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09 2025

Das Ende der Welt durchleben

Zu François Tosquelles’ medizinischer Doktorarbeit

Stefan Nowotny

1. Die Frage der „Krankheit“ und Tosquelles’ physiologischer Materialismus

Obwohl bereits 1948 eingereicht und verteidigt sowie in den Jahren danach einigen seiner „Mitarbeiter und Freunde“[1] nicht unbekannt geblieben, wurde François Tosquelles’ Doktorarbeit in Medizin – zumeist bekannt unter dem Titel Le vécu de la fin du monde dans la folie: Le témoignage de Gérard de Nerval – erst 1986 veröffentlicht. Das von Tosquelles Anfang 1985 verfasste Vorwort zu dieser verspäteten Publikation spricht die beträchtliche Zeitspanne zwischen Abfassung und verzögerter Veröffentlichung zwar an, verzichtet aber auf eine Erklärung der spezifischen Gründe für die Verzögerung selbst. Nichtsdestoweniger findet sich in ebendiesem Vorwort ein Absatz, der uns eine situierte und, in meiner Lektüre, in hohem Maße verdichtete Darstellung der Frage bietet, mit der sich Tosquelles in seiner Doktorarbeit auseinandergesetzt hatte: der Frage des katastrophischen Erlebnisses bzw. der Bedeutung von Erlebnissen des „Endes der Welt“. Ich möchte daher zu Beginn des vorliegenden Textes einen großen Teil dieses Absatzes zitieren.

[…] gerade hier, anlässlich dieser Arbeit über das „katastrophische Erlebnis“ in der Psychopathologie, ist es angebracht, zu sagen, dass meine Ankunft in Saint-Alban für uns alle, aber ganz besonders für mich, wahre Phantasmagorien auf den Plan rufen sollte, die, jenseits einer gewissen Perspektive auf das „Ende der Welt“, schimmernde Möglichkeiten in greifbarer Nähe / in Reichweite der Hand [à la portée de la main] auftauchen ließen: die einer Wiedergeburt, durch die wir andere werden konnten, ohne aufzuhören, wir selbst zu sein. Das war es wahrscheinlich, was einerseits unserer Nachforschung zu mehr oder weniger analogen Erscheinungen bei den malades größere Aktualität verlieh und was andererseits die Reflexion über ihre Tragweite wirkungsvoller werden ließ. Es wurde evident, dass die katastrophischen Erlebnisse eines Endes der Welt, von denen die Schizophrenen häufig erzählten, nicht spezifisch für diese malades waren.[2]

Angesichts der Vorgeschichte wie auch der Umstände von Tosquelles’ Ankunft in der Klinik von Saint-Alban spielen diese Sätze auf mehr als ein „Ende der Welt“ an, das ihr Autor persönlich durchlebte: Erwähnt sei hier nur, dass Tosquelles am 1. September 1939 aus Spanien geflüchtet war, fünf Monate nach Francos Sieg im Spanischen Bürgerkrieg und an eben jenem Tag, der den Beginn des Zweiten Weltkriegs markieren sollte. Ich werde auf historische und biografische Details hier nicht weiter eingehen. In Hinführung auf die Fragen, die ich diskutieren werde, möchte ich allerdings zwei der Einsätze offenzulegen versuchen, die mir in die zitierte Passage verpackt zu sein scheinen: Der eine betrifft eine vielleicht etwas exzentrische Entscheidung, die ich in meiner Übersetzung getroffen habe; die andere betrifft ein Detail, das auf den ersten Blick schlicht als idiomatische Wendung erscheinen mag (wie sie in Übersetzungen oft nicht „wiedergegeben“ werden), das mir aber als Ausgangspunkt für eine Diskussion von Tosquelles’ theoretischem Ansatz in dessen Zusammenhang mit seiner klinischen Praxis dienen wird.

Die exzentrische Entscheidung, die ich in meiner Übersetzung dieser Passage getroffen habe, besteht darin, dass ich das französische Wort malades, dessen Wiedergabe als „Kranke“ sich geradezu aufdrängen würde, „unübersetzt“ belassen habe. In der englischen „Originalfassung“ des vorliegenden Textes[3] habe ich mich an dieser Stelle dafür entschieden, das (keineswegs ungewöhnliche) französische Wort malades durch das (völlig veraltete und selbst historisch nur spärlich belegte) englische Wort malades zu übersetzen. Im Deutschen stellen sich jedoch andere Probleme als im Englischen: „Malade“ als anderes Wort für „Kranke“ ließe sich zwar auch auf Deutsch verwenden, bekannt ist indes vor allem das Adjektiv „malad“; und während im Englischen das abstrakte Nomen malady als Übersetzung des französischen Wortes maladie („Krankheit“) auch heute noch in Verwendung ist[4], erschiene es mir nicht nur als überzogen, aus der französischen maladie im Deutschen eine „Maladie“ zu bilden, sondern angesichts regionaler Färbungen und Wertakzente, die sich mit dem deutschen Wort „malad“ verbinden, sogar problematisch. Im Folgenden wird daher von „Kranken“ (für malades) und „Krankheit“ (für maladie) zu lesen sein. Warum zögere ich dennoch, ohne Umschweife von „Kranken“ zu sprechen?

Zum einen verweist die Etymologie des deutschen Wortes „krank“ auf Bedeutungshorizonte, die sich von der (unten noch zu besprechenden) Etymologie von malade bzw. „malad“ deutlich unterscheiden: „Krank“ ist verwandt mit „krumm“ oder „gekrümmt“, womit eine „Hinfälligkeit“ oder „Schwäche“ assoziiert wird; vor diesem Hintergrund tritt es im Neuhochdeutschen an die Stelle des im Mittelalter verwendeten Wortes „siech“, das seinerseits mit „Seuche“ verwandt ist.[5] Hinzu kommt, dass „Krankheit“ schnell an einen per Diagnose objektivierbaren Zustand denken lässt. Entsprechendes lässt sich zwar auch über frz. maladie sagen, aber wir werden noch sehen, dass genau dieser Umstand auch Tosquelles selbst wiederholt dazu Anlass gegeben hat, den französischen Begriff der maladie zu problematisieren. Darüber hinaus sei hier aber auch auf eine bemerkenswerte Ambivalenz in den Gebrauchsweisen von „krank“ hingewiesen: Man kann sich „krank fühlen“, ohne „krank zu sein“; so wie man umgekehrt „krank sein“ oder „als krank diagnostiziert“ werden kann, ohne sich „krank zu fühlen“.

Und genau diese Ambivalenz legt eine kurze Betrachtung der Etymologie des Wortes malade nahe: Malade, in seiner älteren Form malabde, leitet sich von der lateinischen Wendung male habitus ab, die dem Dictionnaire historique de la langue française zufolge bedeutet: „in einem schlechten Zustand sein“. Sowohl das Adjektiv als auch das Nomen malade wurden, so wie auch das abgeleitete abstrakte Nomen maladie, seit dem Mittelalter nach und nach auf „eine Veränderung der Gesundheit“ bezogen, wie uns die Wörterbücher erklären.[6] Es empfiehlt sich indes ein etwas genauerer Blick auf den lateinischen Ausdruck male habitus, und insbesondere auf das Wort habitus, ein von dem Verb habeo abgeleitetes Vergangenheitspartizip: Als solches lässt sich habitus sowohl auf den aktiven Gebrauch von habeo („ich habe“, „ich halte“) als auch auf dessen reflexiven Gebrauch (me habeo: „ich fühle“, „ich bin“, „ich befinde mich“) beziehen. Der Ausdruck male habitus verweist mithin auf ein semantisches Feld, das komplexer ist, als es durch Begriffe wie „krank“, „Kranke“, „Krankheit“ üblicherweise nahegelegt wird – nicht zuletzt in Anbetracht der Verkoppelung dieser Begriffe mit diagnostischen und institutionellen Praktiken im Feld der Psychiatrie. Ich werde daher zwar im Folgenden von „Kranken“ sprechen, möchte aber zumindest einige Paraphrasen des oben unübersetzt belassenen Wortes malades anbieten: Ich schlage vor, das Wort „Kranke“ mit einem schlechten Befinden zu assoziieren oder auch mit dem, woran die englischen Ausdrücke being in a bad way oder being in a bad place denken lassen. Diese Ausdrücke decken eine ganze Bandbreite von Bedeutungen ab, nicht zuletzt im Verhältnis zur „Krankheit“. Sie öffnen aber auch auf eine gewisse Polyvalenz hinsichtlich der Frage, ob es die Person ist, die „krank“ ist, oder aber die existenziellen Wege und Orte, auf und an denen sie sich befindet – sodass die betreffende Person vielleicht gar nicht so „krank“ ist, wie es ihr zugeschrieben wird, sehr wohl aber ill at ease, „unwohl“, sein kann, weil ihr existenzieller Ort eine mal-aise ist, weil sie sich schlecht oder im Schlechten befindet.

Um zur zitierten Passage aus Tosquelles’ 1985 verfassten Vorwort zurückzukehren: Tosquelles spricht nicht darüber, in what way – wie oder „in welchem Weg“ – er sich befand, als er 1939 die Pyrenäen überquerte, um Francos Truppen zu entkommen. Aber er macht deutlich, dass der Weg, auf dem er sich befand, sich letztlich als guter Weg herausstellen sollte, zumal seine Ankunft in Saint-Alban (nach einigen Monaten der Internierung im Lager von Septfonds) „schimmernde Möglichkeiten in greifbarer Reichweite [à la portée de la main]“ hervortreten ließ. Und auch wenn das Wort miroitantes, das ich als „schimmernde“ übersetzt habe, möglicherweise auf Jacques Lacans „Spiegelstadium“ (stade de miroir) anspielt bzw. einen Widerschein davon bildet: Worum es mir hier geht, ist die Formulierung à la portée de la main, die wörtlich als „in Reichweite der Hand“ wiederzugeben wäre und über die ich mich einer Diskussion dessen annähern möchte, was ich als Tosquelles’ physiologischen Materialismus zu bezeichnen vorschlage.

Eine vorzügliche Demonstration der Bedeutung der Hand in Tosquelles’ therapeutischer Arbeit findet sich in einer Sequenz von wenigen Minuten aus dem Film Le Clos du Nid[7], der als Urheber François Tosquelles und Maurice Lambilliotte ausweist – beide als Ärzte für einen Verein gleichen Namens tätig. Der 1955 gegründete Verein Le Clos du Nid war (und ist bis heute) in der Lozère angesiedelt, unweit von Saint-Alban. Zur Zeit der Produktion des Films, bzw. in der im Frankreich der 1950er Jahre etablierten Sprache, widmete sich der Verein in seiner Arbeit Kindern und Jugendlichen, die als débiles profonds („geistig Schwerstbehinderte“) bezeichnet wurden.[8] Die Aufnahmen, die der Film zeigt, sind aus dem Jahr 1958. Ich habe keinerlei Informationen darüber, wer die Kamera führte, wie der Film produziert und wann er fertiggestellt wurde. Die Szenen, auf die ich mich beziehe, betreffen indes genau die Hand bzw. das, was „in Reichweite der Hand“ ist. Wie der gesamte Film sind sie von Jazzmusik aus den späten 1950ern begleitet – sowie von einem sehr dichten Kommentar, der den therapeutischen Ansatz erläutert. In den besagten Szenen steht im Fokus dieses Ansatzes das, was Tosquelles als „Edukation der Hand“ oder auch als „Reedukation der Hand“ bezeichnete.[9]

Der Kommentar bezieht sich erkennbar, in einigen Momenten auch explizit, auf die Objektbeziehungstheorien u. a. von Melanie Klein und Donald Winnicott. Er setzt sich mit einem Entwicklungsverlauf auseinander, der – ich zitiere aus dem Film – von „der Hand, die an sich zieht“, d. h. der Hand, die zugreift, um zu konsumieren oder einzufangen, bis hin zur Hand als Medium und Organ von Tauschbeziehungen führt, d. h. zur Hand als „sozialer Hand“. Die Differenz zwischen diesen Polen ist allerdings keine Angelegenheit kategorialer Unterscheidungen. Sie ist eine Angelegenheit körperlicher Praxen, die Massagen und Mobilitätsübungen beinhalten können, aber auch Objekte wie die Zweige und Äste eines Baums, die als Stecken verwendet werden: Objekte, die zu „intermediären Objekten“ werden und als solche eine spielerische Artikulation sozialer Beziehungen ermöglichen, wenn sie z. B. an einem Ende von einer Person und am anderen Ende von einer anderen gehalten werden. Und dies wiederum verbindet sich, wie im Kommentar erläutert wird, mit einem Zugang zur therapeutischen Arbeit mit den als débiles profonds bezeichneten Kindern und Jugendlichen, den ich für überaus charakteristisch halte für das, was ich Tosquelles’ physiologischen Materialismus nenne:

Worauf es in der Edukation [der Hand; SN] ankommt, ist der Gebrauch des Werkzeugs. Aber das Werkzeug ist nur das intermediäre Objekt, das den Kontakt mit den anderen erleichtert. Das große Problem für débiles profonds ist, dass es ihnen schwerfällt, in Kontakt mit anderen zu treten, nicht eine grundsätzliche Störung dessen, was man als Intelligenz bezeichnen könnte.[10]

