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03 2015

Heute ist die Demokratie eine wilde und konstituierende Demokratie

Antonio Negri / Raúl Sánchez Cedillo

Aus dem Italienischen von Gerald Raunig

Die Genoss_innen, die Podemos ins Leben gerufen haben, sagen: Es ist uns gelungen, in positiver Weise der einengenden Horizontalität der Bewegung zu entkommen, die so reich ist und zugleich oft auch so fruchtlos. Es ist uns gelungen, und zwar mit einer politischen Geste der Selbstkonstitutierung, der Organisation und der Repräsentation. Wir waren klug genug zu begreifen, dass der Raum zwischen den Kommunalwahlen und den Parlamentswahlen, zwischen Mai und Ende des Jahres 2015, die einzige Möglichkeit ist, „das Vorhängeschloss von ‚78“1 aufzubrechen: In der Zeit der Wahlen ist der Gegner gezwungen, sich über das ganze Territorium auszudehnen. Die verfassungsmäßigen Garantien der Freiheit funktionieren besser als unter anderen Bedingungen, sie werden zu möglichen Zonen des Bruchs mit dem gegenwärtigen Regime, das zutiefst diskreditiert und gespalten ist. Die kapitalistische Front wird aber vielleicht, nachdem sie unserem Widerstand mit aller Härte entgegengetreten sein, ihn vielleicht sogar vernichtet haben wird, Ende 2015 in der Lage sein, ihre Offensive neu aufzustellen und sich neu zu organisieren. Die historische Chance wird dann für lange, für zu lange Zeit vorüber sein.

Das alles räumen wir ein. Die Genoss_innen von Podemos sind die einzigen in Europa, die ernsthaft diesen Schritt gewagt haben: Sie waren es, die, ausgehend von einer Bewegung von unerhörter Kraft und Neuartigkeit, eine vertikale Achse aufgebaut haben; sie waren es, die ohne Demagogie und Ausflüchte einen Weg aus dem „Basisdemokratismus“ beschritten haben, der am Ende angesichts der zeitlichen Erfordernisse und in der Beschaulichkeit seiner Horizontalität zur Erschöpfung neigte. Nur Baron Münchhausen fabulierte, dass er es allein schaffen würde, sich am Zopf aus dem Schlamm zu ziehen und zu fliegen ... Podemos ist es gelungen.

Um weiter zu gewinnen, ist es aber nicht nur notwendig, über den Gegner nachzudenken – wie man ihn schlägt, ihn desartikuliert, ihn jede politische und kon­stitutionelle Bedeutung verlieren lässt. Es muss klar sein, dass man das, was man hierfür tut, im selben mehrheitlichen und radikal demokratischen Maßstab tut, aus dem es geboren wurde. In diesem Prozess dürfen keine Engpässe erzeugt werden, weder räumliche noch zeitliche. Nur ein Beispiel: Die italienische Kommunistische Partei, auf die sich die Theoretiker_innen von Podemos so bereitwillig beziehen, verlor als neuer Samson alle Kraft: die Haare wurden ihr abgeschnitten, und sie wurde vom Feind gefangen genommen, als sie diesen Leitsatz vergaß. Der Engpass nannte sich damals „Autonomie des Politischen“.

Leicht wird dieser Engpass zur Schlinge, die sich um jeden schließt, der nur den Finger hineinsteckt – und manchmal auch den Hals. Die vor mehr als einem Jahrhundert ausgearbeitete politikwissenschaftliche Kritik der politischen Partei ist in dieser Hinsicht mehr als deutlich: nicht nur in Bezug auf die Grenzen der Bürokratisierung der Partei-Struktur (auf der diese Theoretiker bestanden, die als Männer der Rechten die gerade entstehende Kraft der Arbeiter_innenparteien denunzierten), sondern vor allem in Bezug auf die Merkmale des Befehls, der Leitung, des Führerkults, des „Charismatischen“, all dessen, was die „Autonomie des Politischen“ ausmacht. Dies war in der Tendenz eine richtige Analyse und damit auch eine Bedrohung (eine unter Tausenden, aber eine besonders treffende), die im Kampf jener Politikwissenschaftler gegen die Parteien des Proletariats gewandt wurde.

