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02 2019

Feminismus und neuer Internationalismus

Interview von Juliana Hernández und Julià Martí mit Veronica Gago

Veronica Gago, Juliana Hernández, Julià Martí

Übersetzung: Gerald Raunig

Kannst du uns zunächst deine Analyse des Neoliberalismus in Lateinamerika und die heutigen Debatten darüber erläutern?

Wir müssen darüber nachdenken, in welchem ​​Sinn der Neoliberalismus in unserer Region beständig ist und sich zugleich verändert hat. Ich glaube, nur so können wir verstehen, auf welche Weise er wiederkehrt (wenn wir dieses allzu lineare Wort verwenden wollen), und in welchem ​​Sinn der Neoliberalismus heutzutage eine faschistische Mikropolitik braucht, um sich zu etablieren. Ich denke, das gibt uns einen anderen politischen Realismus bei der Rede über Neoliberalismus und bei der Bestimmung des Horizonts in einer Situation, die wir als post-neoliberal und / oder anti-neoliberal bezeichnen können.

Insbesondere beschäftigt mich die Problematisierung der Mechanismen, die als soziale Inklusion bezeichnet werden. Die in der Konsumdynamik gegebene Inklusion durch massive und verallgemeinerte Verschuldung birgt eine Reihe von Problemen, die uns nicht entgehen können, insbesondere angesichts der Frage, wie die kapillare Wirkung der Verschuldung und der Finanzdispositive heute die Haushalte und den Alltag strukturiert. Heute sind die Finanzen verantwortlich für die Verschuldung dieses Wunsches nach Inklusion, seine Privatisierung, Anpassung und Unterwerfung unter sehr hohe Zinssätze. Hier, denke ich, entfaltet sich eine andere Perspektive auf das, was wir Neoliberalismus nennen, aber auch auf die Dynamiken der Region und auf das, was dieses Niveau neoliberaler Entwicklung in unserer Region heute bedeutet.


Welche Elemente würdest du in deiner Analyse der popularen Ökonomie in Argentinien für die Konstruktion von Alternativen hervorheben?

Die sozialen Bewegungen stellten das in Frage, was sich Arbeit nannte, welche Art von Würde dir Arbeit bietet, wenn Arbeit prekär ist, wenn sie Scheiße ist, und so weiter. Sie denken darüber nach, was es heißt, selbstverwaltete Arbeitsformen ohne Chef aufzubauen, ohne ein perfektes antikapitalistisches alternatives Modell zu haben, darüber, was dies unter den Bedingungen von Enteignung, Krise, Fragilität in allen Bereichen bedeutet, und gleichzeitig erproben sie sich diese Arbeitsformen und handeln mit dem Staat Ressourcen dafür aus, und zwar aus der Perspektive der Autonomie, was diesen Begriff kompliziert.

Es ist ein Prozess, der aus der Piquetero-Bewegung hervorging, die auch eine starke Beteiligung von Frauen mit sich brachte. Der Impuls dieser Bewegungen, die Einschließung in das Heim aufzubrechen, ging von den Frauen aus, die all die Kantinen und die Horte aufbauten, die all die unterschiedlichen Unternehmungen in der Nachbarschaft begannen. Es war diese soziale Infrastruktur, die später die Straßensperre als politischen Mechanismus mit großem öffentlichen Einfluss möglich machte. Ich denke, dass heute viele der Genossinnen der popularen Ökonomie Töchter der Piqueteras sind, was die generationale Geschichte wie auch die Ansammlung von Erfahrungen angeht.

Nach meiner Hypothese lässt sich diese Genealogie ebenso ziehen, wie sich Vektoren der Radikalität in den popularen Ökonomien zeigen, die mit den Elementen der anti-sexistischen, antiklassistischen und antirassistischen Aufsässigkeit zu tun haben, die nicht einfach abgewiegelt werden kann. Es kann kein perfektes alternatives Modell mit einem antikapitalistischen Programm aus dem Lehrbuch geben, aber es gibt ein Feld, in dem beispielsweise diskutiert wird, was bezahlte Arbeit ist und welche Arbeit historisch unsichtbar gemacht und nicht bezahlt wurde und wo der Kampf dagegen stattfindet, dass die Armut durch diejenigen moralisiert wird, die die Ökonomien des Gehorsams vorantreiben, was heute stark unter dem Einfluss der Kirchen geschieht.


Welche anderen Prozesse haben neben der Piquetero-Bewegung diese Explosion der marea verde in Argentinien und auch auf lateinamerikanischer und internationaler Ebene ermöglicht?

In Argentinien gibt es drei sehr wichtige Linien. Neben der schon erwähnten Piquetero-Bewegung gibt es die Geschichte des nationalen Frauentreffens, das etwas ganz Besonderes ist und seit über drei Jahrzehnten stattfindet. In ihm wird Erfahrung gesammelt, und es ist seit Generationen ein Raum popularer feministischer Pädagogik, der sich nicht nur als ein Ritual behauptet, sondern gleichzeitig sehr porös und sehr durchlässig für die verschiedenen Konjunkturen ist.

