09 2003
Die Bedingung des Öffentlich-Werdens[1]
So vertraut uns der Begriff der "Öffentlichkeit" als zentrale Kategorie der politischen Moderne auch sein mag, so sehr wirft die präzise Verständigung über ihn doch eine Reihe von Schwierigkeiten auf. Diese Schwierigkeiten werden schon dort augenscheinlich, wo es darum geht, das deutsche Wort "Öffentlichkeit" – das sich, in seiner markanten politisch-sozialen Bedeutung, im ausgehenden 18. Jahrhundert seinerseits als Übersetzung des französischen "publicité" etabliert hat – in andere Sprachen zu übersetzen: So bietet das Englische (und Ähnliches ließe sich etwa für das Französische sagen) für die Übersetzung von "Öffentlichkeit" in bestimmten Zusammenhängen die Wörter "public" und "publicity" an; wo "Öffentlichkeit" jedoch für eine allgemeine Kategorie gesellschaftlicher Organisation steht, wird zumeist "public sphere" oder "public space" bevorzugt. Dies verweist zum einen auf eine gewisse Mehrdeutigkeit des deutschen Wortes. Zum anderen aber kommt darin ein Problem zum Ausdruck: Die Übersetzung von "Öffentlichkeit" als "public sphere" bringt nämlich eine Bedeutungsebene zum Verschwinden, die für die moderne Idee der Öffentlichkeit gleichwohl zentral ist – und zwar, dass "Öffentlichkeit" in der politischen Moderne nicht nur eine Kategorie, sondern vor allem auch ein Prinzip gesellschaftlicher Organisation bezeichnet, d. h. dass sie nicht einfach eine, wie auch immer strukturierte, vorgegebene "Sphäre" (oder Pluralität von Sphären) moderner Gesellschaften darstellt, sondern einen zentralen Modus ihrer Organisation und Konstitution bildet.
Es ist dieses Problem, die Frage nach der sozialen Konstitution von "Öffentlichkeit", das ich zum Ausgangspunkt des folgenden Textes nehmen möchte. Wohlgemerkt handelt es sich dabei nicht allein darum, die Bedeutung von "Öffentlichkeit" als Prinzip gesellschaftlicher Organisation zu rekonstruieren, sondern zugleich darum, auf die Bedingungen eines gewissen Verschwindens dieser Bedeutung von "Öffentlichkeit" aufmerksam zu machen. Ein Verschwinden, das sich im Übrigen in symptomatischer Weise in dem Umstand bekundet, dass das englische Wort "publicity" (wie auch das französische "publicité"), dem in Zusammenhängen politischer Theorie durchaus die Bedeutung eines sozialen Organisationsprinzips zukommt, alltagssprachlich weitgehend durch Bedeutungen überlagert ist, die in die Bereiche der Werbung, des Marketings oder medialer Aufmerksamkeitsindustrien verweisen.
Solche Befunde lassen auf schwer zu entziffernde Verflechtungen zwischen der "Idealgeschichte" des theoretischen Begriffs der Öffentlichkeit und der "Realgeschichte" einer von Krisen durchzogenen Entwicklung jener Strukturen schließen, in denen "Öffentlichkeit" jeweils konkret als gesellschaftliches Organisationsprinzip wirksam oder aber bedroht bzw. pervertiert worden ist. Vor diesem doppelten Hintergrund ließe sich, im Ausgang von einer Geschichte des Öffentlichkeitsprinzips, eine ganze Geschichte der Moderne schreiben. Am vorläufigen Ende dieser Geschichte steht eine Reihe von bezeichnenden Phänomenen, die die Rede von einer Krise der Öffentlichkeit heute erneut gerechtfertigt erscheinen lassen: von abgeschotteten neuen Lagerstrukturen à la Guantanamo Bay bis zu den "entlegenen", von den großen Informationsströmen abgeschnittenen Sweat Shops in Ländern der so genannten "Dritten Welt"; vom Transfer politischer Entscheidungsprozesse von Parlamenten hin zu von Konzerninteressen bestimmten transnationalen Organisationen bis zu den systematischen Ausblendungen und Verzerrungen migrantischer Erfahrungszusammenhänge bei gleichzeitiger Integration der Arbeitskraft von MigrantInnen in die ökonomischen Produktionsapparate.
