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09 2003

Öffentlicher Raum als Übersetzungsprozess

Boris Buden

Übersetzt von Hito Steyerl

Ich werde hier den Begriff des öffentlichen Raums im Verhältnis zum Konzept der sogenannten kulturel­len Übersetzung diskutieren. Dieses Konzept wurde in letzter Zeit (am Ende der Achtziger und in den Neunzigern) innerhalb der postmodernen – und vor allem postkolonialen – Reflexion entwickelt, um ei­nige ihrer drängendsten Probleme zu lösen, wie etwa das Problem der Universalität in der Kultur oder das Problem der Emanzipation im sozialen und politischen Raum, den wir historisch – um einen Begriff von Ernesto Laclau zu verwenden – "jenseits der Emanzipation" sehen.

Lassen Sie uns mit einer ganz konkreten Vision beginnen, die die politische und kulturelle Zukunft der Europäischen Union betrifft. In seinem letzten Buch, das dieses Jahr auf deutsch veröffentlicht wurde, bearbeitet der französische Philosoph und Postmarxist Étienne Balibar das Problem einer gemeinsamen europäischen Kultur.[1] Er argumentiert, dass wir noch nicht sagen können, welche Form eine solche europäi­sche Kultur annehmen wird: ob es eine mechanische Summe der nationalen Kulturen der EU-Mit­glieder oder – universalistischer – eine Art Amalgam sein wird, das völlig neue Eigenschaften besitzt.

Dennoch gibt es etwas, das wir schon wissen: Eine gemeinsame europäische Kultur – ebenso wie die europäische Demokratie – braucht einen gemeinsamen europäischen öffentlichen Raum. Und in der Kon­sequenz braucht dieser gemeinsame öffentliche Raum, um zu funktionieren, eine gemeinsame Sprache. Welche Sprache soll das sein? Englisch kann diese Rolle nicht einnehmen, glaubt Balibar. Denn es ist gleichzeitig mehr und weniger als eine gemeinsame europäische Sprache. Es ist auf der einen Seite ein globales Mittel der Verständigung, die unendlich viele verschiedene Formen hat, und auf der anderen ist es die nationale Sprache bestimmter Nationalstaaten.

"Die ‚europäische Sprache‘ ist kein Code, sondern eher ein sich permanent veränderndes System ver­schiedener linguistischer Gewohnheiten, die konstant in einem Prozess der Begegnung involviert sind, mit anderen Worten: Es ist eine Übersetzung (...), die Realität sozialer Übersetzungspraktiken (...)."[2]

Wenn eine Nation immer eine Sprachgemeinschaft ist, dann kann Europa entsprechend dieser Idee nur als eine Art Übersetzungsgemeinschaft vorgestellt werden. Natürlich sehen wir uns hier sofort dem nächsten Problem gegenüber: Wenn eine Nationalsprache – die, wie wir alle in unserer Erziehung erfah­ren haben, immer schon national ist, sowohl in ihrem Konzept als auch in ihrer Praxis – die Eigenschaft hat, eine Nation zu errichten und sie zu reproduzieren, was ist dann die soziale oder politische Eigen­schaft der Übersetzung als Sprache?[3]

Balibar gibt uns keine Antwort auf die Frage, welche neue Form einer politischen Gemeinschaft in der Europäischen Union entwickelt werden soll. Er schlägt stattdessen eine neue kulturelle Revolution vor, von der er erwartet, dass sie das Problem zu lösen vermag. Diese Revolution soll damit beginnen, das immer noch dominante Konzept der Erziehung aufzugeben, das auf Humboldts Sprachphilosophie beruht, welche der Sprache eine wichtige Rolle im Prozess der Nationenbildung zuschreibt. Balibars Gegenkon­zept – das der europäischen Sprache als Übersetzung – ist nicht einfach eine Utopie. Balibar findet es schon praktisch realisiert vor, nämlich auf zwei Ebenen: Die erste Ebene ist die der intellektuellen Elite in der Tradition von wurzellosen, exilierten Schriftstellern und Intellektuellen wie etwa Heine, Joyce, Canetti, Conrad usw.; die zweite Ebene ist die der MigrantInnen, die die unterste Stufe in der Hierarchie des eu­ropäischen Arbeitsmarkts einnehmen. Dennoch ist die größte und immer noch dominante mittlere Ebene – die der monolingualen nationalen Schulsysteme – noch nicht ernsthaft durch das Konzept der Überset­zung herausgefordert worden, hebt Balibar hervor.[4]

