich im geringsten um eine soziale Kristallisierung zu bemühen, die in eine unmittelbare Inangriffnahme der Probleme des Alltagslebens und des Begehrens münden würde. Heute hört man allerorts, dass eine Veränderung der Institutionen notwendig ist, dass der kollektiven Initiative mehr Raum gegeben und die individuelle Freiheit bewahrt werden muss …

[…] Voilà, hier sprechen wir von einem sehr präzisen Bereich, in dem sich ein anhaltender Skandal perpetuiert. Was also sind eure Vorschläge, wenn euch unsere Vorschläge zu exzessiv erscheinen?


[1] Wir lassen die „Delikte“ politischer und gewerkschaftlicher Natur hier beiseite.