All diese Phänomene zeugen nicht einfach von einem "Mangel" an Öffentlichkeit, sondern vielmehr davon, dass, wie Oskar Negt und Alexander Kluge bereits 1972 bemerkt haben, "nicht legitimierbare faktische Verhältnisse […] produzierter Nicht-Öffentlichkeit [verfallen]"[2]; und "produzierte Nicht-Öffentlichkeit" ist, ich werde darauf zurückkommen, nichts anderes als der moderne Name für jene Dimension politischen Handelns, die vor der Erfindung des bürgerlichen Gegensatzes zwischen "öffentlich" und "privat" den eigentlichen politischen Gegenbegriff, ja das eigentliche politische Gegenmodell zum modernen Prinzip der Öffentlichkeit gebildet hat – nämlich das Geheimnis[3]. Es sind daher nicht zufällig genau die angesprochenen Krisenphänomene, die in den letzten Jahren wachsenden Protest und eine Reihe von neuen politischen Praxen und Organisationsformen auf den Plan gerufen haben. Zu klären bleibt indes, wie sich diese neuen Praxen und Organisationsformen zu Idee und Realität der Öffentlichkeit im Einzelnen verhalten. Dies nicht zuletzt deshalb, weil man sich des Eindrucks zuweilen schwerlich erwehren kann, dass dieses Verhältnis – gerade als kritisches Verhältnis zur Öffentlichkeit, das aber zugleich auf eine gleichsam "ideale" Öffentlichkeit als politisches Transformationsprinzip setzt – von einer Ambivalenz geprägt ist, die sich ebenfalls bereits bei Negt und Kluge diagnostiziert findet: "Das Wechseln zwischen idealisierender und kritischer Betrachtung der Öffentlichkeit führt nicht zu einem dialektischen, sondern nur zu einem ambivalenten Ergebnis: die Öffentlichkeit erscheint einmal als etwas, das man gebrauchen kann, ein andermal als etwas, das man nicht gebrauchen kann."[4]
Um eine solche Ambivalenz (die sich, wie jede Ambivalenz, oft genug in Desorientierung niederschlägt) zu überwinden, komme es vielmehr darauf an, so Negt und Kluge weiter, "die Idealgeschichte und die Zerfallsgeschichte der Öffentlichkeit auf ihre identischen Mechanismen zu untersuchen"[5]. Von einigen Elementen einer solchen Untersuchung soll im Folgenden die Rede sein.
Der Formalismus des klassischen Öffentlichkeitsprinzips (in der Formulierung Kants)
Es ist oft bemerkt worden, dass eines der zentralen Probleme des klassischen modernen Begriffs der Öffentlichkeit in seinem Formalismus liegt. Nicht nur, dass dieser Formalismus, etwa bei Kant, zu einer Verfestigung und Verhärtung stillschweigend in den Öffentlichkeitsbegriff eingehender "materialer" Bestimmungen führt – insbesondere solcher Bestimmungen, die den Ausschluss bestimmter gesellschaftlicher Gruppen (Frauen, Eigentumslose etc.) aus dem öffentlichen Leben festlegen; er leistet auch der Möglichkeit einer Instrumentalisierung und Vereinnahmung existierender Öffentlichkeitsstrukturen Vorschub, die die politische Bedeutung von "Öffentlichkeit" pervertiert, indem sie deren formalen Anspruch auf Allgemeinheit – darauf, die Allgemeinheit in die politische Auseinandersetzung einzubeziehen – "privaten", also partikularen Interessen unterordnet. "Öffentlichkeit" erweist sich somit, gerade in ihrem bloß formal universalistischen Anspruch, zugleich als perfektes Instrument der Hegemonisierung, d. h. der Universalisierung des Partikularen zum Zweck der Durchsetzung und Erhaltung bestimmter Machtverhältnisse. O. Negt und A. Kluge haben eben darin das Scheitern des bürgerlichen Öffentlichkeitsprinzips erblickt. Zum einen, weil sich in der Praxis der bürgerlichen Gesellschaft als Mittel herausstellt, was bei Kant strenger Selbstzweck ist[6]; und zum anderen, weil eben an dieser instrumentellen Realgeschichte des Öffentlichkeitsprinzips die "innere Gewaltsamkeit" seiner idealbegrifflichen Formulierung deutlich wird – dass nämlich "der Hauptkampf gegen alle Besonderheiten geführt werden muss"[7], und das heißt vor allem: gegen die Materialität der gesellschaftlichen Situation, auf der Öffentlichkeit letztlich beruht.