Besonders interessant an Balibars Version eines neuen europäischen öffentlichen Raums, der durch Über­setzungspraktiken produziert wird, ist, dass er ihm einen genuin politischen – sogar emanzipatorischen – Effekt zuschreibt. Er glaubt, dass das Konzept der Übersetzung ein Modell für eine neue Praxis eines glo­balen Informationsaustauschs bereitstellt, das uns eine Möglichkeit dazu gibt, der Globalisierung durch neue Formen kulturellen Widerstands entgegenzutreten und eine Art Gegenmacht jenseits der hegemoni­alen identitären Logik zu errichten, jenseits der, wie Balibar schreibt, "nationalen Sprachkultur"[5].

Lassen Sie mich an diesem Punkt die zentrale Frage stellen: Wie befreit, wie emanzipiert Übersetzung eigentlich, wie bringt sie einen "positiven" sozialen Wandel hervor?[6]

In der Antwort auf diese Frage werde ich mich auf die Übersetzungsmodelle konzentrieren, die den Be­griff der Übersetzung auf eine direktere Art mit einer emanzipatorischen Potenzialität aufladen und mit einer subversiven politischen und kulturellen Wirkungsweise. Es gibt grundsätzlich zwei Modelle dieser Art. Ich werde sie das dialektische und das transgressive Modell nennen.

Das erste gehört zur intellektuellen Tradition der Frankfurter Schule und ihrer theoretischen Rezeption der Psychoanalyse. Es ist bekannt, dass Habermas die Psychoanalyse als paradigmatisches Beispiel einer kommunikativen Praxis darstellt, die einen emanzipatorischen Effekt hat. In Erkenntnis und Interesse versteht er Verdrängung, einen der wichtigsten psychoanalytischen Begriffe, gemäß dem so genannten "Exkommunikationsmodell". Unter dem Druck gegebener sozialer Normen werden einige Symbole aus der Sphäre der öffentlichen Kommunikation entfernt oder isoliert, etwa jene, die, um ein klassisches Beispiel zu verwenden, die erotischen Gefühle des Jungen gegenüber seiner Mutter symbolisieren.

Die Exkommunikation dieser Symbole wird von Habermas auch als Privatisierung ihrer Bedeutung be­schrieben. Der psychoanalytische Begriff der Verdrängung wird schließlich eine Art repressiver Produktion einer Privatsprache.[7]

Die Aufgabe der Psychoanalyse ist also, diese Privatsprache, die von den PatientInnen pathologisch ver­wendet wird, in eine "öffentliche Sprache" rückzuübersetzen. In der Traumdeutung definiert Freud selbst die Interpretationen, die ihm durch die Psychoanalyse angeboten werden, als "Übersetzungen aus einer fremden Art des Ausdrucks in diejenige, die uns bekannt ist".

Die Therapie hilft den PatientInnen, den verkrüppelten, amputierten, korrumpierten Text ihrer Privatspra­che zu lesen und diese verzerrte Form des Ausdrucks in die Ausdrucksform des öffentlichen Ausdrucks zu übersetzen. Dies soll jedoch auch einen emanzipatorischen Effekt haben. Die Therapie emanzipiert die Erinnerungen der Patienten, die durch ihre Krankheit blockiert waren, sodass sie in die Lage gesetzt wer­den, ihre eigene Lebensgeschichte zu rekonstruieren, was bedeutet, dass sie fähig werden, den Prozess ihrer eigenen Formation oder ihres eigenen Bildungsprozesses zu reflektieren.