Selbstverständlich geht es hier nicht darum, die Hand als einen isolierten Teil des Körpers herauszuheben. Wenn Tosquelles der Hand indes sehr wohl eine besondere Bedeutung zuschreibt, dann aufgrund der konstitutiven – oder vielmehr: institutiven – Rolle, die ihr in der frühen Kindheit zukommt, wie er in La rééducation des débiles mentaux darlegt, wo seine Arbeit und sein therapeutischer Zugang in Le Clos du Nid theoretisch detailliert beschrieben werden. Im „Erleben“ des Kleinkinds, schreibt er,

ist es die Ebene der Hand, auf der es sich „repräsentiert“ […], und es wird seine Hand an seiner Stelle handeln lassen […]. Im Theater der Hand verwirklicht es die Identifizierungen, die sein Ich konstituieren werden, genau in jenem distalen, peripheren Teil seines viszeralen Körpers, den es willentlich nähern oder entfernen kann.[11]

Auf diese Weise wird die Hand für das Kind „sozusagen zu seinem ersten Objekt der Außenwelt, in dem es sich selbst wiederzuerkennen beginnt“[12]. Dennoch können – wie an den Filmszenen, auf die ich mich beziehe, zu ersehen ist – Füße und Köpfe nicht weniger wichtig werden für die Artikulation körperlicher Existenzweisen mit anderen körperlichen Existenzweisen in einer geteilten materiellen Welt: nämlich z. B. dann, wenn das intermediäre Objekt anstatt eines Steckens ein Ball ist und wenn die spielerische Ausgestaltung sozialer Beziehungen Fußball (in seiner „Soccer“-Version) ist, der zwar den Gebrauch von Füßen und Köpfen erlaubt, den Gebrauch der Hände aber größtenteils untersagt.[13]

Dass ich Füße und Köpfe ins Bild rücke, geschieht nicht ohne Grund, denn andernorts in Tosquelles’ Werk stellen sich Füße und Köpfe immer wieder als Gegensätze dar. In einem 1973 veröffentlichten Text mit dem Titel „Begehren und Institution“, um nur ein Beispiel zu nennen, beschreibt er seine Vorgangsweise als „pedestrisch“ und sich selbst als jemanden, der „den ‚forschenden Köpfen‘ immer misstraut“ habe und der, anstatt „mit den Augen […], mit dem Kopf“ zu lesen, es vorzieht, Schritte zu machen, um „die Welt [zu] lesen“.[14] Es kann wenig Zweifel daran bestehen, dass solche Passagen einmal mehr die Füße in Erinnerung rufen, die ihn 1939 nach Frankreich trugen, und dass sie zudem seine Arbeit als Praktiker betonen. Dennoch sind sie auch als wichtige Anhaltspunkte für eine Auseinandersetzung mit Tosquelles’ philosophischer Perspektive zu verstehen, insbesondere mit seinem Materialismus: Die „Köpfe“, denen Tosquelles nämlich in der Tat „misstraut“ hat, sind, philosophisch gesprochen, die Köpfe des Idealismus, des Spiritualismus sowie intellektualistischer Abstraktionen jeglicher Art – und dies in Erinnerung zu behalten ist von zentraler Bedeutung für die Annäherung an ein Werk wie seine Doktorarbeit.

In einem Vortrag mit dem Titel „Psychopathologie im Lichte des dialektischen Materialismus“, den er 1947 an der École normale supérieure in Paris hielt, der aber erst 2019 veröffentlicht wurde, spricht Tosquelles von einem „materialistischen Monismus“[15]. Und er tut dies, indem er zugleich die philosophischen Alternativen zu diesem Monismus zurückweist: 1) eine „dualistische“ Position, womit zweifellos cartesianische Konzeptionen von „Geist“ und „Körper“ im Sinne zweier unterschiedlicher Substanzen gemeint sind; 2) einen „idealistischen“ Monismus, der den Anspruch erhebt, die von Descartes hinterlassenen Probleme in Begriffen des Geistes als alleiniges Begründungsprinzip aufzulösen. Es wirkt, als würde Tosquelles, so wie irgendwann in der Geschichte des Fußballs bestimmte Gebrauchsweisen der Hände verbannt wurden, hier bestimmte Gebrauchsweisen des „Kopfes“ für unzulässig erklären: diejenigen nämlich, die den Kopf als Metapher für einen immateriellen Grund des Seins verstehen, als einen sonderbaren körperlichen Aufenthaltsort oder Repräsentanten von etwas, das nichtkörperlich ist, oder auch schlicht als ein isoliertes Zentrum des Handelns, das sich benimmt, als wäre es von der Gesamtheit des körperlichen Lebens losgelöst (wie z. B. die „forschenden Köpfe“, von denen Tosquelles spricht).

Materialistischer Monismus ist, so Tosquelles, „der Weg der Wissenschaft“[16]. Aber welcher Wissenschaft? Und wie die Wissenschaft mit Sinn erfüllen? Tatsächlich ist ein langer erster Teil von Tosquelles’ Vortrag aus dem Jahr 1947, wie schon sein Titel nahelegt, der Geschichte und Bedeutung der Wissenschaft in einer dialektisch-materialistischen Perspektive gewidmet. Ich möchte im Hinblick auf diese Diskussion hier lediglich die zentrale Bezugnahme auf die erste von Karl Marx’ „Thesen über Feuerbach“ erwähnen, in der ein Materialismus vertreten wird, der die Wirklichkeit nicht nur „unter der Form des Objekts oder der Anschauung“ fasst, sondern „als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis“.[17] Bereits bei Marx ist der Idealismus das Gegenüber – und zwar selbst dann, wenn er sich in Gestalt idealistischer Restbestände in vorgeblichen Materialismen (wie jenem Feuerbachs) verbirgt, deren Mangel darin besteht, dass sie keinen materialistischen Aufschluss über die „tätige Seite“ geben oder aber diese nur „abstrakt“ entwickeln, d. h. in Unkenntnis der „wirkliche[n], sinnliche[n] Tätigkeit als solche[n]“. Und wie zu sehen sein wird, ist es genau dieses Bestehen auf der „tätigen Seite“ in der Materie selbst, das für Tosquelles’ Zugang zum Materialismus von zentraler Bedeutung ist – und überdies auch für seinen Zugang zur Psychopathologie, insofern die „passive“ oder vielmehr pathische Wirklichkeit des Leidens nicht auf eine bloße Abwesenheit oder einen bloßen Verfall von Tätigkeit reduziert wird.

Tosquelles, als Theoretiker und Praktiker, scheint in der Tat eine umfassende physiologische Version eines Materialismus vorzuschlagen, der sich auf die „sinnlich menschliche Tätigkeit“ gründet; einen physiologischen Materialismus, der überdies nicht nur die menschliche Tätigkeit im Allgemeinen in Betracht zieht, sondern auch die konkrete Wechseltätigkeit in der Beziehung zwischen Kranken und Ärzt:innen in der klinischen Praxis. Seine wiederholten Bezugnahmen auf den Arzt und Physiologen Claude Bernard, einen Zeitgenossen Marx’, sind nur eine Manifestation dieses Vorschlags, die im Hinblick auf die Geschichte materialistischer Konzeptionen in der Physiologie allerdings einen entscheidenden Dreh- und Angelpunkt betrifft. Zum einen begegnen wir in Bernards wegweisendem Buch Introduction à l’étude de la médicine expérimentale aus dem Jahr 1865[18] erneut dem Verhältnis zwischen „Kopf und Hand“. Tosquelles zitiert diese Formulierung (die sich bei Bernard auf die Bedingungen einer experimentellen Medizin bezieht) im Kontext seiner Bezugnahme auf die Figur des médecin philosophe („Arzt-Philosophen“) sowie um „die unverzichtbare Einheit von Theorie und Praxis“ anzusprechen.[19] Zum anderen entwickelte Bernard ein Verständnis lebender – d. h. tätiger – Materie als dynamische Wechselbeziehung zwischen dem „inneren Milieu“ und dem „äußeren Milieu“ des Organismus:

Der Organismus ist lediglich eine lebende Maschine, die so aufgebaut ist, dass es einerseits eine freie Kommunikation des äußeren Milieus mit dem inneren Organmilieu gibt, andererseits aber auch Schutzfunktionen der Organelemente, damit die Materie des Lebens bewahrt wird und die Feuchtigkeit und Wärme nebst den anderen Bedingungen, die für die Lebenstätigkeit unverzichtbar sind, ununterbrochen aufrechterhalten werden.[20]

Mit dem Hinweis auf diese von Bernard eingeführte physiologische Unterscheidung soll in keiner Weise die Bedeutung des dialektischen Denkens im Werk von Tosquelles in Abrede gestellt werden. Sehr wohl aber soll damit unterstrichen werden, dass sich Tosquelles’ Verständnis des Materialismus, der dialektische Materialismus mit eingeschlossen, nur unvollständig erfassen lässt, solange sein zutiefst physiologischer Zugang zur Frage der Materie keine Berücksichtigung findet; oder genauer: sein Zugang zur lebenden Materie, zur organischen Materie in ihrer Vermengung mit anorganischer Materie. In seinem Vortrag aus dem Jahr 1947 bezieht er sich beispielsweise zunächst auf die Dialektik, um seine dynamische Interpretation der Differenz zwischen Anatomie und Physiologie zu stützen, wenn er schreibt: „Die materialistische Dialektik erlaubt es, Tätigkeit (die Physiologie, wenn man so will) und Materie (die Anatomie) in ihrer Einheit zu begreifen.“[21] Nichtsdestoweniger bekräftigt er in einer späteren Passage desselben Vortrags, in der er auf die Differenz zwischen Physiologie und Anatomie zurückkommt: „Wir haben gesehen, dass es nicht gerechtfertigt ist, auf der Ebene der Organe eine Anatomie und eine Physiologie einander gegenüberzustellen. Vielmehr muss die Physiologie als das Werden des eigentlichen Seins des Organs [le devenir de l’être même de l’organe] begriffen werden.“[22] Mit dieser zweiten Passage wird deutlich die These in den Vordergrund gerückt, dass es die Aufgabe der Physiologie selbst ist, über das Werden des Seins bzw. im Sein Aufschluss zu geben; über die Dynamik der Materie bzw. in der Materie; kurz, über eben jenes Werden und jene Dynamik, mit denen eine „materialistische Dialektik“ befasst ist. Aus Tosquelles’ Perspektive beinhaltet dies unausweichlich ein Begreifen „der dialektischen Transformationen der anatomischen Strukturen und Funktionen“[23]. Er dehnt diesen Gedanken indes unmittelbar auf die „Gesamtstruktur des Menschen“ aus: „[S]eine Physiologie [ist] Tätigkeit, soziale Situation, soziales Sein.“[24] Und darin wiederum hallt eine außergewöhnliche Passage wider, die sich bereits früh in Tosquelles’ Vortrag findet und in der er so weit geht, zu sagen:

Die „Geschichte“ ist „soziale Physiologie“. „Tätigkeit“ ist „Materie“ (im marxistischen Sinn) und produziert Materie (im üblichen Sinn dieses Wortes).[25]

Die Bedeutung des physiologischen Denkens von Tosquelles beschränkt sich indes nicht auf seine Auseinandersetzung mit der Dialektik. Sie lässt sich auch in seiner Auseinandersetzung mit dem Strukturalismus aufspüren. Ein bemerkenswertes Beispiel dafür bietet sein Buch Structure et rééducation thérapeutique: Aspects pratiques, das zuerst 1967 erschien (als der Strukturalismus in Frankreich in voller Blüte stand und seinen Einfluss gerade über Frankreich hinaus auszudehnen begann) und das 2003 posthum unter dem Titel Cours aux éducateurs wiederveröffentlicht wurde.[26] Wie letzterer Titel vermittelt, basiert dieses Buch in der Tat auf einer Vortragsreihe, die Tosquelles 1965/66 an der École d’éducateurs de Saint-Simon in Toulouse, d. h. an einer Schule für „Erzieher“, gehalten hatte – wobei anzumerken ist, dass der französische Ausdruck éducateurs sich hier auf Erzieher bezieht, deren spezifische Aufgabe die (Re-)Edukation von Kindern und Jugendlichen war, die als schwierig, unangepasst, ja an die Gesellschaft nicht anpassungsfähig, also kurz, als male habitus galten. Der Fokus auf die Praxis ebenso wie das Bemühen, „die Erzieher zu erziehen“[27], tun das Ihre dazu, dass sich Tosquelles’ Cours aux éducateurs unschwer als Dokument seiner fortgesetzten Auseinandersetzung mit dem Materialismus von Marx’ „Thesen über Feuerbach“ lesen lässt. Jedoch fällt es noch weniger schwer, dasselbe Buch als das „strukturalistischste“ und „lacanianischste“ Buch unter Tosquelles’ publizierten Werken wahrzunehmen. In seinem Originaltitel ist das Wort „Struktur“ das erste, das potenziellen Leser:innen ins Auge springt; die Kapitelüberschriften evozieren systematisch Begriffe wie „Struktur“, „Zeichen“, „das Imaginäre“, „das Spiegelstadium“, „das Symbolische“ und nicht zuletzt „Strukturalismus“; und auf Lacan wird durch das gesamte Buch hindurch immer wieder Bezug genommen.

Das erste und grundlegende Beispiel aber, dessen Tosquelles sich bedient, um den Strukturbegriff einzuführen, ist weder „Sprache“ noch „das Symbolische“, und es ist auch nicht „das Unbewusste“. Es ist der Körper, oder genauer: der organische Körper von Menschen und Tieren. Auch hier ruft er die Spannung zwischen anatomischen und physiologischen Zugängen zu diesem Körper in Erinnerung, diesmal um zu bekräftigen, dass der Körper sich nicht auf ein „anatomisches Bild“ reduzieren lässt, sei es in Unterscheidung seiner Hauptbereiche (wie „Kopf, Rumpf und Gliedmaßen“), sei es auch in Unterscheidung seiner inneren Organe (wie „Herz, Lunge, Gehirn, Magen etc.“). Denn alles, was ein solches Bild jemals zu vergegenwärtigen vermag, ist „eine zerstückelte Leiche“ [un cadavre morcelé], ein toter, parzellierter, zergliederter Körper; etwas, das (wie Tosquelles fortfährt, um im selben Atemzug anzukündigen, er werde „sogleich auf die Psychologie“ zu sprechen kommen) „in seiner Gesamtheit lebendig gemacht werden muss“.