Rufen wir uns, um die Bedeutung und Tragweite dieses Satzes zu verstehen, die wesentlichen Elemente des klassischen Öffentlichkeitsprinzips in Erinnerung, wie es sich bei Kant formuliert findet: Zunächst ist es wichtig, zu betonen, dass Kant von einem Prinzip der Öffentlichkeit ("Publizität") nicht im Zusammenhang einer "öffentlichen Sphäre" oder des "öffentlichen Räsonnements" spricht, sondern im Zusammenhang des öffentlichen Rechts, das die "Einhelligkeit der Politik mit der Moral" herstellen und garantieren soll.[8] Das Prinzip der Publizität als Prinzip des öffentlichen Rechts besteht kurz gesagt darin, dass "jeder Rechtsanspruch" die "Fähigkeit der Publizität" haben muss, um diese Einhelligkeit von Politik und Moral zu gewährleisten. Gerechtigkeit nämlich (als moralische Kategorie) kann, so Kant, "nur als öffentlich kundbar gedacht werden"[9]; dies zeigt sich negativ darin, dass eine auf das Recht anderer Menschen bezogene Maxime, die "verheimlicht werden muss, wenn sie gelingen soll", laut Kant "unausbleiblich [den] Widerstand aller gegen meinen Vorsatz" hervorrufen würde, und dieser Widerstand kann nur von der Ungerechtigkeit der entsprechenden Maxime herrühren[10]. Positiv gewendet bedeutet dies, dass nach Maximen zu handeln ist, "die der Publizität bedürfen", um der "eigentliche[n] Aufgabe der Politik" zu genügen, nämlich mit "dem allgemeinen Zweck des Publikums (der Glückseligkeit)" übereinzustimmen.[11]
Eines der interessantesten Elemente dieser Kant'schen Formulierung des Prinzips des öffentlichen Rechts besteht zweifellos in der Art und Weise, wie das bereits angesprochene Motiv des Geheimnisses in ihr auftaucht, und zwar in einer doppelten Denkfigur: Zuerst ist vom Geheimnis, wie wir gesehen haben, dort die Rede, wo die Unrechtmäßigkeit von Maximen ganz allgemein dadurch erwiesen wird, dass sie verheimlicht werden müssen, um nicht "den Widerstand aller" hervorzurufen. Das "Geheimnis", das bis ins 18. Jahrhundert als "durchaus anerkannte und notwendige Dimension politischen Handelns"[12] gilt, wird also – im Einklang mit den bürgerlich-liberalen Tendenzen der Epoche – als politische Kategorie fundamental diskreditiert und "Öffentlichkeit" als zentraler Legitimationsgrund politischen Handelns etabliert. Es scheint eine klare Trennlinie zu existieren, die das Öffentliche und also Rechtmäßige/Gerechte einerseits (beide Begriffe kommen bei Kant letztlich zur Deckung, da es sich um eine "transzendentale", d. h. von allen empirischen Bestimmungen unabhängige Rechtsidee handelt) vom Geheimen und also Unrechtmäßigen/Ungerechten andererseits scheidet.