Das hat natürlich soziale Konsequenzen: Ein kranker Mann, der wegen seiner Krankheit aus der Gemein­schaft ausgeschlossen wurde, kommt aus dem Ghetto seiner Privatsprache heraus und wird wieder ein Mitglied der Gemeinschaft, die immer schon eine Sprachgemeinschaft ist, oder einer Gemeinschaft, die durch Kommunikation generiert wurde.

Der ganze Prozess dieser Reintegration des Ausgeschlossenen – also beides: die Rückkehr des ausge­schlossenen symbolischen Inhalts in die Sphäre der öffentlichen Kommunikation und die Rückkehr des ausgeschlossenen Individuums in die Gemeinschaft – wird von Habermas mit dem alten hegelianischen Begriff der Selbstreflexion erklärt. Diese Selbstreflexion identifiziert er explizit mit Übersetzung: "Über­setzung des Unbewussten ins Bewusstsein". Es ist nur die (Selbst-)Reflexion als Übersetzung, die die Verdrängung schließlich aufheben kann. Was der Prozess der Selbstreflexion schließlich hervorbringt, ist Transparenz: auf der einen Seite die Transparenz der eigenen Existenz und auf der anderen die der Ge­sellschaft als ganzes. Die rationale Transparenz ist daher die conditio sine qua non des öffentlichen Raums.

Dieser Akt der Selbstreflexion als Übersetzung ist genau das, was die Emanzipation hervorbringt – die rationale Wiederaneignung des eigenen entfremdeten Selbst, das aufgrund einer mentalen Störung ver­drängt wurde und dadurch intransparent und opak gemacht wurde. Dieses Konzept des öffentlichen Raums stellt jedoch einen genuin dialektischen Prozess dar. Es hat daher auch seine eigene Kraft, die nur in dialektischen Begriffen vorgestellt werden kann – als Subjekt, das sich seine entfremdete Substanz wiederaneignet.

Innerhalb des so genannten postmodernen und postkolonialen Diskurses wurde das Konzept der Überset­zung und ihre politische Bedeutung völlig anders definiert. Zunächst hat sich die Art, wie wir den histori­schen Raum und die politischen Probleme verstehen, die diesen Raum dominieren, völlig verändert. Statt des Habermas'schen öffentlichen Raums, der seine fixierte politische Bedeutung innerhalb des National­staats hatte und die eigentliche Essenz seines demokratischen Charakters darstellte, ebenso wie einen normativen Erzeuger einer demokratischen Verbesserung der breiteren internationalen politischen Ge­meinschaft, die nur in Kant'schen Begriffen einer Welt vorgestellt werden kann, die fortschreitet und sich in Richtung des ewigen Friedens fortentwickelt, haben wir es im neuen postmodernen Raum mit einem endlosen politischen Spiel verschiedener Identitäten zu tun, die fast vollständig kulturell definiert sind.

Im historischen Raum, der ausschließlich durch die wechselseitigen Beziehungen dieser Identitäten ge­formt wird, gibt es keinen Platz mehr für ein Subjekt der Geschichte oder des politischen Wandels, es gibt keinen gemeinsamen öffentlichen Raum mehr, der gemäß irgendeiner Art von universalistischer Logik verstanden werden kann, es gibt kein Fundament der Gesellschaft mehr, wie etwa die bekannte mate­rielle, ökonomische Basis der sozialen Totalität in der marxistischen Theorie, es gibt keine große Erzäh­lung einer universalen Emanzipation mehr, usw.