Bis hierher bewegen wir uns innerhalb der Grenzen, die wir als „räumliche“ bezeichnet haben. Daneben gibt es auch „zeitliche“ Grenzen, die mit der „Autonomie des Politischen“ verbunden sind. Wir gehören sicherlich nicht zu denen, die die Möglichkeit bestreiten, Wahlzeiten oder soziale Verfallsdaten der Krise auszunutzen, und auch nicht zu jenen, die die Notwendigkeit bestreiten, den wunden Punkt der Befehlskette zu treffen, vor allem zu genau jenem Zeitpunkt, an dem die Kräfte des sozialen Protests der Bürger_innen am stärksten sind. Aber Achtung: Es ist nicht einfach, die Regierung auszuüben. Es kann nicht nur darum gehen, es einfach zu tun. Dies gilt umso mehr in den derzeitigen Governance-Regimen, in denen das kontinuierliche Handeln nicht nur in einem langjährigen Zyklus gehalten werden muss, sondern aus einer Abfolge von pünktlich einzuhaltenden Terminen besteht. Der Gegner (Rechtsnationale und/oder „PPSOE“2, nationalistische Projekte der katalanischen Hauptstadt, europäische und globale Troikas, etc.) besitzt die Fähigkeit, den Gegenangriff unendlich zu zerstückeln. In dieser zeitlichen Dimension und angesichts dieses Gegners ist es für das Handeln einer zukünftigen Regierung von Podemos wesentlich, „innerhalb der Bewegungen zu sein“.
Die bolivianischen Genoss_innen haben es gut verstanden, für eine lange Zeit Regierung und konstituierende Versammlung zusammen zu leben. Es war ein Durcheinander – aber was für ein starkes und lebendiges Durcheinander!

Das Problem der Regierung „in der Zeit“ ist nicht nur ihre Effizienz, sondern vor allem die Unumkehrbarkeit ihrer Errungenschaften. Wer mit der „Autonomie des Politischen“ flirtet, endet damit, die Entwicklung der Demokratie an der Basis als zweitrangig zu denken. Manchmal sind Kommandoformen sogar nur unter der Bürde einer ausschließlich auf Charisma beruhenden Effizienz vorstellbar – manchmal ist diese Vorstellung auch tragischerweise das, was in die Tat umgesetzt wird. Aber nicht in unserem Fall: Wir wirken gerade darauf hin, endgültig aus den Weberschen Dilemmata des bürgerlichen Kommandos auszusteigen, die bisher nur autoritäre Lösungen für jene sozialen Konflikte legitimiert haben, denen die Kämpfe auf die Höhe des Politischen verholfen hatten.

Aber kehren wir zurück zum zentralen Problem: von der Horizontalität zur Vertikalität, von der Agitation und vom Widerstand der Bewegung zur Regierung. ­Podemos fordert von allen Genoss_innen, von dieser Ebene der Regierung aus zu denken. Aber ist damit die Ebene der Zentralregierung gemeint? Mag sein. Die Ebene der Regierung der Großstädte? Das ist noch eher möglich. Aber kann es nicht gerade nur dann, wenn man das Handeln aller Bürger_innen auf eine starke Erneue­rung der Regierung der Städte lenkt, ein nahes, greifbares Beispiel eines wirksamen konstituierenden Projekts geben? Für uns scheint das der Fall zu sein – weil die Stadt und das Gemeinsame, das städtische Leben und seine Formen der Begegnung kompakte Figuren der Verwaltung und der konstituierenden Initiative bilden können. Die acampadas in den Metropolen, in den Städten und auch in den kleinen Dörfern sind Formen der konstituierenden Begegnung gewesen, die zeigen, wie die metropolitanen Lebensweisen – allgemein formuliert – jetzt schon politische und produktive Formen zeitigen. Im Zusammenspiel von Demokratie und (Re-)Produktion der Stadt haben wir die Möglichkeit, das Politische zu artikulieren, das heißt, den Willen, zu gewinnen, mit der Entscheidungsfähigkeit in einem breiten, pluralen und aktiven Netz der militanten Präsenz und der Produktion von Transformationsprogrammen zu verbinden. Hier, in der Mitte, liegt die Regierung. Und genau hier wird auch die Frage Foucaults greifbar, „wie wir regiert werden wollen“.