Sie werden also auch verstehen, dass dieser lebende Mensch hier, du oder du, Sinn nur hat im Verhältnis zur Struktur der Schule, und jede:r hier ist zudem Träger:in anderer Strukturen, etwa jener, an denen Sie gemeinsam mit Ihren Verlobten, Ihren Kindern, Ihren Eltern, den Straßen von Toulouse, den Präsidentschaftswahlen etc. teilhaben.

Eine strukturale Konzeption bzw. Sichtweise von Menschen oder Tieren lässt sich nicht atomisieren. Man kann nicht jeden Teil als isoliert von den anderen ansehen.[28]

So also beginnt Tosquelles das, was er seine Causerien nennt, seine „Plaudereien“ mit den Studierenden in Toulouse. Die Causa, um die es in diesen Causerien geht, ist allerdings nicht zu übersehen. Wir können sie vielleicht als eine wandernde Causa bezeichnen. Jedenfalls ist es eine soziale, politische, praktische Causa, die indes mit theoretischen und epistemologischen Implikationen einhergeht. Und obwohl Tosquelles die Begriffe „Physiologie“ und „physiologisch“ in seinem Cours aux éducateurs wenig verwendet, insistiert er doch auch hier auf der „grundlegenden Frage“, die hinsichtlich des Körpers durch „die relationale Physiologie der Organe und der Systeme der inneren Ökonomie“[29] aufgeworfen wird.

Manches von alledem mag als unzulässige Ausdehnung des Begriffs der Physiologie betrachtet werden, insbesondere wenn Tosquelles, wie wir gesehen haben, sogar von der Geschichte als einer „sozialen Physiologie“ spricht. Es erscheint jedoch sehr viel weniger als eine Ausdehnung angesichts von Theoriebildungen, die organisches Leben als etwas begreifen, das sich nicht nur dynamisch konkretisiert, sondern dies vermittels der Beziehungsgefüge lebender Körper in sich ko-konkretisierenden Milieus tut. Es ist hier nicht der Ort dafür, der Entwicklung dieser Theoriebildungen sorgfältig nachzuspüren. Wichtig aber ist, dass die Ansätze, die Tosquelles aus ihrem Vermächtnis bezieht, sozusagen zweischneidig sind, und zwar in einem positiven Sinn und in mehr als einer Hinsicht: erstens, indem sie reduktionistische Begriffe des „Geistes“ oder des „Psychischen“ ebenso durchschneiden wie reduktionistische Begriffe der „Materie“; und zweitens, indem sie reduktionistische Begriffe des „Individuums“ ebenso durchschneiden wie reduktionistische Begriffe der „Gesellschaft“. Tosquelles war indes weniger daran interessiert, die Bruchstücke und Überbleibsel solcher Teilungen aufzusammeln, um sie in einer höheren Theorie neu zusammenzusetzen. Stattdessen brachte er seine theoretische Perspektive unermüdlich in das Feld seiner beruflichen Praxis als Arzt und Psychiater ein – in ein Feld, das, wie andere auch, nicht nur als ein besonderes „äußeres Milieu“ zu betrachten ist, sondern vielmehr als komplexes Gefüge von Beziehungen, die zwischen einer Mannigfaltigkeit von sowohl äußeren als auch inneren Milieus bestehen: „[D]er konkrete Gegenstand der Psychiatrie“, schreibt Tosquelles in seinem Vortrag aus dem Jahr 1947, „[darf] nicht aus dem Blick verloren werden: nämlich die Wechselbeziehung zwischen Arzt und kranker Person, innerhalb einer (nicht weniger konkreten) Struktur der Gesellschaft, auf einer bestimmten Ebene ihrer Entwicklung.[30] Und dies bringt uns zu seiner Doktorarbeit zurück.


2. Erlebnis

Der ursprüngliche Titel von Tosquelles’ Doktorarbeit lautete: Essai sur le sens du vécu en psychopathologie: Le témoignage de Gérard de Nerval.[31] Anders als im 34 Jahre später gewählten Titel gab es in ihm keinen Hinweis auf ein Erleben, das sich auf „das Ende der Welt“ bezieht. Zweifellos war der Fokus auf Letzteres bereits da, ja wurde darauf durch den Untertitel sowohl der Doktorarbeit aus dem Jahr 1948 als auch ihrer Veröffentlichung 1986 konkret angespielt – der auf das „Zeugnis von Gérard de Nerval“ verweist, eines Dichters des 19. Jahrhunderts, dessen letztem Buch Aurélia Tosquelles im zweiten Teil seines Werkes eine ausführliche Fallstudie widmete. Dennoch lässt sich der Unterschied zwischen den beiden Titeln als Spur verstehen, die darauf verweist, dass im Zentrum von Tosquelles’ Intervention in Fragestellungen der „Psychopathologie“ (oder dem späteren Titel folgend: den „Wahnsinn“ betreffenden Fragestellungen) Debatten standen, die sich um das „Erlebnis“ drehten. Und tatsächlich ist letzterer Begriff von entscheidender Bedeutung nicht allein in Tosquelles’ Doktorarbeit, sondern er spielte seit dem Ende des 19. Jahrhunderts auch eine wichtige Rolle in unterschiedlichen Disziplinen, die Psychiatrie mit eingeschlossen. Dennoch sollte eine Aussage nicht ignoriert werden, die bezeichnend dafür ist, wie sich Tosquelles in diesen Diskursen orientierte, und die zudem einmal mehr seine Ablehnung gegenüber selbstgenügsamen Abstraktionen zum Ausdruck bringt:

Für einen Kliniker gibt es kein abstraktes Problem des Erlebten und des Erlebens an sich. Was für ihn zum Problem werden kann, ist die Definition der Beziehungen zwischen diesen Begriffen und den auf Symptome und Krankheiten bezogenen Begriffen einerseits sowie dem therapeutischen Handeln andererseits. Unter diesem Blickwinkel werden wir unser Denken entwickeln.[32]

Die Begriffe le vécu („Erlebtes“) und l’expérience vécue („erlebte Erfahrung“, „Erleben“) werden von Tosquelles in der gesamten Doktorarbeit fast austauschbar verwendet, weshalb es vielleicht gerechtfertigt ist, beide Termini mit ein und dem (scheinbar) selben Term zu übersetzen, nämlich „Erlebnis“. Vielleicht. Denn die Verwendung zweier Begriffe mahnt zugleich zu einer gewissen Vorsicht: Der offensichtliche Unterschied zwischen le vécu und l’expérience vécue ist, kurz gesagt, dass ersterer Begriff auf „das Erlebte“ im Sinne des (objektiven) Gehalts von etwas, dem im Leben begegnet wurde, verweist; während letzterer, durch die Hinzufügung des Terms expérience, den Akzent auf den (subjektiven) Prozess eines Lebens legt, das in einem gegebenen Milieu oder einer Welt gelebt wird. Zudem sei darauf hingewiesen, dass das französische Wort expérience eine wichtige und positive Ambivalenz in sich trägt, zumal es sich nicht nur mit „Erfahrung“, sondern auch mit „Experiment“ übersetzen lässt – und somit sehr viel mehr als das deutsche Wort „Erfahrung“ eine Konnotation von Tätigkeit, von Leben als Praxis, vermittelt.

Noch komplizierter wird die Angelegenheit angesichts des Umstands, dass Tosquelles’ Konzept(e) des vécu bzw. der expérience vécue ihrerseits auf Übersetzungen des deutschen Begriffs „Erlebnis“ beruhen, mithin eines Begriffs, der die Spannung und Ambivalenz zwischen le vécu („Erlebnis“ als „Erlebtes“) und Leben als Prozess bzw. Praxis („Erlebnis“ als „Erleben“) trefflich zum Ausdruck bringt. Der Versuch einer vollständigen Besprechung der verschiedenen Quellen des Erlebnisbegriffs im Deutschen würde den Rahmen des vorliegenden Textes deutlich sprengen, ebenso eine eingehende Diskussion seiner Rezeption in französischsprachigen Werken wie z. B. in Jacques Lacans Doktorarbeit aus dem Jahr 1932[33], die in unserem Zusammenhang von Gewicht ist. Dennoch möchte ich einige der Einsätze, die sich mit dem Erlebnisbegriff und seiner Rezeption bei Tosquelles verbinden, im Folgenden zumindest ansprechen – und sei es nur, um auf einige der „Schritte“ aufmerksam zu machen, die Tosquelles auf theoretischen Terrains und Territorien unternahm.

Erstens bringt Tosquelles in einer kurzen Diskussion des frühen Behaviorismus – insbesondere der von John B. Watson formulierten Forderungen nach einer Neubestimmung des Gegenstands der Psychologie, der unter Ablehnung jeglicher „introspektiven Psychologie“ ausschließlich mit dem „Verhalten“ identifiziert wird[34] – den Erlebnisbegriff in Stellung, um Watsons unumwundenen Objektivismus zurückzuweisen. Tosquelles begrüßt zwar sogar ausdrücklich den behavioristischen Ruf nach einer Berücksichtigung der konkreten Situation, in der ein bestimmtes Verhalten auftritt. Aber er dehnt die Relevanz dieses Rufes subtil aus, indem er zu verstehen gibt, dass er auf die untersuchten „Objekte“ der Psychologie (wie z. B. Kranke) und das von ihnen „Erlebte“ ebenso zu beziehen sei wie auf die untersuchenden „Subjekte“ (also auch auf ihn selbst) und deren „Techniken und Begriffe“.[35] Und indem er dies tut, unterstreicht er nicht nur die Bedeutung „strukturaler Aspekte“ (sowohl des „pathologischen Lebens“ als auch der „verwendeten Techniken“, in ihrer „Wechselbeziehung und wechselseitigen Abhängigkeit voneinander“), sondern auch die Notwendigkeit, „die Entwicklung jeder Struktur zu begreifen“, d. h. ihren dynamischen Charakter:

Ohne Kenntnis ihres besonderen dynamischen Charakters wird es uns immer unmöglich sein, die entscheidenden Momente der Entwicklung dort zu objektivieren, wo sich die Werte verändern, weil der strukturale Aspekt, in den sie integriert waren und aus dem sie hervorgingen, selbst eine sozusagen revolutionäre Transformation durchlaufen hat.[36]

Zweitens kann es kaum überraschen, dass gerade die Prominenz des Erlebnisbegriffs in wichtigen Entwicklungen des deutschsprachigen Denkens im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert auch zu Friktionen und Auseinandersetzungen bezüglich seiner wahren Bedeutung führte. Im Werk Wilhelm Diltheys beispielsweise war das Erlebnis zentral für die Konzeptualisierung eines Bereiches von Forschungen, die ihre Modelle gerade nicht aus den Methoden und Idealen der Naturwissenschaften herleiten durften: ob es dabei um Geschichte oder um Literatur ging – oder auch um Psychologie. In Bezug auf Letztere sprach Dilthey von einem „seelischen Strukturzusammenhang“, der mit „Übergängen von einem Zustand in den anderen“ sowie mit einem „Erwirken“ solcher Übergänge einhergeht. Und wichtig daran ist vor allem, dass sich dieser Zusammenhang „in [der] innere[n] Erfahrung“ erschließt, die somit zum Dreh- und Angelpunkt wird für ein „Verstehen“, das sowohl die „Übergänge“ als auch das, wodurch sie „erwirkt“ werden, zum Gegenstand hat. Genau der „innere“ Charakter einer solchen prozessualen Erfahrung ist es schließlich auch, der Dilthey in dieser Passage vom Wort „erfahren“ zum Wort „erleben“ übergehen lässt: „Der Strukturzusammenhang wird erlebt.“ Das Erlebnis wird somit zu dem, was uns „alle Leidenschaften, Schmerzen und Schicksale des Menschenlebens“ zu verstehen erlaubt, „alle Tiefen und Abgründe des Menschlichen“.[37]

Diltheys Werk sollte zum Gegenstand einer scharfen – wenn auch etwas zweideutigen –Kritik vonseiten Edmund Husserls werden, der, obwohl er viele von Diltheys Anliegen teilte, darauf insistierte, dass Philosophie eine „strenge Wissenschaft“ zu sein habe und Diltheys Zugang für unzureichend hielt im Hinblick auf die Aufgabe einer Neubegründung der Philosophie sowie einer Delegitimierung von Ansprüchen, die sich am Leitbild der Naturwissenschaften orientierten.[38] Und es ist letztlich Husserls phänomenologische Analyse von Erlebnissen, die uns auf Tosquelles’ Doktorarbeit zurückführt: Tosquelles, als Materialist, hätte Diltheys Projekt der „Geisteswissenschaften“ gewiss nicht zugestimmt, und er hat dieses Projekt in seinem veröffentlichten Werk meines Wissens auch nirgendwo diskutiert. Bei Husserl allerdings, dessen Werk – oder vielmehr: Einfluss – Tosquelles sehr wohl diskutiert[39], ist das Problem, mit dem es sich auseinanderzusetzen galt, nicht mehr der „Geist“, sondern „Subjektivität“; und eines der Elemente, für die sich Tosquelles interessiert, ist Husserls „Theorie der Konstitution“, die in bestimmten Hinsichten mit seinem eigenen Fokus auf (im philosophischen Sinn) genetischen Konzeptualisierungen korrespondiert. Dennoch formuliert Tosquelles mehrere Vorbehalte gegenüber der Rezeption von Husserls Phänomenologie in der Psychopathologie, insbesondere gegenüber „mechanischen Transpositionen“ des logisch-philosophischen Ansatzes Husserls in einen Bereich, von dem sich Letzterer explizit distanziert hatte: nämlich die Psychologie. Darüber hinaus äußert Tosquelles einen bedeutenden Einwand, der sich auf die phänomenologische Methode selbst bezieht, um deren Wert für die klinische Praxis in Zweifel zu ziehen: „Der Phänomenologe ist nicht tätig; er hat eine Position, er handelt nicht.“[40]