Innerhalb dieses Kontextes hat sich der Begriff des öffentlichen Raums ebenfalls verändert. Der öffentli­che Raum nimmt nun nicht mehr den zentralen Raum der Gesellschaft ein, weder auf der Ebene des Na­tionalstaats noch auf der supra- oder internationalen Ebene. Wenn wir über die Bedeutung von öffentli­chem Raum in unseren Gesellschaften sprechen oder wenn wir über die sogenannte Weltöffentlichkeit sprechen, verwenden wir den Begriff nur auf eine deskriptive Weise. In der Wirklichkeit können wir ihm keinen wesentlichen politischen Gehalt mehr zuschreiben. Der öffentliche Raum, sowohl im nationalen wie auch im internationalen Kontext, ist nicht mehr wie früher der Raum der politischen Veränderung. Das passiert nicht, weil der öffentliche Raum irgendwie schwach geworden ist, oder weil er einfach seine Wichtigkeit und seine politische Bedeutung verloren hat. Es ist die Idee der politischen Veränderung selbst, die aus unserem politischen und historischen Horizont verschwunden ist. Es ist das Konzept der sozialen Veränderung, über das wir nicht mehr sprechen können, nicht nur der Verlust an politischer Be­deutung des öffentlichen Raums.

Statt der politischen Veränderung – die unvorstellbar geworden ist – sprechen wir jetzt von kultureller Subversion. Wenn der öffentliche Raum in diesem Sinne immer noch eine politische Bedeutung hat, kann diese nur in Begriffen der kulturellen Subversion definiert werden. Es ist dies jedoch nicht mehr der alte Begriff des öffentlichen Raums, der die zentrale Rolle in der demokratischen Reproduktion der alten mo­dernistischen, aufgeklärten, transparenten Gesellschaft spielte.

Dieser Umstand bezieht sich auch auf die so genannte postkoloniale Situation. Im Gegensatz zu Haber­mas und seiner spätmodernen Vision der sozialen Rolle des öffentlichen Raums, ist der Begriff der Über­setzung in der postkolonialen Theorie nicht direkt mit dem Konzept des öffentlichen Raums verknüpft. Es ist nunmehr der sogenannte Dritte Raum, der auf eine völlig verschiedene Weise die politische und sozi­ale Rolle des öffentlichen Raums übernimmt. Der Dritte Raum ist der Raum der Hybridität oder – wie Homi Bhabha in The location of culture schreibt – der Raum der Subversion, der Transgression, der Blas­phemie, der Häresie. Bhabha glaubt, dass Hybridität – und kulturelle Übersetzung, die für ihn ein Syn­onym der Hybridität ist – in sich selbst politisch subversiv ist. Hybridität ist auch der Raum, in dem alle binären Aufteilungen und Antagonismen, die für moderne Konzeptionen typisch sind, inklusive der alten Opposition zwischen Theorie und Politik, nicht mehr funktionieren.

Statt des dialektischen Konzepts der Negation spricht Bhabha nunmehr über die Verhandlung oder Über­setzung als den einzigen Weg, die Welt zu verändern und etwas politisch Neues hervorzubringen. Eine emanzipatorische Erweiterung der Politik ist für ihn nur auf dem Feld der kulturellen Produktion möglich: "Formen der populären Rebellion und der Mobilisierung sind oft am meisten subversiv und transgressiv, wenn sie durch oppositionelle kulturelle Praxen geschaffen werden."[8]

Innerhalb der postkolonialen Konzeption der kulturellen Übersetzung verliert der öffentliche Raum seinen autonomen politischen Status. Er verschwindet als ein unabhängiger Faktor und wird durch eine erwei­terte Sphäre der Kultur verschluckt, die zum einzigen Ort politischer Veränderungen geworden ist. Wir haben es hier mit der "durchdringenden Hegemonie der Kultur selbst, als einem nicht transzendierbaren Horizont"[9] zu tun.

Die amerikanische feministische Philosophin Judith Butler verwendet das Konzept der kulturellen Überset­zung, um eines der traumatischen Probleme des postmodernen Denkens zu lösen – das Problem der Uni­versalität.[10] Für Butler gibt es keine Kultur, die universelle Bedeutung beanspruchen könnte. Dies heißt jedoch nicht, dass es nichts Universelles in der Art gibt, in der wir heute die Welt wahrnehmen. Die Uni­versalität ist für sie zum Problem der interkulturellen Übersetzung geworden. Butler erklärt sie ähnlich wie das Habermas'sche "Exkommunikationsmodell". Der Effekt der Universalität wird durch die Dynamik des Auschließungs-/Einschließungsprozesses produziert.