Unmittelbar danach jedoch, dort, wo Kant die Konsequenzen diskutiert, die aus dem Publizitätsprinzip für das Staatsrecht zu ziehen sind, taucht das Geheimnis ein zweites Mal auf, und hier erweist sich sein Verhältnis zur Gerechtigkeit als mehr denn zweideutig. Es geht um die Frage nach der Rechtmäßigkeit des Tyrannensturzes, und Kant räumt ausdrücklich ein: "Die Rechte des Volks sind gekränkt, und ihm (dem Tyrannen) geschieht kein Unrecht durch die Entthronung; daran ist kein Zweifel."[13] Dennoch folgert Kant aus dem "transzendentalen Prinzip der Publizität des öffentlichen Rechts", dass jeder "Aufruhr" grundsätzlich im Unrecht sei, und zwar mit exakt demselben Argument, das er davor verwendet hatte – dass nämlich die Maxime des Aufruhrs notwendig verheimlicht werden müsste, um nicht dessen eigene Absicht unmöglich zu machen. In Bezug auf das seinerseits ungerecht handelnde "Staatsoberhaupt" wiederum reduziert er dieses Argument hier jedoch interessanterweise auf die einzige Frage seiner Machterhaltung; dieses nämlich "kann frei heraus sagen, dass er jeden Aufruhr mit dem Tode der Rädelsführer bestrafen werde, diese mögen auch immer glauben, er habe seinerseits das Fundamentalgesetz zuerst übertreten"[14]. Kant, der die Betrachtung, wie wir gesehen haben, selbst mit der Rede von den gekränkten Rechten des Volks begonnen hatte, nimmt dadurch jedoch ein folgenreiches Problem in Kauf, das im Grunde seine ganze These vom "Prinzip der Publizität" als Garant der Einhelligkeit von Politik und Moral durchkreuzt: Die Publizität des Rechtsanspruchs verbürgt hier nämlich keineswegs die Gerechtigkeit seiner Maxime, sondern lediglich jene "unwiderstehliche Obergewalt"[15], in der die "Fähigkeit der Publizität" im Falle der Situation eines möglichen Aufruhrs allein gründet. Mit anderen Worten: Mag ein ungerechtes Staatsoberhaupt auch den "Widerstand aller" gegen seine ungerechten Maximen hervorrufen, so findet es sich doch an dem Punkt wieder ins Recht gesetzt, an dem es diesen Widerstand niederschlägt; das Prinzip der Publizität garantiert hier also nicht mehr die Gerechtigkeit des Rechts, sondern vielmehr die Unbedingtheit seiner Durchsetzung und Erhaltung – und zwar selbst im extremen Falle seiner äußersten Ungerechtigkeit.
Es ist offensichtlich, dass wir hier auf das Problem der Souveränität stoßen, auf einen grundsätzlichen Widerspruch zwischen der Souveränität und dem Prinzip des öffentlichen Rechts bzw. auf jenes Auseinanderfallen von Recht und Gerechtigkeit, das Walter Benjamin auf die radikale Formel gebracht hat: "Rechtsetzung ist Machtsetzung und insofern ein Akt von unmittelbarer Manifestation der Gewalt."[16] (Kant selbst scheint dies im Übrigen nicht zuletzt dadurch implizit einzuräumen, dass er, im Falle eines gelungenen Aufruhrs, dem gestürzten Staatsoberhaupt nun seinerseits das Recht zu einem "Wiedererlangungsaufruhr" abspricht.) Ich möchte hier jedoch eine andere Fragerichtung weiterverfolgen, die unmittelbar das Problem der Öffentlichkeit betrifft. Ein diesbezüglich wertvoller Hinweis findet sich bei Hannah Arendt, die über Kants Ablehnung des Aufruhrs schreibt: "Die Alternative zur bestehenden Regierung ist für Kant nicht die Revolution, sondern der coup d'état. Und ein Staatsstreich muss, im Gegensatz zu einer Revolution, in der Tat im Geheimen vorbereitet werden, während revolutionäre Gruppen oder Parteien immer darauf bedacht waren, ihre Ziele öffentlich bekannt zu machen und wichtige Teile der Bevölkerung dafür zu gewinnen."[17] Kants Verurteilung des Aufruhrs beruht also auf einem "Missverständnis", und dieses Missverständnis betrifft letztlich seinen Begriff der Öffentlichkeit selbst, in dem Maße nämlich, wie "Öffentlichkeit" nicht im Widerspruch zu revolutionärem Handeln steht, sondern im Gegenteil untrennbar mit ihm verbunden ist.