Drittens möchte ich kurz auf eine Analyse von Catherine Malabou[41] eingehen, die sich auf die Signifikanz des Erlebnisbegriffs in Sigmund Freuds Werk bezieht. Die Quintessenz von Malabous Analyse ist, dass sich in Freuds Bewertung der jeweiligen Bedeutung externer und interner Faktoren für das psychische Leben eine bemerkenswerte Verschiebung feststellen lässt. Genauer: Malabou argumentiert, dass Freud seinen Fokus von der Verbindung, die zwischen (extern bewirkten) Ereignissen einerseits und Erlebnissen (qua Ereignissen, die psychisch bedeutsam sind) andererseits besteht, zusehends auf innerpsychische Verhältnisse verlagerte. Auf diese Weise wird der Begriff der Erlebnisse – im Sinne „psychischer Ereignisse“ – mehr und mehr losgelöst von externen Ereignissen (und deren potenziell nachhaltigem und veränderndem Einfluss auf das psychische Leben) und zunehmend am Modell eines psychischen Apparates ausgerichtet, dessen Konstitution und innere Dynamik allein bereits ausreichen kann, um „Erlebnisse“ zu verursachen und zu produzieren. Das psychoanalytisch relevante Erlebnis wird zur Manifestation eines psychischen Lebens, das nicht nur durch die konstitutionelle Intensität (sexueller) Triebe bestimmt wird, sondern auch durch Faktoren wie vergangene individuelle Traumata, die erneut an die Oberfläche treten, oder die Betriebsamkeit individueller Fantasien. Kurz, der Erlebnisbegriff wird gründlich – aber auch auf komplexe Weise – individualisiert. Und obwohl Tosquelles Freuds Gebrauch des Erlebnisbegriffs nicht diskutiert, finden wir eine verwandte Kritik in seiner Zurückweisung einer bestimmten psychoanalytischen Tendenz, katastrophische Erfahrungen primär als Symptom einer individuellen Regression zu interpretieren. Ich werde auf diesen Punkt zurückkommen.

Wie also sind Tosquelles’ „Schritte“ auf diesen Terrains zu verstehen? Und wie nähert er sich der Frage nach dem „Erlebnis“ vor dem Hintergrund seiner klinischen Praxis an? Ich möchte an diesem Punkt auf eine Diskussion zu sprechen kommen, die sich fast am Beginn von Tosquelles’ Doktorarbeit findet, in einem Kapitel mit dem Titel „L’attitude du malade devant sa maladie“ („Die Einstellung des Kranken zu seiner Krankheit“). Bereits in diesem kurzen Kapitel führt Tosquelles einen der entscheidenden Aspekte ein, die für das „Erlebnis des Endes der Welt“ kennzeichnend sind, und zwar indem er auf ein extremes Gefühl existenzieller Einsamkeit hinweist, das er unter Kranken angetroffen hatte. Er zitiert Monsieur A., der sich selbst – nachdem er „von allen Seiten zurückgewiesen“ worden war – als einen cadavre articulé beschreibt, obgleich er davor „gekämpft“ habe (wobei letztlich etwas ambivalent bleibt, in welchem Maße sich articulé hier auf intakte Gelenksverbindungen dieses Kadavers und in welchem Maße es sich auf Ordnungen der artikulierten Äußerung bezieht); und er zitiert unmittelbar danach Monsieur P., der sagt: „Ich, ich bin ganz und gar persönlich.“[42] Was diese Zeugnisse zu evozieren scheinen, ist einerseits eine der physiologischen Vermögen des Körpers entkleidete anatomische Existenz, einen „Körper“, der gleichsam bereitliegt, um seziert zu werden; und andererseits eine aller Beziehungen entkleidete „persönliche“ Existenz, die niemanden hat, an den sie sich wenden könnte. Vor allem aber handelt es sich um Beschreibungen von Erlebnissen, die sich nicht einfach wissenschaftlichen Ausarbeitungen zum anatomischen Körper, Objektifizierungen des Verhaltens, philosophischen Debatten über Subjektivität oder Konzeptualisierungen eines individualisierten psychischen Apparats zuordnen lassen.

Zeugnisse wie diese werden Tosquelles zur Diskussion eines Begriffs führen, der besondere Aufmerksamkeit verdient: des Begriffs der Einstellung. Oder genauer, und in Erinnerung an den Titel des besagten Kapitels, ist es „die Einstellung des Kranken zu seiner Krankheit“, die Tosquelles diskutiert. Ich habe devant mit „zu“ übersetzt, weil sich mit diesem „zu“ die aufschlussreiche Implikation eines Wendens verbindet: sich dem zuzuwenden, womit man konfrontiert ist. Das französische devant („vor“, im räumlichen Sinn) geht mit einer etwas anderen Implikation einher, zumal sich in ihm etymologisch de („von“) und avant („vor“, im zeitlichen Sinn) verdichten: Es ließe sich auf Deutsch demnach als „von vor“ lesen. Und dies wiederum ist von Bedeutung im Hinblick auf zwei sehr verschiedene Typen der Einstellung – die sich genau an der Frage entscheiden bzw. unterscheiden, ob Kranke eine Einstellung „zu“ ihrer Krankheit „von vor“ der Krankheit einnehmen (können).

Tosquelles beginnt diese Diskussion mit einer Unterscheidung zwischen „physischen“ und „mentalen“ Krankheiten. Der Wert dieser Unterscheidung wird jedoch entwickelt entlang der Art und Weise, wie er die beiden soeben angesprochenen Typen von „Einstellungen“ beschreibt. (Wir sollten nicht vergessen, dass Tosquelles, nach eigenem Bekunden, materialistischer Monist ist!) Die Einstellung, der typischerweise unter jenen zu begegnen ist, die an „physischen“ Krankheiten leiden, besteht darin, dass sie, wie Tosquelles schreibt, ihrer Krankheit eine „Äußerlichkeit“ zuschreiben, anstatt sie „als eines ihrer eigenen Phänomene“ zu begreifen; und sie besteht überdies darin, dass sie „vom Arzt nicht nur eine Therapie, sondern vor allem eine Bestätigung der Objektivität der Krankheit erwarten“[43]. Dass Tosquelles hier die Erwartung der Kranken herausstellt, die Objektivität der Krankheit von ärztlicher Seite bestätigt zu finden, ist von Gewicht. Zunächst dokumentiert sich darin einmal mehr ein Beharren auf der Relationalität des klinischen Wissens, bei gleichzeitiger Anspielung auf seine beständige Kritik des Objektivismus. Noch wichtiger aber: Tosquelles’ Beobachtung impliziert, dass erst die gesellschaftliche Exteriorität, die durch den Arzt repräsentiert wird, die Überzeugung des kranken Menschen von der objektiven Exteriorität seiner Krankheit abrundet und vervollständigt. Und genau diese relational abgestützte Bestätigung der Objektivität wird es den Kranken erlauben, so Tosquelles weiter, „das morbide Phänomen“ in ihre bestehenden Werte und Selbstkonzeptionen zu integrieren.[44] Dennoch schließt diese Exteriorisierung der Krankheit „eine Art innerer Arbeit von affektiver Art“ seitens der kranken Person mit ein, „die sie dazu bringt, sich selbst als ein neutrales Terrain zu betrachten, auf dem zwei mythologische Wesenheiten miteinander in einen Kampf eintreten: Gesundheit und Krankheit“[45].

Tosquelles verabsäumt nicht, dem Umstand Rechnung zu tragen, dass „physische“ Krankheiten zuweilen mit Zuständen eines „vernebelten“ Bewusstseins einhergehen können, die es Kranken unmöglich machen, eine „Einstellung zu“ ihrer Krankheit einzunehmen. Es ist vielmehr gerade die Berücksichtigung dieses Phänomens, die ihm Gelegenheit zu der Erläuterung bietet, dass die Möglichkeit einer Einstellung zur Krankheit auf einer gewissen „Klarheit des Bewusstseins“ beruht. „Vernebelte“ Bewusstseinszustände können indes als Effekt sowohl „physischer“ als auch „mentaler“ Krankheiten auftreten, und so wird genau diese Diskussion letztlich zum Angelpunkt, der es ihm ermöglicht, sich einer Untersuchung der Rolle der Einstellung bei „mentalen“ Krankheiten zuzuwenden. Die Differenz zwischen „physischen“ und „mentalen“ Krankheiten, versichert Tosquelles, tritt auf der Ebene der „Klarheit“ zutage. Aber sie tut dies nur, indem sie zugleich eine Komplikation in den Begriff der „Klarheit“ selbst einführt: „Klarheit des Bewusstseins heißt nicht notwendigerweise: normales Bewusstsein. In vielen Fällen wird das Bewusstsein der kranken Person ihre existenzielle Veränderung enthüllen.“[46] Im Unterschied zu „physisch“ Kranken (deren Einstellung und affektive Arbeit darin besteht, die Krankheit im Versuch der Bewahrung ihrer Wertesysteme „von vor“ der Krankheit zu exteriorisieren) wird das Bewusstsein „mental“ Kranker, die eine existenzielle Veränderung durchleben, daher „durch andere Wertesysteme gerahmt und durch neue raumzeitliche Anschauungen gestaltet werden“[47].

Mit anderen Worten, „mentale“ Krankheit kann das Durchleben einer existenziellen Veränderung bedeuten, ohne dass sie von vor der Krankheit „erlebt“ würde. Sie lässt dann keine „Einstellung“ zur Krankheit zu, die sich auf einem solchen „Davor“ errichten würde, erlaubt es den Kranken nicht, sich ihrer Krankheit zuzukehren, indem sie (und sei es nur auf gesellschaftlich-imaginärer Ebene) zu einem Zustand der Nicht-Krankheit zurückkehren, d. h. zu einer festen und stabilen Normalität, einer Normalität, die befestigt und stabilisiert wird durch die Medizin, durch Ärzt:innen. In aller Kürze: Die Krankheit erlaubt es den Kranken nicht, sich der Krankheit zuzukehren, indem sie zur Nicht-Krankheit zurückkehren. Daher die Einsamkeit. Alleinsein in dem, worin „Nicht-Krankheit“ und „Normalität“ miteinander verflochten sind. Male habitus.

Daher auch, schreibt Tosquelles, „wird sich das Problem der ‚Krankheit‘ dem Subjekt zumeist nicht länger stellen“[48]; wenn es von ärztlicher Seite angesprochen wird, begegnen die „mental“ Kranken ihm mit Leugnung oder Desinteresse (anstatt eine „Einstellung“ zu ihm, „von davor“, zu beziehen). Erneut bezieht sich Tosquelles hier auf klinische Erfahrungen, um zu betonen, dass die affektive Arbeit, die von „mental“ Kranken unternommen wird, nicht – wie bei „physisch“ Kranken“ – mit Exteriorisierung und Objektivierung beschäftigt ist, sondern mit „einer Arbeit, die sich mit einer Umbildung/Neubehandlung [remaniement] von Werten, Erinnerungen und Wissen verbindet, die in die neue Persönlichkeitsstruktur integriert werden müssen“[49]. Die „Normalität“, in der „physisch“ Kranke einen Rückhalt finden mögen, dient nicht länger als solcher im Erlebnis „mentaler“ Krankheiten. Ebenso wenig ist sie indes schlicht ausgelöscht. Vielmehr wird sie durchkreuzt, durchquert, queered, was eine „Neubehandlung“ involviert – und somit die Frage, was im Zuge einer solchen „Neubehandlung“ in greifbarer Nähe, „in Reichweite der Hand“ ist. In einer Passage, die für die Absichten des vorliegenden Textes von zentraler Bedeutung ist, schreibt Tosquelles:

Wir haben gesehen, dass physisch Kranke an die Gesellschaft appellieren, die vom Arzt repräsentiert oder verkörpert wird – um Unterstützung zu finden in der affektiven Arbeit einer Objektivierung der Krankheit. Postprozessual-mental Kranke werden sich allein darin finden, die ihre zu tun. Diese Arbeit der Integration wird jedoch über ihre Vergangenheit und über ihre Zukunft entscheiden.[50]

Ich halte diese Passage für zentral nicht zuletzt aufgrund der Art, wie sie das Alleinsein adressiert, das in „mental“ genannten Krankheiten erlebt wird. Tosquelles setzt das Wort „allein“ kursiv, und er spricht in der Tat von einem Alleinsein, das sich mit Gefühlen der „Einsamkeit“ zwar gewiss verbinden mag, das auf ein individualisierend-psychologisches Verständnis Letzterer jedoch nicht reduziert werden kann. Was sich in einem solchen Alleinsein nämlich manifestiert, ist sowohl „die soziale Exklusion oder Isolation“, die von „mental“ Kranken erlebt wird, als auch die „Zerschlagung des Subjekts des unbewussten Begehrens“ als Preis für den Zugang zur „sogenannten Normalität“, wie Tosquelles in seinem Vorwort aus dem Jahr 1985 formuliert.[51] Sich affektiv allein zu fühlen und effektiv allein zu sein fallen hier in eins, ohne dass es eine zuverlässige Abgrenzung zwischen beiden gäbe – und mithin zwischen den Lesarten des Ausdrucks male habitus, die ich am Beginn dieses Textes diskutiert habe, oder zwischen dem „inneren Milieu“ und dem „äußeren Milieu“ der kranken Person. Ein solches Alleinsein impliziert ein Ausgesetztsein gegenüber „morbiden Ereignissen“ (wie Tosquelles sagt[52]), gegenüber unterschiedlichen Arten von Prozessen, Formen des Tuns und Machens – Kräften –, die keinen Raum für eine existenzielle Zuflucht im Zuge einer anhaltenden, auszuhaltenden, existenziellen Veränderung lassen, keine Möglichkeiten der Rückwendung im Zuge des Wandels, keine Möglichkeiten der Exteriorisierung dessen, was in und durch dieses Ausgesetztsein erlebt wird.