Vor allem von hier aus, von den Stadt- und Gemeindeverwaltungen aus, ergibt sich die Möglichkeit, die Regierung auf staatlicher Ebene aufzubauen, Stein auf Stein zu setzen. In einem biopolitischen Regime (in dem Befehl, Leben, Produktion, Affekte und Kommunikation sich verflechten und vermischen wie in einem Labyrinth) sind Sprünge schwierig, wenn nicht unmöglich – auch in der alten Politik war es so, und wenn es Sprünge gab, manchmal auch heroische, war es zu oft notwendig, sich zurück zu bewegen und jenes zu schnell durchquerte Terrain mit künstlichen Institutionen zu bedecken.
Die Horizontalität zu vertikalisieren bedeutet nicht nur das Vermögen zur Grundsatzentscheidung, zur Regierung, zur Führung eines „Bewegungskriegs“, sondern auch und vor allem, sich zu einer breiteren Sicht von oben zu erheben. Und so wird deutlich, dass sich der Bewegungskrieg nicht lohnt, wenn die eroberten Positionen, die verteidigten Fronten nicht gehalten, konsolidiert und nach und nach weiterentwickelt werden.
Die Regierung muss dafür sorgen, dass die Macht der Bürger_innenorganisationen garantiert sind, sagte man vor nicht langer Zeit in Lateinamerika, solange die progressive Bewegung erfolgreich war, denn nur dann ist die Zentralregierung sicher vor plötzlichen oder organisierten Rückschlägen. Sicher vor wem? Wir antworten: nicht mehr nur vor jenem Gegner, den wir kennen, vor den reaktionären Kräften, denen wir gegenüberstehen, sondern vor einer viel stärkeren Hierarchie, die durch Europa hindurch aufwärts geht, bis zu den Regierungsspitzen des Finanzkapitals.

Die Erkenntnis, keine Angst zu haben und angesichts dieser Kräfte gewinnen zu können, ist nicht zu unterschätzen. Aber achtet darauf, nicht den Teufel herauszufordern, der aus der Tiefe der Auseinandersetzung noch zum Vorschein kommen kann. Unsere Stärke bleiben die acampadas, die Gemeindeverwaltungen, die mareas, die Bewegungen – mit anderen Worten all das, was die 15M-Bewegung3 möglich und praktikabel gemacht hat. Manchmal steht zu vermuten, dass für die Unterstützer_innen von Podemos die Dimension der Macht [poder] eine abgetrennte Dimension ist. Das ist falsch: Macht ist ein gesteigertes Vermögen zu handeln, sie ist eine Perspektive der Aktion zu und in den politischen Beziehungen, doch „die Macht“ [Poder] und „die Politik“ gibt es nicht. Sie ist nichts anderes als die vielfältigen und unterschiedlichen Abstufungen der Gegenmacht. Und dennoch pochen die Führer_innen von Podemos innerhalb und außerhalb der Organisation darauf: „Zuerst übernehmen wir die Macht, dann widmen wir uns dem Programm.“

Die „Autonomie des Politischen“ kann zu einer unheilvollen Theorie werden, wenn sie in der Überschätzung der Institution und der Effizienz des staatlichen Kommandos den materiellen Ursprung und die Legitimität des Fundaments des Politischen bestreitet. Die Repräsentation, die die Vertreter_innen von den Vertretenen trennt, dieser „allgemeine Wille“ (den man „Volk“ oder „Volkseinheit“ nennt), der für die Vertreter_innen einen mystischen und unanfechtbaren Grund erschafft, ist für die Bewegungen nicht von Interesse. Das Wichtigste ist, den Fluss der politischen Bewegung (wieder-)herzustellen, ein offenes System der Regierung von unten, das – durch die andauernde konstituierende Debatte und einen andauernden Ausbau dieser Debatte unter den Bürger_innen – Bewegung und Regierung zusammenhält. Es ist möglich, diese Brücke zu bauen, dieses Gemeinsame – wenn alle der Notwendigkeit zustimmen, die da heißt: „Mehrheit sein“4. Das ist die entscheidende Ermächtigung.

 

1 Mit „Vorhängeschloss“ ist die seit 1978 andauernde Blockadepolitik der etablierten Parteien in Spanien gemeint, die jede progressive Verfassungsreform verhindert. Der Ausdruck zirkulierte schon länger, wurde aber von Pablo Iglesias in seiner ersten Rede als Generalsekretär von Podemos aufgegriffen und popularisiert. https://www.youtube.com/watch?v=_aCG6sSzypQ (Anm.d.Übers.)

2 Eine Mischung der Akronyme des sozialistischen PSOE und des konservativen Partido Popular, ironische Erfindung der 15M-Bewegung, vor allem seit sich beide Parteien der Sparpolitik und den Regeln der Troika untergeordnet haben (Anm.d.Übers.).

3 Die 15M-Bewegung bündelte von 15. Mai 2011 an mit ihren Platzbesetzungen den Widerstand gegen die spanische Austeritätspolitik und erprobte dabei neue Formen der Organisierung (Anm.d.Übers.).

4 Im spezifisch spanischen Kontext versteht sich der Hinweis auf die „Mehrheit“ einerseits als ein Echo auf den occupy-Slogan von den 99% in der 15M-Bewegung, andererseits als Interesse an einer alternativen Form von Organisierung und (Selbst-)Institutionalisierung, wie es von den Neugründungen nicht nur von Podemos, sondern auch von Partido X, Guanyem, Ganemos, Barcelona en comú oder Ahora Madrid vertreten wird (Anm.d.Übers.).