Die materiale Bedingung von Öffentlichkeit und die Mikropolitiken des Öffentlich-Werdens
In der zweiten, berühmteren Formulierung eines Begriffs der "Öffentlichkeit", die wir in Kants Werk finden, nämlich in seiner "Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?"[18], begegnen wir im Grunde den Spuren des damit angesprochenen Problems: Hier fungiert "Öffentlichkeit" als Prinzip politisch-sozialer Veränderung, das den Prozess der Aufklärung befördern soll – diesmal freilich nicht auf das öffentliche Recht bezogen, sondern auf das "öffentliche Räsonnement" bzw. den "öffentlichen Vernunftgebrauch", der frei und uneingeschränkt bleiben muss (im Unterschied zum "privaten", der "öfters sehr enge eingeschränkt" werden dürfe, und zwar im "Interesse des gemeinen Wesens", "um durch eine künstliche Einhelligkeit von der Regierung zu öffentlichen Zwecken gerichtet […] zu werden"[19]). Ich verzichte hier auf eine Analyse der Probleme und Ambivalenzen dieses Textes, um mich unmittelbar der hier entscheidenden Frage zuzuwenden: Wie verhält sich – über Kant hinausgehend – das, was sich bei Kant hinter dem Begriff des "öffentlichen Vernunftgebrauchs" als Prinzip politisch-sozialer Transformation verbirgt, zum Begriff der "Öffentlichkeit" als Prinzip des öffentlichen Rechts, das die Gerechtigkeit politischer Rechtsansprüche verbürgen soll, zugleich aber zum Legitimationsinstrument unbedingter Machterhaltung werden kann?
Am Beispiel von Kants Verurteilung des Aufruhrs haben wir gesehen, dass es gerade die Transzendentalität des Publizitätsprinzips ist – die Abstraktion von allen konkreten Rechtsinhalten wie auch von den konkreten sozialen Verhältnissen –, die dazu führt, dass das "öffentliche Recht" gleichsam in seinem Inneren durch Ungerechtigkeit kontaminiert ist. Anders gesagt: Während das Prinzip der Öffentlichkeit grundsätzlich auf die Möglichkeit der Zustimmung "aller" abzielt, indem es Ungerechtigkeit ausschließt, leuchtet an seinem anderen Ende die extreme Möglichkeit des Ausschlusses "aller" auf – an dem Punkt nämlich, an dem die "Fähigkeit der Publizität" sich nichts anderem mehr verdankt als der herrschenden "Obergewalt" und der potenziell die revolutionäre Situation markiert. Paradoxerweise siedelt sich daher, gerade bei Kant, der Begriff der Öffentlichkeit an der Grenze zwischen einer existierenden Rechtsordnung einerseits und einer politischen Aktivität andererseits an, deren Verhältnis zur existierenden Ordnung grundsätzlich problematisch ist, da sie von dieser Ordnung nicht vollständig reglementiert, ja nicht einmal repräsentiert werden kann und daher mit ihr in einem virtuellen Konflikt steht, sie möglicherweise bedroht.
Giorgio Agamben hat jüngst[20] sehr deutlich auf die Aporien hingewiesen, die sich aus einer solchen Aktivität zwangsläufig für jedes Rechtssystem ergeben, und zwar im Zusammenhang mit den Diskussionen um die Aufnahme eines Verfassungsartikels, der das Recht oder sogar die Pflicht zum Widerstand gegen Verletzungen der grundlegenden Freiheiten und Rechte durch die öffentliche Staatsmacht selbst konstitutionell festschreibt. (Agamben bezieht sich dabei auf entsprechende Debatten in Italien und Deutschland nach 1945; während es in Italien letztlich nicht zur Aufnahme eines entsprechenden Artikels kam, hält Art. 20 [4] der aktuellen Verfassung der Bundesrepublik Deutschland tatsächlich ein gewisses Recht auf Widerstand gegen jeden Versuch der Beseitigung der "verfassungsmäßigen Ordnung" fest.) Das Problem eines solchen Verfassungsartikels besteht kurz gesagt darin, dass sich mit ihm die Verfassung "letztlich als einen absolut unantastbaren und totalisierenden Wert setzen