Ich möchte an diesem Punkt kurz zum Begriff der „Einstellung“ zurückkehren, um auf seine Rolle in Watsons Behaviorismus einerseits und Husserls Phänomenologie andererseits hinzuweisen: Watson[53] erkennt „Einstellung“ als etwas an, was „menschliches Verhalten zu kontrollieren“ erlaubt und identifiziert sie vor allem mit „Gewohnheiten“ – an die sich nicht zuletzt sein Interesse an „Konditionierung“ knüpft. Er bezieht sich auf „Einstellung“ zunächst im Kontext seiner Kritik an der „introspektiven Psychologie“ bzw. deren „religiösem Hintergrund“; und später bemerkenswerterweise erneut in seiner Skizzierung der „Tendenzen“ [leanings] des Behaviorismus in Bezug auf Sozialpsychologie und Soziologie: Während er Erstere als „Studium der Art und Weise“ sieht, „wie Gruppen […] Gewohnheiten (Einstellungen) im Individuum begründen“, soll Letztere „in die behavioristische Sozialpsychologie und in die Wirtschaftswissenschaft“ einfließen. Auch wenn der Begriff selbst nur schwach entwickelt wird, ist „Einstellung“ (oder vielmehr: ihre Re-konditionierung) letztlich ein wichtiger Vektor, der an den behavioristischen „Tendenzen“ zu einer Sozialpsychologie und Wirtschaftswissenschaft ausgerichtet wird, die zudem mit einer „gänzlich auf behavioristischen Methoden basierenden experimentellen Ethik“ einhergehen. Demgegenüber dient „Einstellung“ in Husserls Phänomenologie als Begriff von entscheidender methodologischer Bedeutung.[54] Denn die phänomenologische Methode beruht tatsächlich auf einer vorsätzlichen Suspension der „natürlichen Einstellung“, die darauf zielt, dass eine „phänomenologische Einstellung“ eingenommen werden kann, in der die Welt und die Befasstheit des Subjekts mit ihr „eingeklammert“ werden. Im selben Zuge aber ist sie mit „Einstellung“ lediglich im Interesse an einer theoretischen Erkenntnis beschäftigt, die, wie Tosquelles anmerkt, „weder Gestalten noch Umgestalten“[55] impliziert, und zwar ungeachtet des phänomenologischen Fokus auf „Konstitution“.

Was aber, wenn es keine „Einstellung“ gibt, die sich konditionieren oder aber mutwillig aussetzen ließe? Was, wenn keine „Einstellung“ mehr eingenommen, angenommen, übernommen, geändert werden, weil Erlebnisse das Vermögen einer beständigen „Einstellung“ überwältigen, überschwemmen, überfluten? Was, wenn die affektive Arbeit, die von „mental“ Kranken unternommen wird, von einer existenziellen Anstrengung jenseits und unterhalb jeder „Einstellung“ zeugt?


3. Das Ende der Welt

Eines der klinischen Dokumente, die Tosquelles in seiner Doktorarbeit präsentiert, betrifft ein Gespräch zwischen R., „dem Städter“, der diagnostisch als „paraphren“ beschrieben wird, und André Chaurand, von 1940/41 bis 1947 leitender Psychiater in Saint-Alban und danach Direktor des Institut pédotechnique Saint-Simon in Toulouse (sowie der mit diesem assoziierten École d’éducateurs, an der Tosquelles seinen Cours aux éducateurs halten sollte). Ungefähr in der Mitte des Dokuments wird R. nach „Katastrophe“ gefragt und erwidert: „Ich habe sie die ganze Zeit, ich ertrage sie [les; Plural], ich bin verpflichtet, das ist das Leiden.“[56] Bemerkenswert daran ist unter anderem, dass R. die Frage schnell auf eine Pluralität von Katastrophen bezieht, die sein Leiden konstituieren. Bevor ich mich aber der Frage nach der katastrophischen Erfahrung selbst zuwende, möchte ich drei weitere Passagen aus diesem Gespräch zitieren und kommentieren:

1) Gleich im ersten Absatz des klinischen Dokuments, wie Tosquelles es wiedergibt, sagt R.: „Ich bin reich, alles, was existiert, ist mein, wann habe ich es konstruiert?“ Der Reichtum, der hier angesprochen wird, scheint zwei Arten existenziellen Reichtums, die anderweitig oft getrennt werden, miteinander zu vermengen oder zu verschmelzen: einen persönlichen („ich bin reich“) und einen unpersönlichen („alles, was existiert“). Der Aussage geht zudem unmittelbar eine Erzählung voran, die von einem Wechsel des Geschlechts im Leben von R. (einem dokumentierten Mann) berichtet: „Als ich Frau war, ernährte ich euch, ernährte ich das Volk. Das war das ganze Leben. Ich wurde als Mädchen geboren.“ Bereits in dieser Erzählung vollzieht R. eine Verschiebung vom Persönlichen („ich war Frau“) zum Unpersönlichen („das ganze Leben“). Zu beachten ist indes, wie die geschlechtliche Differenz drei weitere Verschiebungen mit sich bringt, die die Verschiebung vom Persönlichen zum Unpersönlichen auf R.s Weg vom Frau-Sein zum (erneuten?) Mann-Sein gleichsam durchqueren: a) eine Verschiebung vom Leben zur Existenz in der Benennung der unpersönlichen Ebene; b) eine Verschiebung in der Benennung der (persönlichen) Tätigkeit, die den persönlichen und den unpersönlichen Reichtum umspannt, von Ernähren zu Konstruieren; c) eine Verschiebung in der Benennung deren bzw. dessen, worauf sich diese Tätigkeit bezieht, von euch und das Volk (ernähren) zu alles, was existiert, und es (konstruieren).[57]

2) Nach seinen Eltern gefragt, antwortet R.: „Meine Eltern, ich habe keine. Sie haben sehen lassen / gezeigt [fait voir], dass sie meine Eltern waren, mit Gewalt, mit Gewalt, mit Gewalt [par force, par force, par force]!“ – Als etablierte Übersetzungen von faire voir bzw., in reflexivem Gebrauch, se faire voir liegen „(sich) zeigen“ oder „(sich) sehen lassen“ nahe. R. wiederholt und variiert diese Wendungen jedoch das gesamte Gespräch hindurch auf eine Weise, die sie als idiosynkratischen Ausdruck erscheinen lässt, der, wie im Zitat oben, auf eine „Kraft“ oder „Gewalt“ schließen lässt, die in der Tat „macht“ bzw. bewirkt, dass etwas „gesehen“ wird. Die Frage, wer oder was „existiert“, wird damit an der Frage des „Bildes“ (wie R. ebenfalls formuliert) ausgerichtet, eines forcierten Bildes. Aber das ist nicht alles. Auf die Frage, wie er sich selbst (ge)sehen lässt/macht (bzw. zeigt), antwortet R.: „Ich ließ/machte mich selbst allein (ge)sehen. Das erzeugt, was sich davor präsentiert hat.“ [Je me suis fait voir seul. Ça produit ce qui s’est présenté devant.] Beide Sätze sind alles andere als eindeutig: Ist seul („allein“) auf das Subjekt des Machens oder auf das Subjekt des gemachten Sehens zu beziehen, oder aber auch auf das Objekt, das als Ergebnis eines Machens gesehen wird? Und ist devant räumlich oder zeitlich zu verstehen? Der heutige Standardgebrauch dieses Wortes deutet klar auf eine räumliche Lesart hin (devant im Sinne von „(da)vor“, „gegenüber“ oder „in Gegenwart von“); aber vor was oder in Gegenwart von wem? Ältere, zeitliche Verwendungen des Wortes, so veraltet sie ansonsten auch sein mögen[58], bieten nichtsdestoweniger eine Lesart von devant als „vor“ im Sinne von „früher“ an; oder sogar als „von (da)vor“ in dem Sinn, den ich weiter oben diskutiert habe. So oder so, oder vielleicht beides zugleich: R.s Darstellung davon, wie er/sie sich selbst „allein“ (ge)sehen ließ/machte, führt einen Tätigkeitsvektor in die Bereiche etablierter sichtbarer Gegenwart ein. Und nicht zu vergessen: R. antwortet an dieser Stelle auf eine Frage nach den eigenen Eltern und somit nach einem sehr persönlichen „(von) davor“ und/oder einer sichtbaren Gegenwart, die er/sie von sich weist, zugleich aber darin anerkennt, dass sie sich (ge)sehen ließ(en)/machte(n) – „mit Gewalt, mit Gewalt, mit Gewalt“.

3) In der Antwort auf eine Frage nach „Gott“ sagt R. zunächst: „Das bin ich, das bin ich! Ich war die ganze Zeit Gott, ich ließ/machte mich niemals (ge)sehen.“ Und etwas später, auf die Frage nach einem „einzigen Gott“ antwortend: „Es gibt nichts außer mir, ich bin der Einzige [Il n’y a rien que moi, je suis le seul].“ – Erneut liegt in diesen Aussagen eine gewisse Mehrdeutigkeit, wie insbesondere am letzten Teil deutlich wird: Bezogen auf die Fragen nach Gott und dessen Einzigkeit wird „ich bin der Einzige“ wohl am ehesten als „ich bin der einzige Gott“ verstanden werden; dennoch kann es, zumal dieser Formulierung ein „es gibt nichts außer mir“ unmittelbar vorangeht, vielleicht auch als „ich bin der Einzige, der existiert“, verstanden werden. Außerdem sei angemerkt, dass linguistisch gesehen im Französischen die Differenz zwischen der Aussage „ich bin der Einzige [je suis le seul]“ und der Aussage „ich bin allein [je suis seul]“ minimal ist. Sie beläuft sich auf den Gebrauch oder Nicht-Gebrauch des bestimmten Artikels le. Und schon ein geringes Maß an Vertrautheit mit sprachlichen Zwischenverhältnissen reicht aus, um die Orientierungsprobleme im Zusammenhang mit Bedeutungsverschiebungen zu kennen, die durch den Gebrauch oder Nicht-Gebrauch eines Artikels generiert werden können. Im Zeugnis von R. geht es um den Unterschied zwischen einer allumfassenden Identifikation mit (dem Schöpfer von) allem, was existiert, und einem „individuellen“ Erleben vollständiger existenzieller Isolation.

Alleinsein. All-ein-sein. „Ganz allein“ sein, wie man sagt. „Alles eins“ sein, wie man auch sagt. Nur dass es sich hier nicht um ein zurückbleibendes Selbst handelt, das „ganz allein“ ist oder dem „alles eins“ ist (alle übrigen Dinge gleichgültig sind); um ein Selbst also, dessen Alleinsein sich in einer Indifferenz gegenüber der Welt manifestiert oder jedenfalls in einem Verfall der Aufmerksamkeit gegenüber allem, womit dieses Selbst nicht direkt befasst ist. Ganz im Gegenteil: Das „kranke“ Subjekt des katastrophischen Erlebens, das Subjekt, das dem katastrophischen Erleben unterworfen ist, ist mit allem befasst. Es ist nicht länger eines im Unterschied zu allem, sondern eines in Vermengung und Verschmelzung mit allem. Wenn also die „Vergangenheit“ und „Zukunft“ der „mental Kranken“, mit denen sich Tosquelles’ Doktorarbeit auseinandersetzt, auf dem Spiel stehen, dann steht alles auf dem Spiel. Alle Vergangenheit. Alle Zukunft.

Monotheistische Narrative und Imaginarien, die sich um einen einzigen Gott drehen, scheinen sich Artikulationen dieses Erlebens in besonderer Weise anzubieten, zumal sie alles umspannen – vom Beginn der Zeiten bis zum Abbruch der Zeiten, von der Schöpfung der Welt bis zum Ende der Welt. Die an diese Narrative und Imaginarien geknüpften Vokabulare einfach zu übernehmen hieße jedoch, sich nicht nur ihren kosmotheologischen Voraussetzungen und Rahmungen anzuvertrauen, sondern auch den tiefgreifenden Charakter des erlebten Alleinseins/All-ein-seins, von dem hier die Rede ist, außer Acht zu lassen, ebenso wie das intensive Leiden, das es mit sich bringt. Die katastrophische Dimension dieses Erlebens sollte daher nicht beschönigt werden, indem Erlebnisse des „Endes der Welt“ z. B. vorschnell als Vorbotinnen neuer „Schöpfungen“ interpretiert werden. Gewiss hat auch Tosquelles selbst – in der eingangs zitierten Passage aus dem 1985 verfassten Vorwort – von einer „Wiedergeburt“ gesprochen. Aber die Art und Weise, wie er den Gebrauch dieses Wortes rahmte, sollte dabei nicht übersehen werden: Einerseits nämlich verknüpfte er die „schimmernden Möglichkeiten“ einer Wiedergeburt mit dem, „was in Reichweite der Hand“ ist (wie oben diskutiert); und andererseits charakterisierte er die Wiedergeburt als einen Prozess, durch den „wir andere werden konnten, ohne aufzuhören, wir selbst zu sein“. Ich sehe diese doppelte Rahmung als wegweisend für jeglichen Begriff einer „Wiedergeburt“, der sich auf Tosquelles’ oben besprochenen physiologischen Materialismus gründet.