Butlers Formel lautet: Universalität kann nur als Antwort auf ihr eigenes ausgeschlossenes Außen formu­liert werden. Das, was aus dem existierenden Modell der Universalität ausgeschlossen wurde, setzt dieses Konzept – von seinem eigenen Außen her – unter Druck, weil es in das Konzept eingeschlossen und da­von akzeptiert werden will. Dies kann jedoch nur dann passieren, wenn dieses Konzept selbst, soweit wie es notwendig ist, verändert wird, um das Ausgeschlossene einzuschließen. Als ein Resultat dieses Drucks wird das existierende Konzept von Universalität schließlich reartikuliert. Der Prozess, durch den das Aus­geschlossene wieder in der Universalität zugelassen wird, wird von Butler als Übersetzung bezeichnet. Die kulturelle Übersetzung allein – als eine "Wiederkehr des Verdrängten" – befördert die heutige Demokra­tie. Sie fördert sie durch subversive Praxen, die die alltäglichen sozialen Beziehungen verändern.

Lassen Sie uns noch einmal hervorheben: Die Art, in der die soziale Veränderung hervorgebracht wird, ist nicht dialektisch. Sie ist stattdessen transgressiv. Sie geschieht nicht als Ergebnis von Zusammenstößen zwischen sozialen Antagonismen, also durch den Prozess der Vermittlung, sondern durch eine unendliche Transgression der existierenden sozialen und kulturellen Begrenzungen, durch gewaltfreie, demokrati­sche, übersetzende Verhandlungen. Dieses Modell beschreibt präzise, wie das postmoderne Konzept des öffentlichen Raums funktioniert. Tatsache ist, dass wir dieses Konzept als selbstständigen politischen Agenten nicht mehr brauchen.

Dieses Verständnis politischer Veränderung wurde einer Kritik ausgesetzt, die unter ähnlichen Vorausset­zungen der postmodernen und/oder postkolonialen Reflexion artikuliert wird, und die ebenfalls mit dem Begriff der Übersetzung arbeitet. Ich spreche hier von Gayatri Spivaks Konzept des "strategischen Es­senzialismus". Spivak weiß sehr gut, dass wir durch die heutige theoretische Reflexion jede mögliche Identität radikal dekonstruieren und ihren Essenzialismus einfach als Imagination, Konstruktion, usw. entlarven können. Die Politik jedoch arbeitet noch mit diesen essenzialistischen Identitäten – wie etwa der Nation –, als wüsste sie nicht, dass es sich dabei nur um Illusionen handelt. Wenn wir also eine reale politische Veränderung herbeiführen wollen, schlägt Spivak "einen strategischen Gebrauch des positivisti­schen Essenzialismus in einem deutlich sichtbaren politischen Interesse"[11] vor.

Das ist der Grund, warum das Konzept des "strategischen Essenzialismus" ebenfalls als Übersetzung ver­standen werden sollte. Denn die historische Situation, in der wir leben, artikuliert sich in zwei verschiede­nen Sprachen: Die eine ist die der postmodernen anti-essenzialistischen Theorie, die andere die einer parallelen, alten, essenzialistischen politischen Praxis. Spivaks Konzept des "strategischen Essenzialis­mus" erkennt einfach an, dass es keine direkte Übereinstimmung zwischen beiden Sprachen gibt – sie können nicht auf herkömmliche dialektische Weise in einem dritten universellen Begriff aufgehoben wer­den, der als eine dialektische Einheit der beiden funktioniert. Es gibt daher nur einen möglichen Weg der Kommunikation zwischen den beiden: den einer Art Übersetzung.