würde"[21], der zuletzt – insbesondere im Falle eines von der Staatsmacht selbst zu verantwortenden Unrechts – noch den Widerstand gegen die Staatsmacht juristisch normieren würde. Wie und von wem aber wäre, in einer solchen Situation, darüber zu befinden, ob bestimmte Handlungen dem "Recht auf Widerstand" oder sogar einer "Pflicht zum Widerstand" (dessen Unterlassung folgerichtig strafbar wäre) entsprechen? Das Problem eines Widerstandsrechts erweist sich also letztlich als – paradoxe – Frage nach der "juridischen Bedeutung einer in sich außerjuridischen Handlungssphäre" und verweist somit auf die Frage nach der Existenz selbst einer solchen "sich dem Recht vollständig entziehenden Sphäre menschlichen Handelns".[22]
Es ist eben diese Sphäre, in der wir die Frage nach den sozialen und politischen Transformationspotenzialen "öffentlichen" Handelns in letzter Konsequenz verorten müssen – ob es sich dabei nun um den extremen Fall eines "Ausschlusses aller" handelt oder um die systematische Marginalisierung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen. Was in einer solchen Verortung hinsichtlich der Frage nach der politischen Bedeutung von "Öffentlichkeit" auf dem Spiel steht, ist nicht allein die mangelnde "mediale" Repräsentation marginalisierter sozialer Zusammenhänge durch dominante Diskurse und Öffentlichkeitsstrukturen, sondern – und eben hierin liegt der Sinn unseres Rückgangs auf Kant – der Zusammenbruch der Möglichkeit politisch-juridischer Repräsentation selbst in der Sphäre des öffentlichen Rechts. Infolgedessen wären auch die entsprechenden politischen Handlungsformen nicht allein daran zu messen, wie weit sie in bestehende mediale und institutionelle Repräsentationsstrukturen einzudringen vermögen, sondern daran, in welchem Maße es ihnen gelingt, diesseits dieses Zusammenbruchs politisch-juridischer Repräsentation überhaupt einen politisch-sozialen Artikulationsraum zu eröffnen. Kurzum: Es geht um ein Öffentlich-Werden, das nicht einfach im Übergang von einem "Nicht-öffentlich-Sein" zu einem "Öffentlich-Sein" (von der Unsichtbarkeit zur Sichtbarkeit, von der Nicht-Repräsentation zur Repräsentation) besteht, sondern in der Eröffnung einer Kollektivität in den Zwischenräumen der Repräsentation, die in das öffentliche Leben als soziales Werden im Wortsinne inter‑veniert.
Wir haben es hier gewissermaßen mit einer strukturellen Dimension des "Geheimnisses" zu tun; einer Art und Weise, wie das Geheimnis die Epoche des öffentlichen Rechts, die es überwunden zu haben glaubt, notwendig heimsucht: als Nicht-Repräsentierbarkeit bestimmter sozialer Zusammenhänge und Existenzformen, in denen sich, diesseits der Repräsentation, neue politische Subjekte und Handlungssphären konstituieren. Wer dies für abstrakt oder metaphorisch hält, möge an die Situation der so genannten "Klandestinen" denken: Auf welche Situation verweist die Bezeichnung "klandestin" heute, da sie auf die Existenzform der Sans-Papiers bezogen wird? Was ist das Geheimnis der Klandestinen? – Es besteht zunächst in nichts anderem als ihrer Existenz selbst. Die "Heimlichkeit" der klandestinen Existenz hat jedoch keinen anderen Grund als den Bruch, der zwischen dem sozialen Faktum neuer Migrationsbewegungen (bzw. den entsprechenden Prozessen gesellschaftlicher Neuzusammensetzung) und den nationalstaatlichen Systemen öffentlichen Rechts herrscht. Die Klandestinität bildet gewissermaßen einen "Untergrund" ohne Oberfläche, oder vielmehr: einen Untergrund, der – als deren Kehrseite – mit der Oberfläche selbst identisch ist und aus dem es eben deswegen im Rahmen nationalstaatlicher Rechtsordnungen keinen politischen Ausweg gibt.