„Das Ende der Welt“, als Motiv, lässt sich zudem in einer Vielzahl von Formen antreffen, die von religiösen und mythologischen Narrativen bis hin zur Dichtung und Literatur reichen, von episodischen Fantasien, die Teil des sogenannten normalen Lebens sein können, bis hin zu andauernden Fantasien, wie sie für bestimmte psychopathologische Erscheinungen kennzeichnend sind. Tosquelles Auseinandersetzung mit dem „Erlebnis des Endes der Welt“ bezieht sich indes nicht auf ein bloßes Motiv oder einen bloßen Topos, sondern darauf, was dieses Erlebnis bezüglich eines existenziellen Nicht-Topos offenbart: bezüglich der Krankheit, der Verfasstheit des male habitus. Daher sein Interesse an Gérard de Nerval, einem französischen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, und insbesondere an dessen letztem großem Werk Aurélia, verfasst in den Jahren von 1841, als Nerval wiederholte Nerven- und Wahnkrisen zu durchleben begann, bis 1855, dem Jahr von Nervals Tod von eigener Hand: Tosquelles liest Aurélia als ein „Zeugnis“, wie schon durch den Untertitel von Le vécu angezeigt wird; und er liest es, wie er 1985 in seinem Vorwort erläutert, im Hinblick auf eine „echte konkrete Anthropologie“, die „die Notwendigkeit einer präziseren Bestimmung des menschlichen Charakters der Wahnsinnigen“ beinhaltet.[59] Das Anliegen einer Unterscheidung zwischen „dem Ende der Welt“ als bloßem Motiv und „dem Ende der Welt“ als etwas, das von zutiefst erschütternden Prozessen existenzieller Veränderung zeugt, ist nicht weniger gegenwärtig in Tosquelles’ Diskussion verschiedener Krankheitszustände (bzw. deren Diagnosen) in ihrer Assoziierung mit dem Topos/Nicht-Topos, von dem hier die Rede ist: Auf der einen Seite werden Darstellungen katastrophischen Erlebens seitens „epileptischer“ Kranker als „sekundär und konfabulatorisch“ beschrieben, als bloße Wiedergaben von „Erinnerungen an die Bibel“, und als Erzählungen, denen es in Bezug auf das „erlebte Ereignis“ an „Tiefe“ fehlt.[60] Darstellungen seitens „melancholischer“ Kranker, die manische Episoden durchleben, sowie insbesondere von Kranken „in der Schizophrenie“ bezeugen hingegen ein Spektrum von Erlebnissen, die zum nebensächlichen und abgeleiteten Charakter solcher Konfabulationen in scharfem Kontrast stehen:

[…] der Charakter eines echten Erlebens von Wahnideen oder Phantasmen vom Ende der Welt in der Schizophrenie ist wirklich frappierend. Diese Phantasmen präsentieren sich als affektive, nicht als intellektuelle Phänomene. Im Übrigen werden sie oft sozusagen geheim gehalten seitens der Kranken, die sich eher Einstellungen aneignen, die Ergebnis dieses Wahnglaubens sind und eine Suche nach Beobachtungen repräsentieren, welche es ihnen erlauben, daran zu glauben und ihre neue Situation zu verstehen.[61]

Die Passage ist in mehr als einer Hinsicht aufschlussreich: erstens, weil Tosquelles in ihr einmal mehr darauf insistiert, dass es über rein „intellektuelle“ Erscheinungen hinauszugehen gilt, und vielmehr das „Affektive“ als die existenzielle Dimension anspricht, in der sich das fragliche phantasmatische Erleben manifestiert; zweitens, weil hier von „Einstellungen“ die Rede ist, die Ergebnis von Wahnideen sind, anstatt zu (oder von vor) diesen Ideen seitens eines sich seiner selbst vergewissernden Subjekts eingenommen zu werden; und drittens, weil in ihr die Aufgabe schizophrener Kranker als Aufgabe beschrieben wird, „ihre neue Situation zu verstehen“ [meine Hervorhebung].

Madame Baub, eine der Kranken, aus deren klinischen Dossiers Tosquelles extensiv zitiert, beschreibt ihr Erleben des Endes der Welt wie folgt: „Es ist eine andere Existenz, die Stimmen führen mich, geben mir Befehle … Das Ende der Welt ist ein Wandel der Existenz.“[62] Zeugnisse wie dieses vermitteln einen starken Begriff davon, wie die Abwesenheit eines „Davor“, das – als Abhilfe oder wenigstens Zuflucht – so etwas wie den existenziellen Ort einer möglichen Rückkehr anbieten könnte, sich in die Notwendigkeit kehrt, eine neue Orientierung in einer gänzlich „neuen Situation“ zu finden. Erst vor diesem präziser bestimmten Hintergrund von Tosquelles’ Diskussion der Schizophrenie werden auch die Implikationen des oben zitierten Satzes wirklich greifbar, wonach „sich das Problem der ‚Krankheit‘ dem Subjekt nicht länger stellen [wird]“. Was aber wäre ein positiver Begriff für die Erfahrung einer Krankheit, die sich nicht als „Problem“ darstellt? Tosquelles wendet sich bezüglich dieser Frage zunächst einer Unterscheidung zu, die der christlich-existenzialistische Philosoph Gabriel Marcel in einem Eintrag in sein metaphysisches Tagebuch vom Oktober 1932 eingeführt hat, nämlich der Unterscheidung zwischen „Problem“ und „Mysterium“:

Das Problem ist etwas, dem man begegnet, das den Weg verstellt. Es ist zur Gänze vor mir [devant moi]. Hingegen ist ein Mysterium etwas, worin ich mich einbezogen finde, dessen Wesen folglich darin besteht, dass es nicht zur Gänze vor mir ist. Es ist, als verlöre in dieser Zone die Unterscheidung zwischen in mir und vor mir ihre Bedeutung.[63]

Im Lichte der Unterscheidung von Marcel kann Krankheit nicht länger als ein „Problem“ erscheinen, wenn sie sich als ein „Mysterium“ enthüllt, d. h. als ein Ereignis, das nicht, oder jedenfalls niemals vollständig, objektiviert werden kann; wenn sie sich als ein Ereignis enthüllt, das dem Subjekt begegnet, es „einbezieht“, in sich hineinzieht, ohne dass das Subjekt in der Lage wäre, diesem Ereignis seinerseits aktiv zu begegnen bzw. ihm zu begegnen als etwas, das den „Weg“ seiner Handlungen verstellt. Kurz: Krankheit-als-Mysterium ist ein Ereignis, das sich verstehen ließe als etwas, womit das Subjekt nicht konfrontiert ist, sondern wovon es vielmehr infrontiert ist. Daher der „Bedeutungsverlust“ der Unterscheidung zwischen „in mir“ und „vor mir“, von dem Marcel spricht. Darüber hinaus erlauben es die mythisch-religiösen Konnotationen von Marcels Begriff des Mysteriums, in Bezug auf das Phänomen der Krankheit besser zu verstehen, wie schizophrene Erlebnisse des Endes der Welt sich an intensivierte Wahrnehmungen der Polarität zwischen Gut und Böse knüpfen können – die etwa in Prophezeiungen einer „unmittelbar bevorstehenden Gefahr“[64] zum Ausdruck gelangen, in Erinnerungen an Begegnungen mit Prophet:innen oder in einer Reihe von unmittelbaren Identifikationen mit Apotheosen oder Inkarnationen des Guten bzw. des Bösen: Gott, Satan, Christus, der Anti-Christ etc. „Wir sind das Böse hier; verlassen […]“, sagt Madame Baub inmitten eines Erzählstroms, in dem u. a. von Erzengeln, der Jungfrau Maria, Heiligen und Päpsten die Rede ist …[65] Male habitus, wobei alles, was ansonsten „vor“ der Kranken – „von vor“ der Krankheit – erscheinen könnte, eingefaltet wird, um ein Erleben zu konstituieren, das mit der Welt, wie sie existiert, nicht länger kommensurabel ist, und das der Welt, wie sie bekannt ist, kaum kommunizierbar ist.

Die Welt darf hier indes nicht einfach mit einer Welt aus immer schon vollständig konstituierten Objekten gleichgesetzt werden. Gegen Ende des vorliegenden Textes möchte ich daher kurz auf zwei wichtige theoretische Quellenkontexte eingehen, mit denen Tosquelles’ Ausführungen in Dialog stehen: zum einen psychoanalytisch inspirierte Diskussionen und zum anderen Kurt Goldsteins Theorie des Organismus.

In psychoanalytischer Hinsicht konzeptualisiert Tosquelles das Erlebnis des Endes der Welt als begründet in einem Abzug der affektiven oder libidinösen Besetzung.[66] Während die Begrifflichkeiten selbstverständlich auf Freud zurückgehen, scheint sich in Tosquelles’ Interpretation dieses Abzugs doch einmal mehr ein starker Widerhall der kleinianischen Psychoanalyse zu dokumentieren. Es gibt in Le vécu zwar keinen einzigen expliziten Verweis auf Klein – anders als in dem Film Le Clos du Nid und dem Umstand zum Trotz, dass Tosquelles an anderer Stelle[67] den prägenden Einfluss von Melanie Kleins Werk auf seinen eigenen Werdegang unmissverständlich anerkennt. Dennoch ist es in unserem Zusammenhang von Bedeutung, Kleins Fokus auf die Verschränkung von Prozessen herauszustellen, die 1) die Differenzierung von „Selbst“ und (partiellen, persönlichen, unpersönlichen) „Anderen“ und 2) die Differenzierung von Affekten (Liebe, Schuldgefühle, Besorgnis, Angst, Aggression etc.) betreffen – wobei „Andere“ bei Klein primär als „Mutter“ konzeptualisiert wird, als mütterlicher Körper und als primäre Quelle von Sorge.[68] Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund spricht Tosquelles z. B. wiederholt von einer „mütterlichen Libido“ und besteht zudem – gegen Freud – darauf, dass der Abzug objektbezogener Besetzung in katastrophischen Erfahrungen nicht nur eine libidinöse Wiederbesetzung des Ich nach sich zieht, sondern auch eine „Rückforderung […] der mütterlichen Libido“[69] zum Ausdruck bringt.

Zwei der Autoren, auf die sich Tosquelles in verschiedenen Abschnitten seiner Doktorarbeit hingegen sehr wohl explizit bezieht, sind C. G. Jung und Sigmund Freud: Das Werk des Ersteren ist insofern von besonderer Relevanz für Tosquelles’ Arbeit, als Jung 1942 und 1945 (in der Schweiz) zwei öffentliche Vorträge über Gérard de Nervals Aurélia gehalten hatte. Obwohl es als unwahrscheinlich erscheint, dass Tosquelles viel vom Inhalt dieser Vorträge bekannt war (das Textmaterial wurde, in englischer Übersetzung, erst vor wenigen Jahren erstmals publiziert[70]), ist es sicherlich möglich, dass er von Jungs Vorträgen wusste oder auch von deren argumentativer Stoßrichtung gehört hatte (was die beträchtliche Präsenz Jungs in Le vécu erklären würde, nicht zuletzt im Teil über Nerval). Wie dem auch sein mag: Eine entscheidende Kritik, die Tosquelles vorbringt, betrifft Jungs Begriff eines „kollektiven Unbewussten“, der verworfen wird, weil er die menschliche Existenz dekonkretisiert und in „eine Abstraktion“ verwandelt, „die sich aus einer Kristallisation oder Koagulation von Phantasmen und Wiedergängern erhebt“[71]. Ein zentrales Element der Kritik an Freud führt andererseits in die genau entgegengesetzte Richtung und lässt sich insofern als komplementär verstehen: Tosquelles Vorwurf an Freud ist, dass dessen individualisierender Ansatz „absolute Unterscheidungen“ zwischen Narrativen, die von universellen Katastrophen handeln, und „der klinischen Tatsache des Endes der Welt in der Schizophrenie und Neurose“ (d. h. des Endes der Welt, wie es von individuellen Kranken erlebt wird) etabliert. Der Korrelation zwischen beiden wird somit letztlich nur Rechnung getragen, „indem der Begriff der Regression bemüht wird, der zu einem wahren Generalschlüssel der Psychopathologie wird“[72]. Kurz: Tosquelles’ Diskussion von Jung und Freud wiederholt und variiert eine Geste, auf die ich in diesem Text bereits mehrfach hingewiesen habe: nämlich seine doppelte Kritik an binären Abstraktionen. Sie navigiert zwischen der Skylla abstrakter Begriffe des Kollektiven (Jungs „kollektives Unbewusstes“ als transzendentalisierte Version des Objektivismus) und der Charybdis abstrakter Begriffe des Individuums (Freuds „Regression“ als psychoanalytische Version des Subjektivismus).