An diesem Punkt sehe ich immer noch die Notwendigkeit der alten politischen Kraft des öffentlichen Raums als einem Ort der Übersetzung zwischen, sagen wir, einem tatsächlichen Akt der kulturellen Sub­version und der altmodischen Machtpolitik. Denn Nationen – in der politischen Form der Nationalstaates und der nationalen politischen Öffentlichkeit – existieren immer noch, zumindest innerhalb der politischen Realität, mit der wir es zu tun haben. "Nationalstaaten bedeuten für die Geopolitik das, was Briefe für das Alphabet bedeuten", schreibt Spivak. Sie findet, dass der Nationalstaat immer noch "eine gute abstrakte Kategorie für transnationale Diskriminierung ist", die die tatsächlichen Machtverhältnisse artikuliert und verständlich macht. Die existierende Weltordnung ist immer noch als ein System von Nationalstaaten gegliedert.

Die Lösung des Problems, das durch die Globalisierung gestellt wird, kann jedoch nicht innerhalb eines einzelnen Nationalstaats gefunden werden. Daher brauchen wir das, was Spivak als "transnationale Le­sefähigkeit"[12] bezeichnet. Das ist ein Weg, um mit unserer historischen Situation in beiden Sprachen umzu­gehen: mit der der theoretischen anti-essenzialistischen Dekonstruktion und der anderen der alt­modischen essenzialistischen Machtpolitik. Dieser Weg der "transnationalen Lesefähigkeit" suggeriert, dass der öffentliche Raum, mit dem wir uns befassen und den wir (re)produzieren, etwa – um ein Beispiel von besonderem Interesse zu wählen – im Rahmen unserer Antiglobalisierungsproteste, schon immer ein Raum der Übersetzung ist.



[1] Étienne Balibar, "Sind wir Bürger Europas? Politische Integration, soziale Ausgrenzung und die Zukunft des Nationalen", Hamburg: Hamburger Edition, 2003.

[2] Ibid., S. 289.

[3] Balibars Vision impliziert offensichtlich, dass die Europäische Gemeinschaft – im sozialen und politischen Sinn – etwas fundamental anderes als ein gewöhnlicher Nationalstaat sein soll.

[4] Vgl. ibid, S. 289.

[5] Ibid.

[6] Bei der Antwort auf diese Frage werde ich die klassischen romantischen Theorien der Übersetzung aussparen, wie etwa die von Humboldt. Diese konzentrieren sich ausschließlich auf die so genannten linguistischen Übersetzungen als eine Praxis der Nationalliteratur. Ihre soziale Rolle, wie sie von Humboldt, Herder oder Schleiermacher defniert wurde, erschöpft sich im Aufbau der Nation als einer Sprachgemeinschaft, oder konkreter: in einer Bereicherung des Geistes der Nation. Ich werde auch die Übersetzungstheorie von Walter Benjamin überspringen, die für die spätere Entwicklung von Derridas Konzept der Dekonstruktion und deren Verwendung in der postkolonialen Theorie zentral ist.

[7] Um den sozialen Charakter dieses Prozesses hervorzuheben, verwendet Habermas explizit eine konkrete soziale Metapher: die Exkommunikation oder Isolation von Kriminellen aus ihrer sozialen Gemeinschaft.

[8] Homi Bhabha, The Location of Culture, London, New York: Routledge, 1994, S. 20.

[9] John Beverly, Subalternity and Representation, Arguments in Cultural Theory, Durham and London: Duke University Press, 1999, S. 100.

[10] Judith Butler, "Universality in Culture", in: Martha C. Nussbaum with Respondents, edited by Joshua Cohen, For Love of Country: Debating the Limits of Patriotisms, Boston: Beacon Press, 1996, S. 45–53. Vgl. auch J. Butler / E. Laclau / S. Zizek, Contingency, Hegemony, Universality, Contemporary Dialogues on the Left, London; New York: Verso 2000.

[11] Gayatri Spivak, In Other Worlds: Essays in Cultural Politics, New York : Methuen, 1987, S. 205.

[12] "This learning to ask is 'literacy' in the articulation of the names of nation-states that assemble and disassemble a universal meta-message that is the incessantly written but never readable synonym for the 'globe' standing in for the 'universe'." Gayatri Chakravorty Spivak, "Questioned on Translation: Adrift, in: Public Culture, Volume 13, Number 1, Winter 2001, S.. 15.