Wie aber lässt sich dann noch die Möglichkeit politischer Transformation denken, die Möglichkeit eines Öffentlich-Werdens in dieser Art von Untergrund? Vor dem Hintergrund eines klassisch-formalistischen Begriffs von "Öffentlichkeit" ist eine solche Möglichkeit ebenso wenig zu verstehen wie durch den einfachen (oft nicht minder formalistischen) Hinweis auf die Existenz einer Pluralität von "Öffentlichkeiten". "Öffentlichkeit" verweist zuallererst, das lässt sich an der Realentwicklung bürgerlicher Öffentlichkeit ablesen, auf ein Konstitutionsgeschehen, eine Form sozialer Organisation, die ihre Bedingung in einem bestimmten historisch-sozialen Machtzusammenhang hat. Was sich als "öffentliches Leben" organisiert, ist daher nichts anderes als der Zusammenhang gesellschaftlicher Erfahrung[23] und Artikulation selbst, der sich auf diesem Machtzusammenhang errichtet.
Die innere Gewaltsamkeit dieses Erfahrungs- und Artikulationszusammenhangs liegt nun nicht einfach in einem formellen Ausschluss begründet, sondern darin, dass er – eben weil er auf bestimmten Machtverhältnissen beruht – als Zusammenhang nicht für alle gleichermaßen erfahrbar ist. Der Ausschluss aus dem öffentlichen Leben greift in letzter Konsequenz die Erfahrung selbst an, als gesellschaftliche Erfahrung, und unter Umständen auch als individuelle Erfahrung, die zwar im gesellschaftlichen Zusammenhang begründet ist, mit diesem aber nicht vermittelt werden kann. Wie O. Negt und A. Kluge für den proletarischen Lebenszusammenhang gezeigt haben, ist die gesellschaftliche Erfahrung marginalisierter Gruppen daher immer mit einer "Blockierung"[24] der Erfahrung verbunden, d. h. einer Atomisierung und Fragmentierung, die den gesellschaftlichen Charakter der Erfahrung verschleiert, verzerrt oder auslöscht – und die bis hin zur individuellen Traumatisierung reichen kann.[25] Auch dies meint die eingangs zitierte Rede von der "produzierten Nicht-Öffentlichkeit". Blockiert ist also nicht erst die Artikulation, sondern die Möglichkeit einer gesellschaftlichen Erfahrung selbst, auf deren Grundlage sich ein neues politisches Subjekt konstituieren kann. Der Zusammenhang zwischen einem Öffentlich-Werden und der Möglichkeit politischer Transformation ist daher umgekehrt nicht allein darin zu sehen, dass man, wie es H. Arendt für die revolutionäre Situation notiert hat, bestimmte politische Ziele öffentlich bekannt macht und wichtige Teile der Bevölkerung für sie gewinnt. Noch kann sich politische Arbeit, zumal wenn sie sich auf Kontexte extremer Marginalisierung wie etwa den klandestinen Lebenszusammenhang bezieht, ohne Umschweife auf irgendeine "authentische" Unmittelbarkeit der Erfahrung der Betroffenen stützen. Ihre Perspektive liegt vielmehr darin, individuelle, vielfach gebrochene Erfahrungen in einen spezifischen gesellschaftlichen Erfahrungs- und Artikulationszusammenhang zu übersetzen: darin, an jenen Schnittstellen der Verwerfung, an denen die "Gewalt des Zusammenhangs"[26] Subjektivitäten produziert, die sie zugleich von sich abspaltet, "den Lebenszusammenhang selber zum Gegenstand der Produktion"[27] werden zu lassen.
Warum ich dies als "Öffentlichkeit" bezeichne? Weil es – jenseits der Ambivalenz zwischen einem idealen Begriff und der realen Perversion von Öffentlichkeit sowie diesseits der Vorstellung von einer vollkommenen Repräsentation des Sozialen durch das öffentliche Recht – die konstituierende Bedeutung von Öffentlichkeit, ihrer Austauschformen und ihrer Produktion von Wissen und Handlungspotenzialen, wiederholt und an reale Prozesse sozialen Werdens bindet. Daran, nicht an den Industrien der Aufmerksamkeit und auch nicht an der Spiegelung oder Selbstspiegelung alternativer "Szenen", hat Öffentlichkeit als soziales Organisationsprinzip ihr politisches und mikropolitisches Kriterium.