Dennoch findet sich bei Freud, und zwar in seiner Analyse von Daniel Paul Schrebers Darstellungen einer „Weltkatastrophe“, eine Spur, die für Tosquelles von besonderer Bedeutung ist: „Was wir für die Krankheitsproduktion halten, die Wahnbildung ist in Wirklichkeit der Heilungsversuch, die Rekonstruktion.[73] Freud legt hier eine Verflechtung von morbiden und rekonstruktiven Prozessen nahe, oder vielleicht besser: eine Überlagerung dieser Prozesse, die in dem stattfindet, was er in der Passage unmittelbar vor dem zitierten Satz als „Arbeit [des] Wahnes“ bezeichnet. Eine solche Arbeit besteht, immer noch Freud zufolge, darin, die Welt wieder aufzubauen: „nicht prächtiger zwar, aber wenigstens so, dass [der Paranoiker] wieder in ihr leben kann“[74]. Es liegt auf der Hand, dass Freud hier nicht von gänzlich neuen Schöpfungen oder von vollständigen Wiedergeburten spricht. Er spricht von komplexen und mühevollen Versuchen einer „Heilung“ und „Rekonstruktion“ – Versuchen, von denen er überdies sagt, dass sie „niemals völlig“[75] gelingen. Nicht weniger wichtig aber ist, dass diese Passagen in Freuds Text Tosquelles genau jenen Zusammenhang bieten, in dem er nicht nur seine Kritik am psychoanalytischen Begriff einer individuellen Regression artikuliert, sondern darüber hinaus nahe legt, dass das Erlebnis des Endes der Welt auf eine „allgemeine menschliche Funktion“ zu beziehen sei, „die persistiert und sich an Wahnsinnigen in dramatischer Weise zeigt“[76]. Und in demselben Zusammenhang wirft Tosquelles eine Frage auf, die uns zu dem zurückführt, was ich als seinen physiologischen Materialismus bezeichnet habe: „[W]oher kommt dieser Heilungsversuch, diese Rekonstruktion, von denen Freud spricht?“[77]

Diese Frage führt uns insbesondere zu Tosquelles’ Rezeption von Kurt Goldstein. Ich werde mich hier darauf beschränken, zwei der Aspekte dieser Rezeption anzusprechen: Erstens hatte Goldsteins Hauptwerk Der Aufbau des Organismus (das 1934 auf Deutsch und 1939 unter dem Titel The Organism auf Englisch erschienen war) einen Begriff eingeführt, der für Tosquelles’ Doktorarbeit von offensichtlicher Relevanz ist: den Begriff der „Katastrophenreaktionen“. Katastrophenreaktionen sind Goldstein zufolge eine Art von „ungeordneten“ Reaktionen, die organische Körper zeigen, wenn ihr „Systemzusammenhang“ durch externe Reize „gefährdet“ wird, d. h. wenn sie nicht länger in der Lage sind, eine gewisse dynamische „Konstanz“ im Verhältnis zu ihrem „Milieu“ aufrechtzuerhalten.[78] Obgleich er diese Reaktionen in einem gewissen Ausmaß als „normal“ betrachtet, beschreibt Goldstein, dass schwere Manifestationen solcher Katastrophenreaktionen mit einer intensiven, gegenstandslosen Angst einhergehen:

Der Kranke erlebt, so dürfen wir sagen, nicht Angst vor etwas, sondern nur Angst; er erlebt die Unmöglichkeit, sich mit der Welt überhaupt in Beziehung zu setzen, ohne zu wissen, warum; er erlebt eine Erschütterung im Bestande der Welt wie des eigenen Ich.[79]

Gabriel Marcel hätte diese Art von Erfahrung vielleicht als ein „Mysterium“ qualifiziert. Doch auch wenn sich Goldsteins Analyse, insbesondere in ihrer Darstellung der Angst[80], als in existenzphilosophischen Belangen gut unterrichtet erweist, ist sie nicht nur frei von religiösen Obertönen, sondern auch fest verortet in einem theoretischen Kontext, in dem Existenz als lebende Materie gedacht wird, d. h. im Sinne von Manifestationen des organischen Lebens, die sich von Weisen, die Welt zu bewohnen, nicht trennen lassen. Somit haben der „ungeordnete“ Charakter von Katastrophenreaktionen sowie die dadurch hervorgerufene Angst für Goldstein ihren Ursprung im Verhältnis zwischen – mit Claude Bernard gesprochen – dem „inneren Milieu“ des Organismus und dem „äußeren Milieu“, dem Habitat, in dem sich sein Leben vollzieht. Darüber hinaus legt Goldstein nahe, dass, wenn der Organismus ein Versagen seiner Schutzreaktionen auf externe Reize (und mithin seine organische Einheit und Fortdauer als gefährdet) erlebt, der „katastrophische“ Charakter sich nicht länger nur auf das besondere Milieu bezieht, das er bewohnt, sondern sich auf die Welt als Ganzes ausdehnt. Oder genauer, wie wir in der zitierten Passage lesen: Er dehnt sich aus auf „die Unmöglichkeit, sich mit der Welt überhaupt in Beziehung zu setzen“ – und folglich auch darauf, „einen Teil der Welt“ als „‚adäquates‘ Milieu“ zu etablieren.[81]

Zweitens kann – vor allem im Hinblick auf Tosquelles – nicht genug betont werden, dass Goldstein die Unternehmungen des organischen Körpers in seinem Verhältnis zu einem Milieu nicht einfach als Aufrechterhaltung eines „homöostatischen“[82] Gleichgewichts interpretiert, sondern als Tendenz des Organismus zur „Selbstverwirklichung“, d. h. in einem Trieb, „der den Organismus dazu befähigt und antreibt, sich selbst in weiteren Tätigkeiten zu verwirklichen“, anstatt einen „bestehenden Zustand“ zu erhalten.[83] Goldstein zufolge ist dieser „Trieb zur Selbstverwirklichung“ [drive of self-actualization] der einzige Trieb, den es gibt, und er geht so weit, dass er jedwede Tendenz zur bloßen Selbsterhaltung als „pathologisches Phänomen“ begreift. Diese Idee der Selbstverwirklichung fließt daher auch unvermeidlich in Goldsteins Begriff des „Normalen“ ein, wie z. B. der folgende Satz demonstriert: „Unter adäquaten Bedingungen sucht der normale Organismus nach weiterer Tätigkeit.“ Im Zusammenhang von Goldsteins Werk enthält dieser Satz zwei wichtige Implikationen hinsichtlich des „Normalen“: 1) dass das „Normale“ nicht mit einem „bestehenden Zustand“ welcher Art auch immer identifiziert werden kann; und 2) dass das „Normale“ als Tätigkeit von (inneren wie äußeren!) Milieus abhängig ist, die es ermöglichen, dass Selbstverwirklichung stattfindet.

Abgesehen von der offensichtlichen Relevanz dieser Überlegungen für Tosquelles’ Le vécu lässt Goldsteins Sichtweise der Beziehungen zwischen dem „Normalen“ und dem „Pathologischen“ zweifellos noch an eine weitere medizinische Doktorarbeit denken, eine Arbeit, die 1943 verteidigt wurde, nur wenige Jahre, bevor Tosquelles seine eigene verfasste: nämlich an Georges Canguilhems Essai sur quelques problèmes concernant le normal et le pathologique. Goldsteins Werk wird in Canguilhems Doktorarbeit ausführlich diskutiert, und in unserem Zusammenhang nicht weniger bedeutsam ist der Umstand, dass Canguilhem seinen Essai mit Tosquelles und anderen in Saint-Alban persönlich diskutierte, als er sich dort im Juni und Juli 1944 als aktives Mitglied der französischen Résistance versteckt hielt. Ich weise auf diese Tatsachen hin, weil die Konstellation zwischen den dreien aus politischen ebenso sehr wie aus intellektuellen Gründen bemerkenswert ist: Goldstein war als Jude aus Nazi-Deutschland geflüchtet, Canguilhem zur Zeit des Vichy-Regimes zeitweilig innerhalb Frankreichs auf der Flucht, und der Katalane Tosquelles war nach Francos Machtergreifung aus Spanien geflüchtet. Sie alle hatten Katastrophen erlebt, Zerstörungen und Zusammenbrüche ihrer äußeren Milieus, Enden ihrer Welten. Und die Katastrophen, die sie durchlebten, waren allesamt durch politische Neuformierungen von Kräften bewirkt worden, die eine gewaltsame Neuordnung des Unterschieds zwischen dem „Normalen“ und dem „Pathologischen“ verfolgten.

Bezugnahmen auf „morbide Ereignisse“ politischer Art sind in Tosquelles’ Le vécu indes ebenso rar wie in den angesprochenen Werken von Goldstein und Canguilhem. Ich möchte daher abschließend drei Aspekte von Goldsteins Analyse hervorheben, die nicht nur hinsichtlich der physiologisch-materialistischen Perspektive von Tosquelles im Allgemeineren als zentral erscheinen, sondern auch hinsichtlich seines Zugangs zur Frage der „Krankheit“ als Kliniker sowie seiner facettenreichen Praxis als Psychiater.

Auf theoretischer Ebene tragen die Einflüsse aus Goldsteins Werk zweifellos dazu bei, Tosquelles’ physiologische Adaptierung von Marx’ Beharren auf der „sinnlich menschlichen Tätigkeit, Praxis“ – der „tätigen Seite“ der Materie – als dem eigentlichen Thema des Materialismus genauer zu beleuchten. Spezifischer aber bietet Goldsteins Begriff der „Selbstverwirklichung“ auch einen aufschlussreichen Hintergrund, vor dem sich der wiederholte Gebrauch des Begriffs der Anstrengung in Tosquelles’ Doktorarbeit verstehen lässt: eines Begriffs, dessen vielleicht bemerkenswerteste Verwendung an der Stelle auftaucht, an der Tosquelles seine Sicht der Beziehung zwischen dem „Problematischen“ und dem „Mysteriösen“ verdeutlicht, wenn er die „Anstrengung“ einer Kranken beschreibt, „alles, was sich im schizophrenen Erleben als wesenhaft ‚mysteriös‘ darbietet, ‚problematisch‘ werden zu lassen“[84]. „Anstrengung“ wird somit aber auch zu einer Schlüsselüberlegung für Tosquelles’ relationalen Zugang zum „konkreten Gegenstand der Psychiatrie“: der „Wechselbeziehung zwischen Arzt und kranker Person, innerhalb einer (nicht weniger konkreten) Struktur der Gesellschaft“. Und so trägt die Frage nach „adäquaten Bedingungen“ als unverzichtbarer Voraussetzung dafür, dass der lebende Körper nach „weiterer Tätigkeit“ sucht, bereits die Züge von etwas in sich, mit dem der Name Tosquelles aufs Engste verbunden ist und das als „institutionelle Psychotherapie“ bezeichnet werden sollte: nämlich einer persistierenden Suche nach Tätigkeiten, die innerhalb des psychiatrischen Milieus und darüber hinaus Bedingungen schaffen, die „weitere Tätigkeit“ ermöglichen, einem unermüdlichen Prozess des Instituierens innerhalb und jenseits des Bestehenden und Etablierten.


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[1] François Tosquelles, Le vécu de la fin du monde dans la folie: Le témoignage de Gérard de Nerval, Grenoble: Jérôme Millon 2012 [1986], S. 13.

[2] Ebd., S. 14.

[3] Der vorliegende Text basiert auf meinem zuerst auf Englisch verfassten Text „Living Through the End of the World“, der seinerseits auf einen Vortrag zurückgeht, den ich im Juni 2024 im Rahmen der Konferenz „Queer Tosquelles – Anti-Fascism, Vagabonding Psychiatry, Non-Identitarian Lives“ an der Kunsthochschule für Medien Köln gehalten habe; siehe: https://en.khm.de/queertosquelles (zuletzt abgerufen am 31. 8. 2025). Die vorliegende deutsche Version dieses Textes weicht von der englischen allerdings in mehreren Passagen – und v. a. in den folgenden drei Absätzen – stark ab, weshalb der englische Text nur bedingt als „Original“ gelten kann.

[4] Ich verweise hier nur auf Ross Gubermans englische Übersetzung (1995) von Julia Kristevas Buch Les nouvelles maladies de l’âme (1993) als New Maladies of the Soul.

[5] Vgl. Dudenredaktion (Hg.), Duden, Bd. 7: Herkunftswörterbuch – Etymologie der deutschen Sprache, Mannheim et al.: Dudenverlag, 32001, S. 449; vgl. auch die Einträge u. a. zu „krank“ und „siech“ in der digitalisierten Version des Deutschen Wörterbuchs von Jacob Grimm und Johann Grimm: https://woerterbuchnetz.de/?sigle=DWB&lemid=A00001 (zuletzt abgerufen am 31. 8. 2025).

[6] Vgl. Josette Rey-Debove and Alain Rey (Hg.), Le Petit Robert: Dictionnaire alphabétique et analogique de la langue française, Paris: Dictionnaires Le Robert, 2013, S. 1513; Alain Rey (Hg.), Dictionnaire historique de la langue française, Paris: Dictionnaires Le Robert, 31998, S. 2106 f.

[7] Mein herzlicher Dank gilt Tosquelles’ Sohn Jacques Tosquellas dafür, dass er mir eine Kopie dieses Films zur Verfügung gestellt hat.

[8] Auf der Website von Le Clos du Nid wird dieser Begriff heute nicht mehr verwendet, sondern von Personen mit einem „mentalen, physischen, psychischen oder ähnlichen Handicap, welcher Art oder welchen Grades auch immer“, gesprochen. Siehe https://www.closdunid.fr/ (zuletzt abgerufen am 5. September 2025).