Die dritte Linie sind die Mütter und Großmütter der Plaza de Mayo: das ist die Genealogie, die es ausmacht, dass die Menschenrechte in Argentinien im Gegensatz zu vielen anderen Orten der Welt nicht auf liberales Kalkül reduziert werden. Es handelt sich um einen historischen Kampf, der von Frauen angeführt wurde, die sich jetzt in der Relektüre auch als feministisch verstehen - heute sagen die Mütter: "Wir erkennen, dass wir Feministinnen waren". Für mich ist in diesem Erkennen vor allem jene Bewegung unglaublich, mit der die Kämpfe in jeder Epoche die bisherigen Kämpfe dazu veranlassen, sich neu zu denken, neu zu definieren und in eine umfassendere Genealogie einzuschreiben.

Ich möchte hinzufügen, dass diese Verbindung der Mütter und Großmütter sehr wichtig ist, weil sie die ganze Zeit die Diskussion darüber eröffneten, was es bedeutet, Gerechtigkeit herzustellen, und dies führte sie dazu, sich in jedem Moment um Allianzen mit andern Kämpfen zu bemühen. Es gibt eine sehr wichtige Kontaktzone mit der feministischen Bewegung, die auch die Vorstellung von Gerechtigkeit wieder öffnet - sowohl in Bezug auf die Diskussion mit der patriarchalischen Justiz als auch auf die Herausforderung, darüber nachzudenken, welche anderen Arten von Justiz möglich, wünschenswert und vorstellbar sind, wenn es um Missbrauch, sexuelle Belästigung und machistische Gewalt geht. Wie ist eine Wiedergutmachung vorzustellen, die nicht rein institutionell ist? Was ist die Verbindung zwischen Ungerechtigkeit und sozialer Verurteilung? Es geht darum, das wieder zu beginnen, was die Escraches zu ihrer Zeit gegen die ungestraft gebliebenen Völkermörder aufgeworfen haben: Der Slogan "Wenn es keine Gerechtigkeit gibt, gibt es Escrache" war Teil eines kollektiven Dispositivs des Aufbaus von sozialer, popularer, nachbarschaftlicher Verurteilung.

Auf lateinamerikanischer Ebene sind alle Dynamiken des Kampfes gegen neo-extraktivistische Unternehmen sehr wichtig. Das eröffnet die ganze Diskussion, die die Genossinnen aus Zentralamerika die Dimension des Körper-Territoriums nennen, als Erweiterung des Körpers, der nun nicht mehr individuell verstanden wird, in Bezug auf die Grenze des Individuums, die Schranken des individuellen Rechts, sondern als Erweiterung des Körpers, der sich auf ein Territorium ausweitet. Ich denke, dass es auf der Ebene der Region eine weitere Dynamik gibt, die heute andere Bilder und ein anderes Vokabular für den Feminismus kräftigt, webt, produziert.


Wie wurde innerhalb der feministischen Bewegung Pluralität aufgebaut oder gesucht?

Die Fähigkeit, Transversalität zu entwickeln, hat heute mit der Schaffung von Nähe zwischen sehr unterschiedlichen Kämpfen zu tun: zwischen den Kämpfen der Migrant_innen, der Arbeiter_innen, der Genoss_innen in den Gewerkschaften, Universitäten und Schulen oder in den Dörfern, die dir sagen: "Hier muss der Feminismus nicht erst ankommen, wir machen Feminismus im Dorf". Feminismus hat hier aufgehört, eine äußerliche Erscheinung zu sein, die sich mit "den anderen" in Verbindung setzt, er ist in allen diesen Bereichen zum Schlüssel der Lektüre des Konflikts im Territorium geworden.

Ein wichtiger Aspekt des Feminismus ist es, dass sich niemand außerhalb des Territoriums befindet, niemandem fehlt das Territorium, wir sind alle situiert, und der Körper ist gleichzeitig Körper-Territorium. Dieser Aspekt problematisiert eine bestimmte Idee der Solidarität, die immer einen Grad an Äußerlichkeit impliziert, in der du mit einer Person solidarisch werden kannst, deren Konflikt sich jedoch nicht mit dir verbindet.


Wie siehst du den nächsten 8. März, wie siehst du die manchmal so bezeichnete neue globale Welle, welche Herausforderungen stellt sie dar?

Die Dimension des Internationalismus und des Globalen war immer schon sehr wichtig für den Feminismus, und mit ihr wird das, was wir unter Internationalismus verstehen, in einer Öffnung aus der Praxis heraus neu definiert. Es scheint mir nämlich, dass die bisherigen Modelle des Internationalismus eine Struktur hatten, die die Erfahrungen unterschiedlicher Orte homogenisierte, und nun könnte sich die Frage auf diese Weise stellen: Wie fühlt sich der Internationalismus heute in jedem Kampf als eine konkrete Kraft an?