[1] Der vorliegende Text schreibt sich zwischen zwei Referenzpunkte ein, die seinen Argumentationsgang leiten, ohne dass auf sie selbst im Weiteren explizit eingegangen würde: Zum einen schließt er an einen früheren Artikel über die Beziehungen zwischen Welt- und Öffentlichkeitsbegriff vor dem Hintergrund der Diskussionen über Globalisierung und Globalisierungskritik an, nimmt einige der zentralen Thesen dieses früheren Textes in anderer Perspektive wieder auf bzw. führt sie weiter aus (S. Nowotny, "World Wide World. Gibt es eine Welt des Antiglobalismus?", in: G. Raunig [Hg.], Transversal. Kunst und Globalisierungskritik, Wien: Turia + Kant 2003, 37–52, bzw. unter: www.eipcp.net/transversal/0303/nowotny/de). Zum anderen lassen sich die folgenden Überlegungen als Versuch lesen, von einer bestimmten Seite her und mit den Mitteln der Theorie den "Ort" zu verstehen, an dem sich die politische Praxis der Universal Embassy in Brüssel situiert (vgl. dazu den Text von T. Wibault in diesem Band); nicht um dieser Praxis ihre "Erklärung" nachzureichen, sondern um umgekehrt einige wichtige Themen der politischen Theorie an ihr zu überprüfen.
[2] O. Negt / A. Kluge, Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1972, 38.
[3] Vgl. L. Hölscher, Öffentlichkeit und Geheimnis. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung zur Entstehung der Öffentlichkeit in der frühen Neuzeit, Stuttgart: Klett-Cotta 1979.
[4] O. Negt / A. Kluge, Öffentlichkeit und Erfahrung, 20.
[5] Ebd.
[6] Vgl. ebd., 32.
[7] Ebd., 31.
[8] Vgl. I. Kant, Zum ewigen Frieden, "Anhang II: Von der Einhelligkeit der Politik mit der Moral nach dem transzendentalen Begriffe des öffentlichen Rechts" (1795), in: Werke Bd. 9, Darmstadt: Wiss. Buchges. 1983, 244–251.
[9] Ebd., 244.
[10] Ebd., 245.
[11] Vgl. ebd., 250.
[12] L. Hölscher, Öffentlichkeit und Geheimnis, 7.
[13] I. Kant, Zum ewigen Frieden, 245.
[14] Ebd.
[15] Ebd.
[16] W. Benjamin, "Zur Kritik der Gewalt", in: Gesammelte Schriften Bd. II×1, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991, 198.
[17] H. Arendt, Das Urteilen. Texte zu Kants politischer Philosophie, München: Piper 1998, 82.
[18] I. Kant, "Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?", in: Werke Bd. 9, 51–61.
[19] Ebd., 55.
[20] Vgl. G. Agamben, État d’exception. Homo Sacer II, 1, Paris: Seuil 2003, 24 ff.
[21] Ebd., 25.
[22] Ebd., 25 u. 26.
[23] Zum Begriff der "gesellschaftlichen Erfahrung" vgl. O. Negt / A. Kluge, Öffentlichkeit und Erfahrung.
[24] Ebd., 26 u. ö.; als bei Negt/Kluge analysiertes Beispiel einer solchen Blockierung mag hier der auf einen bestimmten Bewegungsspielraum eingeengte Fabrikarbeiter dienen, dem bereits der Erfahrungszusammenhang des Betriebes verschlossen bleibt (vgl. ebd., 61).
[25] Für den klandestinen Lebenszusammenhang verweise ich diesbezüglich nochmals auf den Text von T. Wibault in diesem Band bzw. auf einige témoignages ("Zeugnisse", "Bezeugungen"), die auf der Website der Universal Embassy zu finden sind (www.universal-embassy.be). Die in der Universal Embassy geübte Praxis der témoignages, der Bezeugung oft schwer artikulierbarer Erfahrungen von Sans-Papiers, die – in Verbindung mit Elementen einer politischen Analyse – darauf abzielt, den gesellschaftlichen Zusammenhang der Sans-Papiers-Existenz greifbar zu machen, scheint mir eine wichtige Form zu sein, dieser "Blockierung" entgegenzuwirken.
[26] Vgl. O. Negt / A. Kluge, Geschichte und Eigensinn 3: Gewalt des Zusammenhangs, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993.
[27] O. Negt / A. Kluge, Öffentlichkeit und Erfahrung, 28.