[9] Vgl. dazu auch: François Tosquelles, La rééducation des débiles mentaux: Introduction à l’aide maternelle et à l’éducation thérapique, Toulouse: Privat, 1991 [1964], S. 125–177. – Ich übersetze éducation hier v. a. deshalb nicht mit „Erziehung“, weil der Begriff der „Umerziehung“ als Übersetzung des französischen Wortes rééducation, der sich entsprechend aufdrängen würde, nur schlecht (und zudem in problematischer Färbung) wiedergibt, worum es in dieser Edukation bzw. Reedukation geht: nämlich um die therapeutische Unterstützung der Herausbildung eines körperlichen Vermögens, das in der frühen Kindheit nur unzureichend entwickelt wurde.

[10] Zitat aus Le Clos du Nid.

[11] Tosquelles, La rééducation des débiles mentaux, S. 131.

[12] Ebd.

[13] Darüber hinaus bildeten auch Wanderungen und Gehübungen, bzw. das, was er als apprentissage de la marche bezeichnete, ein wichtiges Element von Tosquelles’ Arbeit in Le Clos du Nid.

[14] François Tosquelles, „Begehren und Institution“, in: Ders., Materialismus, Psychopathologie, Begehren, hrsg. u. übers. v. Stefan Nowotny, Wien et al.: transversal texts, 2025, S. 95–122, hier S. 97.

[15] François Tosquelles, „Psychopathologie im Lichte des dialektischen Materialismus“, in: Ders., Materialismus, Psychopathologie, Begehren, S. 41–92, hier S. 82.

[16] Ebd.

[17] Für die entsprechende Stelle in Tosquelles’ Vortrag siehe ebd., S. 53. Für Marx’ „Thesen über Feuerbach“ siehe Marx-Engels-Werke, Bd. 3, Berlin: Dietz, 1958, S. 5–7, hier S. 5, Herv. i. O.

[18] Für eine aktuelle französische Ausgabe vgl. Claude Bernard, Introduction à l’étude de la médicine expérimentale, Paris: Flammarion, 2008 [1984]. Für eine – leider wenig begriffsgenaue – deutsche Übersetzung vgl. Claude Bernard, Einführung in das Studium der experimentellen Medizin, übers. v. Paul Szendrö, Leipzig: J. A. Barth, 1961. Die folgenden Zitate lehnen sich an die deutsche Ausgabe an, die Übersetzungen sind aber teils stark modifiziert; den Verweisen auf die entsprechenden Stellen in der deutschen Ausgabe werden daher die Seitenangaben zur französischen Ausgabe hinzugefügt.

[19] Vgl. Tosquelles, „Psychopathologie im Lichte des dialektischen Materialismus“, S. 44. Bei Bernard lautet die Passage, in der von „Kopf und Hand“ die Rede ist, folgendermaßen: „Es wäre unmöglich, diese beiden Dinge – Kopf und Hand – voneinander zu trennen. Eine geschickte Hand ohne einen sie lenkenden Kopf ist ein blindes Instrument; der Kopf ohne ausführende Hand bleibt machtlos“ (Bernard, Einführung in das Studium der experimentellen Medizin, S. 18 (Übers. mod.; frz. S. 34).

[20] Ebd., S. 113 (Übers. mod.; frz. S. 147).

[21] Tosquelles, „Psychopathologie im Lichte des dialektischen Materialismus“, S. 44, Herv. i. O.

[22] Ebd., S. 91.

[23] Ebd.

[24] Ebd.

[25] Ebd., S. 56.

[26] Siehe François Tosquelles, Cours aux éducateurs, Nîmes: Champ social, 2003 (für die Originalpublikation: Structure et rééducation thérapeutique: Aspects pratiques, Paris: Éditions universitaires, 1967).

[27] Ich spiele auf die dritte von Marx’ „Thesen über Feuerbach“ an: vgl. MEW, Bd. 3, S. 5 f.

[28] Tosquelles, Cours aux éducateurs, S. 19.

[29] Ebd., S. 22.

[30] Tosquelles, „Psychopathologie im Lichte des dialektischen Materialismus“, S. 82 f., Herv. i. O.

[31] Vgl. „Les vies de François Tosquelles: chronologie établie par David Fontanals“, in: Joana Masó (Hg.), François Tosquelles: Soigner les institutions, Paris, Barcelona: L’Arachnéen/Arcàdia, 2021, S. 32.

[32] Tosquelles, Le vécu, S. 39.

[33] Vgl. Jacques Lacan, De la psychose paranoïaque dans ses rapports avec la personnalité [1932], Paris: Seuil, 1975, z. B. S. 92 und S. 139 ff.

[34] Vgl. John B. Watson, Behaviorism, New York: W. W. Norton & Company, 1925, besonders das einleitende Kapitel mit dem Titel „What Is Behaviorism?“, S. 3–18. Die Liste der Begriffe, die Watson mit einer „introspektiven Psychologie“ assoziierte (und folglich ablehnte) ist lang und beinhaltet u. a. „Bewusstsein“, „Seele“, „Geist“ [mind], „Wille“, „Sinnesempfindungen“ und „affektive Elemente“.

[35] Vgl. Tosquelles, Le vécu, S. 25 (auch für das Folgende).

[36] Ebd.

[37] Vgl. Wilhem Dilthey, Ideen für eine beschreibende und zergliedernde Psychologie [1894], in: Ders., Gesammelte Schriften, V. Band: Die geistige Welt, Stuttgart, Göttingen: Teubner/Vandenhoeck & Ruprecht, 81990, S. 139–240; für die Zitate S. 206, Herv. i. O.

[38] Vgl. Edmund Husserl, Philosophie als strenge Wissenschaft [1911], in: Husserliana, Bd. XXV: Aufsätze und Vorträge (1911–1921), Dordrecht: M. Nijhoff, 1987, S. 3–62.

[39] Vgl. Tosquelles, Le vécu, S. 42 ff.

[40] Ebd., S. 43.

[41] Vgl. Catherine Malabou, Les nouveaux blessés. De Freud à la neurologie: penser les traumatismes contemporains, Paris: PUF, 2017, S. 139–162 (Kapitel „Qu’est-ce qu’un événement psychique?“).

[42] Tosquelles, Le vécu, S. 34.

[43] Ebd., S. 31 f.

[44] Vgl. ebd., S. 32.

[45] Ebd.

[46] Ebd., S. 33.

[47] Ebd.

[48] Ebd.

[49] Ebd. – Zu beachten ist hier die Hand (fr. main, lat. manus) in remaniement und „Neubehandlung“!

[50] Ebd., Herv. i. O.

[51] Ebd., S. 15.

[52] Die Verwendung des Begriffs „morbides Ereignis“ markiert ausdrücklich Tosquelles’ Vorbehalte gegenüber jeglicher Konzeption von Krankheit als Äußerlichkeit; er schreibt sogar: „Wir hätten den Gebrauch von ‚morbides Ereignis‘ [statt ‚Krankheit‘] vorgezogen, um klar auf die phänomenale Kontinuität des konkreten Lebens des Patienten hinzuweisen“ (ebd., S. 31).

[53] Vgl. für das Folgende: Watson, Behaviorism, S. 3 und 17.

[54] Vgl. z. B. Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie (= Husserliana, Bd. III/1), Den Haag: M. Nijhoff 1976, S. 56–65.

[55] Tosquelles, Le vécu, S. 43.

[56] Ebd., S. 64; für das gesamte Dokument, samt den folgenden Zitaten, vgl. S. 63–66.

[57] In Bezug auf diesen letzten Punkt möchte ich außerdem unterstreichen, dass die Ordnung zwischen den Personalpronomen („ihr“ bzw. das nicht ganz so persönliche „es“) und den generalisierenden Begriffen (das immer noch gewissermaßen persönliche „Volk“ bzw. „alles, was existiert“) umgekehrt wird.

[58] Vgl. Rey-Debove/Rey (Hg.), Le Petit Robert, S. 722.

[59] Tosquelles, Le vécu, S. 24 und 23. – Siehe zu Nerval auch den Text von Gerald Raunig in dieser Ausgabe von transversal.

[60] Vgl. ebd., S. 54–57.

[61] Ebd., S. 58.

[62] Ebd., S. 61, Herv. i. O.

[63] Bei Tosquelles zit. in ebd., S. 69. Vgl. Gabriel Marcel, Être et avoir I: Journal métaphysique (1928–1933), Aubier: Éditions Montaigne, 1968, S. 124 f.

[64] Tosquelles, Le vécu, S. 53.

[65] Vgl. ebd., S. 60 f.

[66] Vgl. ebd., S. 82 f.

[67] Vgl. z. B. die folgende Passage aus dem Interview „La fonction de l’État est d’empêcher qu’il y ait des institutions“, in: Masó (Hg.), François Tosquelles, S. 78: „[…] Ich war immer mehr Kleinianer als Lacanianer. […] Ich war sehr kleinianisch; Klein hat den Vorteil gegenüber Freud, dass sie sich wirklich mit Kindern und mit Psychotikern beschäftigt hat, d. h. mit Personen, die man nicht auf einen Diwan legen kann, die einer Intervention bedürfen, die aktiviert werden müssen.“ (Der konkrete Bezugskontext ist Tosquelles’ pädopsychiatrische Arbeit in seiner Heimatstadt Reus in den frühen 1930er Jahren; das Interview wurde 1983 geführt.)

[68] Vgl. z. B. Melanie Klein, „Bemerkungen über einige schizoide Mechanismen“ [1946], übers. v. Elisabeth Vorspohl, in: Dies., Gesammelte Schriften, Bd. 3, Stuttgart, Bad Canstatt: frommann-holzboog, 2000, S. 1–41.

[69] Tosquelles, Le vécu, S. 83.

[70] Vgl. C. G. Jung, On Psychological and Visionary Art: Notes from C. G. Jung’s Lecture on Gérard De Nerval’s „Aurélia“, hrsg. v. Craig E. Stephenson, übers. v. R. F. C. Hull, Gottwalt Pankow u. Richard Sieburth, Princeton, Oxford: Princeton University Press, 2015. Selbst in den Collected Works of C. G. Jung (der ersten umfassenden Ausgabe der Schriften Jungs, die in den 1950er Jahren zu erscheinen begann) war nur ein kurzer und wenig aufschlussreicher Abriss des Vortrags von 1945 enthalten, und zwar im 1977 erstveröffentlichten Band 18 (auf Deutsch erschien der entsprechende Band der Gesammelten Werke 1981).

[71] Tosquelles, Le vécu, S. 94.

[72] Ebd., S. 92.

[73] Zit. in ebd., S. 91, Herv. i. O. Vgl. Sigmund Freud, Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia Paranoides), in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. VIII, London: Imago Publishing, 1943, S. 239–320, hier S. 308.

[74] Ebd., S. 308.

[75] Ebd.

[76] Tosquelles, Le vécu, S. 92.

[77] Ebd.

[78] Vgl. Kurt Goldstein, Der Aufbau des Organismus. Einführung in die Biologie unter besonderer Berücksichtigung der Erfahrungen am kranken Menschen, Den Haag: M. Nijhoff, 1934, bes. S. 23 f. und S. 78 f.

[79] Ebd., S. 190.

[80] Die zitierte Passage ruft unverkennbar Erinnerungen an die Angstanalysen bei Kierkegaard und Heidegger wach.

[81] Ich beziehe mich hier auf eine Stelle, die offensichtlich erst für die englischsprachigen Ausgabe hinzugefügt wurde und in der Goldstein zwischen „Milieu“ und „Welt“ unterscheidet, um zugleich ein dynamisches Ineinandergreifen von Milieu und Welt zu beschreiben. Vgl. Kurt Goldstein, The Organism: A Holistic Approach to Biology Derived from Pathological Data in Man [1939], New York: Zone Books, 1995, S. 105 f.

[82] „Homöostase“ ist ein Terminus, den Walter Cannon in seinem 1932 veröffentlichten Buch The Wisdom of the Body eingeführt hat. Goldstein bezieht sich nicht explizit auf diesen Begriff. Er stellt allerdings bereits 1934 einige von Cannons Schlussfolgerungen bezüglich der vermeintlichen „Konstanten“ des Organismus infrage, indem er insbesondere darauf hinweist, dass Cannons Untersuchungsergebnisse auf Beobachtungen im Labor beruhten und somit von äußeren Milieus abhängig waren, die als unzureichend erscheinen, wo es darum geht, das Verhalten des inneren Milieus des Organismus unter natürlichen Bedingungen zu bestimmen (vgl. Goldstein, Der Aufbau des Organismus, S. 276 f.).

[83] Sowohl der Begriff der „Selbstverwirklichung“ [self-actualization] als auch die Zitate sind erneut der englischsprachigen Ausgabe aus dem Jahr 1939 entnommen; vgl. ebd., S. 163 (sowie für die folgenden Zitate: S. 162 f.). – In der deutschen Ausgabe von 1934 spricht Goldstein noch u. a. von einer „Tendenz zum ausgezeichneten Verhalten“ oder einer „Tendenz zur ausgezeichneten Situation“ (vgl. Goldstein, Der Aufbau des Organismus, S. 235 und 236), in späteren Schriften auf Englisch auch von self-realization bzw. auf Deutsch eben von „Selbstverwirklichung“. Tosquelles schreibt (in Le vécu, S. 95), der Organismus suche Goldstein zufolge „seine Natur zu verwirklichen“.

[84] Tosquelles, Le vécu, S. 68.