Die Diskussion beginnt hier mit der Abtreibungsfrage, und plötzlich gibt dies in einigen Ländern unerwartete Kraft, die Debatten anzuregen. Und die Frage der Abtreibung geht nicht nur über das individuelle Recht hinaus, sondern auch darum, wer für Abtreibungen stirbt, wer dafür bezahlt, wer nicht bezahlt, wer Gesetze über uns erlässt, in welchem ​​Sinne sie diese Gesetzgebung über unsere Körper aufrechterhalten wollen, welche Institutionen die Gegenoffensive anführen, etc. Diese Ausweitung der Problematik, der Diskurse und der Praktiken im Zusammenhang mit der Abtreibung ist untrennbar mit dem politischen Gefüge der internationalen Streiks und mit dem von ihnen eingeleiteten internationalistischen Impuls verbunden.

Es beeindruckt mich sehr, dass die Streiks, wie sie durch die feministische Bewegung aufgenommen und neu erfunden wurden, die Möglichkeit einer konkreten transnationalen Forschung eröffnen. Es ist eines, wenn die Gewerkschaft dich zum Streik aufruft und du schon weisst, was du tun musst, was es bedeutet und wie das Ergebnis gemessen wird, und auch an wen der Streik sich richtet. Etwas ganz anderes ist es, wenn die feministische Bewegung zum Streik aufruft und sagt: "Wir sind alle Arbeiterinnen". Dann muss jede Gruppe, jede Genossin benennen, in welchem ​​Sinne sie arbeiten, wie sie arbeiten, wie viel, und wer diese Arbeit als solche anerkennt. Damit eröffnet sich eine sehr praktische Erfahrung, darüber nachzudenken, was wir Arbeit nennen, was anerkannt wird, was nicht, wie wir heute Wert schaffen, wie die Ökonomie der Sorge aussieht. Das heißt, viele sehr wichtige Diskussionen ergeben sich unter praktischen Bedingungen, aus der täglichen Erfahrung.


Wie können wir diese Idee eines neuen Internationalismus artikulieren?

Ich glaube, es gibt zwei Ebenen, die eine Resonanz erzeugen können, die nicht nur spontan ist, sondern auch eine Art Rückwirkung hat, und zwar im Austausch von Bildern, Texten und Slogans, in der Wiedererkennung in einem anderen Kampf, der zu dir spricht. Das ist eine Art Verbindung durch Affizierung, würde ich sagen. Und die andere Ebene betrifft die Frage, wie wir diesen neuen Internationalismus strukturieren, mit Netzwerken, in ständigem Kontakt, unter Berücksichtigung einer Akkumulation von Wissen und unserer Macht, die nicht die Art der klassischen politischen Akkumulation ist. Ich würde sagen, das ist eine Art Verbindung, die es uns erlaubt, unsere Kräfte aufzuladen und uns auch um sie zu sorgen.

Ich denke, wir müssen sehen, dass die Gegenoffensive, die gegen uns gerichtet ist, eine dreifache ist: sie ist militärisch, finanziell und religiös. Sie reagiert direkt auf die destabilisierende Kraft des Feminismus. Auf diesen Zusammenhang wird auch durchaus hingewiesen, aber nur im Stil der Schuldzuweisung. In Brasilien zum Beispiel ist das sehr klar. Dort sagten sie: "#EleNão endete mit Bolsonaros Triumph", und wiesen die Schuld daran den #EleNão-Demonstrationen und auch jenen nach der Ermordung von Marielle Franco zu, die die grössten brasilianischen Demonstrationen der letzten Zeit waren. Der Versuch der Schuldzuweisung scheint mir sehr wirkungsmächtig zu sein, und dazu kommt die Kriminalisierung.

Wie können wir Formen denken, die diesen Internationalismus konsolidieren, der es uns ermöglicht, unsere Kräfte auf globaler Ebene aufzuladen und sie gleichzeitig gegen diese ebenfalls globale Gegenoffensive zu beschützen? Wir müssen auch über Selbstverteidigungsmechanismen nachdenken, denn die Angriffe werden immer brutaler, und ich denke, das ist eine Frage für den Internationalismus dieses neuen Typs.

 

siehe auch:

8M - Der große feministische Streik. Konstellationen des 8. März
Verónica Gago, Raquel Gutiérrez Aguilar, Susana Draper, Mariana Menéndez Díaz, Marina Montanelli, Marie Bardet / Suely Rolnik

Aus dem Spanischen von Michael Grieder und Gerald Raunig
Mit einem Vorwort von Isabell Lorey
transversal texts, November 2018
https://transversal.at/books/8m